Öcalan: Die Spezialkriegslobby verhinderte den Frieden! Am 06.06.2010 kam der KCK-Vorsitzende Abdullah Öcalan mit seinen Anwälten in der Gefängnisanstalt „Imralı“ zusammen. Nach Informationen der Nachrichtenagentur Fırat (ANF) erläuterte er seine Ansichten über Krieg und Frieden, über eine in der Türkei aktive Kriegslobby und schlug Lösungsmethoden vor. Er sprach als Allererstes seinen Entschluss an, sich dem aktuellen Geschehen zu entziehen: „Wir gehen durch eine kritische Phase. Diese Phase ist sehr wichtig. Ich weiß nicht, wie sie enden wird. Diesbezüglich werde ich in den Medien falsch verstanden. Ich möchte ab sofort von hier aus nichts mehr entscheiden oder irgendetwas im Weg stehen. In zwölf Jahren ist nichts passiert. Ich kann mich auch nicht selbst täuschen, als ob es Frieden gäbe. Es hat keinen Wert, wenn man mit mir spricht. Das Wichtige ist das Ergebnis. Ohne Ergebnis ist eine Aussprache auch ohne Bedeutung.“ Im weiteren Verlauf der Konsultation unterteilte Öcalan in den vergangenen 200 Jahren im Besonderen die letzten 30 Jahre in vier Verschwörungsphasen. Diese Punkte hatte er in der Vergangenheit sehr oft erwähnt. In seinen vergangenen Konsultationen hatte er angemerkt, dass alle Ansprechpartner, die den Frieden zwischen dem türkischen Staat und der PKK befürworteten, der Reihe nach ausgeschaltet worden seien. Öcalan unterteilte die Verschwörungsphasen wie folgt: Phase I: „Ich unterteile in der modernen 200-jährigen kurdischen Geschichte die letzten 30 Jahre in vier Verschwörungsphasen. Die erste Phase ist die Zeit mit [Ex-Staatspräsident Turgut] Özal. In der Türkei gibt es eine Spezialkriegslobby. Diese Lobby ist sehr fortschrittlich. Von der Vergangenheit bis heute, zu Zeiten Mustafa Kemals (1925), war diese Lobby Grund für die Todesstrafen Xalit Begê Cibirîs [trk.: Cibranlı Halit; Soldat osmanischer und türkischer Armee und Vorsitzender der Organisation „Azadî“], Şêx Saids und Seyid Rizas. Damals wie heute besteht das Mosul-Kirkûk-Problem. Der Putsch von 1960 und der von 1980 sind das Werk dieser Lobby. Mit der meine ich nicht nur die 'Spezialkriegsabteilung' [trk.: Özel Harp Dairesi]. Diese Lobby ist angefangen bei dieser Abteilung bis in den zivilen Bereich sehr gut organisiert. Ich nenne sie ab sofort Kriegslobby. Diese Kriegslobby herrscht über die Türkei. Sie ist im zivilen Bereich viel stärker. Zu dieser Lobby gehörten Leute wie Tansu Çiller [Ministerpräsidentin 1993 bis 1996, wird verantwortlich gemacht für ca. 17.000 'Morde unbekannter Täter'], Mesut Yılmaz [Nachfolger Çillers], Devlet Bahçeli [Vorsitzender der Partei der Nationalistischen Bewegung MHP] und Deniz Baykal [Ex-CHP-Präsident; vor kurzem wegen eines 'Sexskandals' zurückgetreten]. Ich nenne dieses System 'spezial-oligarchisches System'. Özal setzte, als er die kurdische Frage und die PKK verglich, als Erstes die traditionelle Kriegslobby in Gang. Aber er kannte entweder die Kraft dieser Lobby nicht oder nahm sie nicht ernst. Aber meiner Meinung nach war Özal sich dieser Kraft begrenzt bewusst. Diese Lobby hat Özal wegen seiner Initiativen in der kurdischen Frage – die wir mit der Waffenruhe 93 beantworteten – vernichtet. Entgegen der Tradition brachten sie Doğan Güreş [21. Generalstabschef der Türkei] und Tansu Çiller von der Spezialkriegslobby. Nicht einmal Süleyman Demirel [hatte verschiedene Positionen im Staat inne; zuletzt 1993 bis 2000 die des Staatspräsidenten] verstand das. Dass Çiller kam, war eigentlich auch ein Schlag gegen Demirel. Der hat das spät kapiert. Güreş ging sofort nach England, als er Generalstabschef geworden war, und sagte, dass er grünes Licht gegen die PKK bekommen habe. Güreş und Çiller stellten damals mit der Spezialkriegslobby äußerst grausame Sachen an. Die ganzen 'Morde unbekannter Täter', Dorfräumungen etc. wurden damals ausgeführt. Diese Spezialkriegslobby ist überall organisiert. Das Beispiel Riha [kurdischer Name für türk. Şanlıurfa] kann genannt werden: Mit ihrer speziellen Eigenschaft entwarf diese Lobby eine spezielle Politik für Riha. Sie spielten mit den Familien und der dortigen feudalen Struktur. Es ist bekannt, dass Faik Bucak der Gründer und Generalsekretär der KDP/Türkei war. Seine Ermordung geschah aus seiner Familie heraus. Wer ermordete ihn? Die Spezialkriegslobby, die in die Familie eingedrungen war. Das alles zeigt, dass das Machenschaften dieser Lobby sind. Auf diese Weise kommt deren Einfluss auf Familien und feudale Strukturen ans Tageslicht. Außerdem gibt es diese arabischen Kreise und die Spielchen mit den Äckern. Einige Bewässerungskanäle werden an bestimmten Stellen gelegt, an anderen nicht. Das hat damit zu tun. In Riha, das die Kapazität hat, 10 Millionen Menschen zu ernähren, sind unsere Leute arbeitslos. 80 % der Bevölkerung sind arbeitslos und gehen zu Saisonarbeiten.“ Phase II: „Die zweite Verschwörungsphase ist die Zeit von [Ex-Ministerpräsident Necmettin] Erbakan. Über Syrien hatten wir Kontakt zu ihm aufgenommen. Richtung Lösung sollten ein paar Schritte gemacht werden. Deswegen hatten wir die Waffenruhe von 95, die ca. acht Monate dauerte. Aber Erbakan wurde auch ausgeschaltet. Er, Teile des Militärs und des Staates wollten die Lösung, aber diese Spezialkriegslobby hat sich behaupten können. Karadayı [22. Generalstabschef der Türkei] war auch für eine Lösung, aber diese Lobby ließ ihn nicht.“ Phase III: „Die dritte Verschwörungsphase ist die von [Ex-Ministerpräsident Bülent] Ecevit und [dem 23. Generalstabschef Hüseyin] Kıvrıkoğlu. Zu der Zeit gab es auch einen gewissen Dialog. Wir haben die Waffenruhe von 98 ausgerufen. Aber die Außenmächte dieser Spezialkriegslobby übten Druck auf Syrien aus. Die USA, England und Israel übten enormen Druck für meine Ausweisung aus. Deswegen bin ich aus Syrien ausgereist und nach Griechenland bzw. Russland. Diese Mächte sorgten dafür, dass ich aus Russland verwiesen wurde bzw. in Imralı gehalten werde. Im Gegenzug bekamen besagte Kräfte 10 Milliarden Dollar und das Blue-Stream-Projekt. Als ich 1999 hierher gebracht wurde, kamen einige im Namen Ecevits und Kıvrıkoğlus zu mir. Das habe ich öfter erwähnt. Das ging ca. zwei Jahre so. Ich sage nicht, dass Karadayı, Kıvrıkoğlu und Ecevit das Problem lösen wollten, aber sie wollten wenigstens Wege ebnen. Damals brachten Ecevit und Kıvrıkoğlu eine Art Amnestie ins Gespräch. Die MHP war das Hindernis. So wurde diese Amnestie sehr begrenzt eingeführt. Die MHP hat an diesem Punkt eine historische Rolle gespielt. Die MHP und Bahçeli gehörten auch zu dieser Spezialkriegslobby. Diese versuchte zu der Zeit, Ecevit, Çevik Bir [Vize-Generalstabschef während 'des postmodernen Putsches' vom 28. Februar 1997; war bekannt für seine 'Anweisungen' im Namen des Generalstabs an das eigentlich unabhängige Gericht] und Kıvrıkoğlu auszuschalten. Ein geplantes Attentat auf Kıvrıkoğlu auf Zypern ist bekannt. Das hatte mit dieser Lobby zu tun. [Milliyet-Journalist] Hasan Cemal spricht, glaube ich, auch von diesem Vorfall in seinem neuen Buch – ich habe es daher. Ich habe auch den Artikel von Avni Özgürel gelesen. Zu der Zeit hat sich der Name in 'Ergenekon' geändert. Bis dahin hatte diese Lobby verschiedene Namen, wie 'Gladio'. 2002 verstärkte sie den Druck auf Ecevit. So musste die Regierung Neuwahlen ansetzen und die AKP wurde an die Macht gebracht." Phase IV: „Nun ist die vierte Verschwörungsphase angebrochen. Der Silivri-Teil [extra für Ergenekon-Angeklagte erstellte Haftanstalt] von Ergenekon ist nur ein kleiner Ausschnitt, eher der aufgeschlüsselte Teil. Der Großteil Ergenekons ist noch nicht bekannt. Den bisher aufgedeckten Teil nenne ich 'Finger vom ganzen Körper'. Man geht nur die Finger an, aber der Rest des Körpers ist intakt. Der Rest von Ergenekon ist draußen und stark. Wer sie sind, ist nicht bekannt, oder sie werden nicht belangt. Zu den höherrangigen Funktionären von Ergenekon ist man gar nicht gelangt. Die im Moment im Silivri-Gefängnis sitzen (z. B. Seyfi Oktay), haben nicht einmal wirklich etwas mit Ergenekon zu tun. Was ich aber an dieser Sache nicht verstehe, wieso die AKP den Ergenekon-Korpus nicht angeht? Hat sie keine Kraft? Hat sie Angst? Oder will sie nicht? Dieser Punkt liegt für mich noch im Unklaren. Wir haben über dieses Thema mit den hiesigen Freunden gesprochen. Einige sind der Meinung, die AKP habe keine Kraft, andere sagen, die AKP habe sich mit der Spezialkriegslobby geeinigt. Ich möchte dem Ministerpräsidenten auch kein Unrecht tun, ich will nur die Lage verstehen.“ Zuletzt legte Öcalan seine Ansichten über eine Lösung dar. Er warnte vor möglichen Ereignissen und rief erneut dazu auf, selbst Entscheidungen zu treffen. „Was ab jetzt passiert, weiß ich nicht. Nach dem 31. Mai will diese Lobby bestimmt wieder aktiver werden. Man darf ihre Kraft auch nicht unterschätzen, sie ist sehr gut organisiert. Ich habe unsere Organisation ab den 80ern sehr kritisiert. Ich will all diese Kritik nicht noch einmal wiederholen, aber ich erinnere daran. Für den Anfang will ich nur an sie erinnern. Wenn die Spezialkriegslobby aktiv mitmischt, dann wird das nicht wie früher. Sie wird viel effektiver aktiv werden. Sie werden kein Mitleid haben. Vorher ist man Armenier so angegangen. Das Gleiche kann mit den Kurden geschehen. Weil die Armenier sehr bewusst waren, hat man sie physisch erledigt. Weil die Kurden aber sehr verstreut, feudal und stammesgebunden waren bzw. sehr viele waren, hat man ein kulturelles Genozid veranstaltet. Damit wurde die Assimilation bezweckt. Nun kann man die physische Vernichtung vollstrecken wollen. Die AKP stellt ihre eigene Ergenekon auf, das muss verstanden werden. Sie schafft ihre eigene, tiefe Lobby. Ich akzeptiere beide nicht. Ich werde mit mir nicht spielen lassen. An diesem Punkt nehme ich eine ganz klare Haltung ein. Beide versuchen ihre eigene Regierung zu bilden. Wieso kann so etwas wie die BDP das nicht verstehen? Die BDP muss sehr gut aufpassen. Tausende Kurden, die ihr nicht angehören, kritisieren sie. Man muss mit der ganzen Gesellschaft in Verbindung stehen. Die Beziehungen zu linken Organisationen und Parteien müssen ausgebaut bzw. in eine Allianz überführt werden. Die Beziehung zur CHP kann auch weiter ausgebaut werden. Wenn die AKP an Kraft verliert, kann die BDP mit der CHP über die Lösung der kurdischen Frage sprechen. Das ist sehr wichtig. Die Spezialkriegslobby in der Türkei ist sehr stark, aber das muss nicht bedeuten, dass die Friedenswilligen schwach sind. Innerhalb des Staates gibt es starke Kreise, die den Frieden wollen. Die BDP muss daran arbeiten, dass diese das auch weiterhin anstreben. Das ist im Moment nur ein Gedanke von mir. Im Falle positiver Entwicklungen kann ich noch eine 'Roadmap' erstellen und dem Staat übergeben. Ich kann Briefe an den Staatspräsidenten, die Regierung, den Ministerpräsidenten, vielleicht den Generalstabschef und den Parlamentspräsidenten richten. Das ist aber nichts Ausgegorenes. Den genaueren Entschluss kann ich demnächst mitteilen. Außerdem weiß ich nicht, ob meine Gesundheit das zulässt. Ob sie für eine neue 'Roadmap' ausreicht. Damit der Kreis der Friedenswilligen
initiativ werden und die kurdische Frage auf demokratische Weise gelöst
werden kann, muss das Parlament aktiv werden. Es muss einen Beschluss
für den Frieden fassen. Eine 'Wahrheitskommission', ähnlich wie in Südafrika,
kann gebildet werden. Die kann alle Hindernisse auf dem Weg zum Frieden
feststellen. Sie wird deswegen mit allen sprechen müssen, z. B. mit Demirel,
Yılmaz, Çiller, mir, den 1.500 Verhafteten der KCK-Operationen, den Insassen
in Silivri, einigen aus der PKK … Damit ich in diesem Prozess mitwirken kann, muss das Parlament mir den Weg öffnen. Ich werde dann mit meinem Volk, mit politischen Kreisen und der PKK Kontakt herstellen können und sie für den Prozess überzeugen. Ich weiß, dass ich dafür die nötige Kraft habe. Solch eine Art von Kommission wurde vorher schon z. B. in Südafrika und Lateinamerika versucht und war erfolgreich. Es ist sehr wichtig, dass das Parlament die Initiative für eine Lösung ergreift. Früher schon, beim kurdischen Koçgiri-Aufstand [1920], fasste das Parlament einen gemeinsamen Beschluss und setzte ihn in die Tat um. Das Gleiche muss heute auch geschehen. Die Rechte der Kurden müssen in der Verfassung verankert werden. Wenn dort steht: 'Rechte und Kultur der Kurden sind verfassungsrechtlich geschützt', dann ist das schon die Lösung. Das sage ich schon seit Längerem. Das habe ich auch schon in den 90ern gesagt. Seit dieser Zeit beharre ich auf dem Frieden. Aber meine jetzige Lage hindert mich daran, aktiver dafür zu arbeiten. Mein Entschluss, mich nach dem 31. Mai zurückzuziehen, bedeutet nicht, dass ich mich der Verantwortung entziehe. Im Gegenteil, er stammt eher daher, dass ich aufgrund der Bedingungen nicht mehr machen kann. Unter diesen Umständen kann ich keine Verantwortung übernehmen. Wenn meine Position ein Hindernis auf dem Wege der Lösung ist, dann ist dieses Problem somit gelöst. Ich sage auch nicht „Führt weiterhin Krieg“. Ob Krieg oder Frieden, ob Sieg oder Niederlage – das müssen sie selbst wissen. Zuallerletzt muss jeder das Seinige erledigen. Die BDP z. B. muss alle Kraft für eine neue, demokratische Verfassung aufbringen.“ Schließlich äußerte Öcalan
seine Meinung zu der in Riha eröffneten Akademie: Quelle: ANF, 07.06.2010 |