Öcalan: Ohne Dialog ist kein Frieden möglich!

Abdullah Öcalan kam am 28.07.10, auf der Gefängnisinsel Imralı mit seinen AnwältInnen zusammen. Öcalan sprach wiederholt über mögliche Wege für einen gerechten Frieden an. Die Nachrichtenagentur Firat (ANF) veröffentlicht Auszüge aus den Anwaltsnotizen des Rechtsbüros Asrin:

Der eigentliche Diskussionspunkt der BDP während des Referendums sollte sein: Werden die Kurden anerkannt oder nicht? Wichtig ist nicht, ob ein Boykott beschlossen wird oder nicht [Die Partei für Frieden und Demokratie, BDP, hat beschlossen, das Referendum, mit dem die Verfassungsänderungen beschlossen werden sollen, zu boykottieren. Nach Meinung der BDP hat die Änderung der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) keinen Inhalt für KurdInnen, ArbeiterInnen, SchülerInnen, StudentenInnen etc.]. Wichtig ist, ob das Problem in der Gesamtheit angegangen wird. Ich gehe das Problem allumfassend an. Bezüglich dieses Themas wird in der Öffentlichkeit viel zu beschränkt diskutiert. Die Diskussionen haben einen viel zu einfachen Stil und beschränken sich auf „Ja“ oder „Nein“. Das ist aber nicht besonders wichtig. Das wichtigere ist, dass man den historischen Kontext bzw. die Gesamtheit bei dieser Sache nicht aus den Augen verliert. Man muss sehr gut wissen, wie und wo die Kurden verloren haben. Wie will man ohne dieses Wissen unsere Gegenwart bestimmen?
Was ist in den 88 Jahren seit 1922 passiert? Wieso haben die Kurden immer verloren? Welchen Platz besetzen die Kurden momentan in dieser Republik? Verluste haben nicht nur einen Grund. Soziale, politische, wirtschaftliche, kulturelle und viele andere Gründe haben mitgewirkt. Das ist das, was ich meine, wenn ich sage, man muss darüber diskutieren und sich das historische Wissen aneignen. Mein Wunsch ist, dass jedes Problem auf jeder Plattform untereinander und mit der Bevölkerung zusammen angesprochen und gelöst wird. Wenn sechs Monate lang diskutiert wird, wird sich jedes Problem lösen. Wer hat die Kurden ausgeschlossen und warum? Die Republik haben wir zusammen gegründet. Es wird gesagt, dass die Kurden Mitgründer der Republik sind. Wenn das behauptet wird, wenn gesagt wird, dass die Republik zusammen gegründet wurde, dass wir Geschwister sind – wo werden dann die Kurden in der Verfassung vertreten? Ein neuer Prozess, der sich eine demokratische Verfassung zur Grundlage nimmt, muss eingeleitet werden. Eine ganz neue Verfassung.
Wir haben nicht einmal eine Grundschule, die in unserer Muttersprache unterrichtet. Was ist das für eine Geschwisterlichkeit? Die Kurden haben in Çanakkale [Befreiungskrieg, angeleitet von Mustafa Kemal] mitgekämpft, im Freiheitskampf und in Sakarya [ein wichtiger Teil des Canakkale-Kriegs] unterstützten die Kurden aktiv, wir waren während der Gründung der Republik mit dabei. Aber was ist danach passiert? Was ist passiert, dass auf einmal die Kurden alles verloren haben? Das ist das erste.
Das zweite ist die Grundlage dieses Prozesses: Dialog. Ohne den Dialog wird sich dieses Problem nicht lösen. Wenn kein Waffenstillstand bzw. die Grundlage für einen Waffenstillstand geschaffen wird, kann gar nichts passieren. Ich sagte vorher schon, dass auch in den Städten Gefechte werden stattfinden können. Diese Worte wurden aber der Wahrheit entstellt und man sagte: „Apo droht aus dem Gefängnis.” Das ist nicht so einfach! Ich nenne das, was passieren kann. Wenn das Problem auf politischer Basis nicht gelöst wird, dann kommt es zur Stagnation und gleitet in militärische Auseinandersetzungen. Ähnlich wie in Hatay/Dörtyol und Bursa/Inegöl werden die Angriffe und Gefechte sich auf Orte ausweiten, in denen ZivilistInnen leben. Das kann dann im Gegensatz zu den militärischen Gefechten auf den Bergen zu viel schlimmeren Ergebnissen führen. Ich habe gewarnt, es wurde als Drohung aufgefasst. Was ist schließlich passiert? So, wie ich es vorher gesagt habe. Und das an Orten, an denen es keiner erwartet hätte. Was würde passieren wenn so etwas angenommen in Colêmerg/Gever passieren würde? Hunderttausende von Menschen würden auf die Straße gehen. Bekannter weise sind die Stämme dort bewaffnet. Wenn sich die Guerilla unter das Volk mischt, werden Kriegsflugzeuge, Bomben, Panzer etc. sprechen. Von einem Moment auf den anderen können dann Zehntausende von Menschen sterben. Wer kann die Jugend aus Amed aufhalten, wenn so etwas dort passieren sollte? Ich kenne Amed. Wenn die Jugend aus Amed einmal aufgestanden ist, sich auf alle Straßen verteilt hat und die Guerilla sich ebenso in diesen Straßen befindet, dann kann diese Jugend von keinem mehr aufgehalten werden. Wenn so etwas passieren sollte, wird eine „Ein-Tages-Bilanz“ gleich mit der „30-Jahre-Bilanz“ sein. In solch einer Situation kann die Polizei oder das Militär nichts machen. Eher werden Kriegsflugzeuge, Helikopter und Panzer eingreifen. Ich weise auf diese Gefahren hin. Das sage ich dem Staat und der PKK. Das sind soziologische Feststellungen, mehr nicht.

Wie lange wird diese Gesellschaft dies Alles noch aushalten? Ich trauere. Nicht allein um die PKK-Guerillas sondern auch um sterbende Polizisten und Soldaten. Das reicht aber nicht. Dieses Problem wird entweder gelöst oder solche Dinge werden „natürlich” geschehen. Dies muss auch die türkische Bevölkerung verstehen. Ich deute auf Gefahren hin! Demokraten, Sozialisten, Intelektuelle aus der Türkei sollten nicht nur bezüglich dieses Themas ihre Gedanken aussprechen sondern etwas Verantwortung übernehmen. Ich befürchte auf Grund der ganzen Ereignisse schlimmes. Um dem ein Ende zu setzen, bemühe ich mich Tag und Nacht und schlafe nicht einmal eine Stunde. Die jüngsten Ereignisse sind Grund meiner Sorgen und ich versuche den momentanen Zustand zu überwinden. Der Staat und die PKK machen ihr eigenes Ding. Beide Seiten hören nicht einmal auf ein Wort, das ich ausspreche. Momentan ist der Frieden auf sehr dünnem Eis. Jeden Moment droht die Einsturzgefahr. Wenn keine Lösung kommen sollte, werden der Staat und die PKK untergehen.

Für die Lösung habe ich vorher schon meine Vorschläge in Worte gefasst. Das Parlament muss dieses Problem auf die Tagesordnung setzen und einige prinzipielle Beschlüsse fassen. Danach stehen zwei Dinge an: erstens, ein Aufbaurat muss erstellt werden und zweitens eine Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission. Ohne dies wird die Lösung nicht kommen. Wenn dies gemacht wird, dann wird eine gewisse Grundlage geschaffen, anschließend kann die KCK ihre bewaffneten Einheiten an einen Ort zurück ziehen, der unter der Kontrolle der Vereinten Nationen steht. Dafür reicht meine Kraft. Ich kann das machen. Wenn der nötige Zustand ausgerufen wurde, kann ich dies machen. Ansonsten wird sich die Situation, den wir die letzten Tage erlebt haben, weiter zuspitzen. Unter diesen Umständen kann man von mir nichts erwarten. Ich appelliere an beide Seiten: Unter diesen Umständen irgendetwas von irgendjemanden zu erwarten ist weder ethisch, noch menschlich, noch demokratisch. Unter diesen Umständen kann eine so große Verantwortung nicht auf die Schultern einer Person geladen werden. Der Staat lädt die Verantwortung seiner Erfolgslosigkeit und die PKK der ihrer Inkompetenz auf meine Schultern.

Wenn das Problem mit der BDP gelöst werden kann, dann soll es getan werden. Man kann es mit der PKK versuchen, aber der Staat bekommt das nicht hin. Wenn ich als Ansprechperson genommen werden soll, dann müssen einige Beschlüsse im Parlament gefasst werden. Dafür gibt es Beispiele aus der Welt. Ich kann unter den jetzigen Umständen keine Verantwortung übernehmen; Ich muss die Guerilla erreichen. Wenn ich darüber spreche, wird es als Sünde aufgefasst. Ich kann darüber nicht normal sprechen. Deswegen muss das Parlament einiges entscheiden.
Seit zwölf Jahren ist hier nicht einmal ein Fernseher. Die anderen Freunde können telefonieren, ich kann nicht einmal das! Wie soll ich da Verantwortung übernehmen? Außerdem werde ich immer älter. Wenn da noch die Haftbedingungen dazu kommen, mit denen ich lebe, wird es immer schwieriger Initiative zu ergreifen. Eins muss noch gut gewusst werden: Mein Körper hält das alles nur bis zu einem gewissen Punkt aus. Ich werde nicht für immer leben.

Als ich erwähnte, ich werde mich am 31. Mai zurückziehen, sagte ich das auch ein wenig wegen meines Alters und meiner Umstände. Von mir wird sehr viel erwartet. Wenn ich mich auf einmal zurück gezogen hätte, dann könnte schlimmeres passieren. Ich habe daher eher gedacht, meinen Rückzug Schritt für Schritt zu vollziehen.
Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalte. Weder der Staat hat die Absicht dieses Problem zu lösen, noch will die PKK eine Revolution machen. Das Volk hat wahrscheinlich auch keine Kraft mehr. Das Volk ist arm, ermüdet, gereizt und will endlich eine Lösung. Wie erwähnt, können Tausende von Menschen in Colemêrg sterben. In der Region sind einige Großfirmen. Diese werden ihre Sachen packen und von dort gehen. Deswegen ist es wichtig Initiative zu ergreifen. Erklärungen abgeben reicht nicht.
Ich appelliere an den Staat: Wenn er die Lösung oder die Vernichtung der PKK will, dann soll er das tun! Ähnliches gilt auch für die PKK: Wenn sie eine Revolution machen oder sich ergeben will, dann soll sie es auch endlich tun. Es sollte nicht weiter in die Länge gezogen werden. Die Gesellschaft hält eine solche Lösungslosigkeit nicht mehr aus. Innerhalb von sieben/acht Jahren hat man mir vier Mal „warte ein bisschen. Einige Alternativen sind vorhanden” gesagt. Das Ergebnis ist bekannt. Wir werden hingehalten, mehr nicht. Ich habe zwölf Jahre abgewartet und Tag und Nacht für die Lösung gearbeitet. Ich habe versucht den Frieden und die gesellschaftliche Lösung zu verwirklichen. Ich habe aber auch eine Grenze. Ich kann mit einem Satz alles zerstören, kann sagen, dass jeder tun soll, was er nicht lassen kann. Man kann mich anschließend auch innerhalb einer Stunde umbringen; interessiert mich überhaupt nicht. Ich habe davor keine Angst. Nach dem Referendum werde ich einer Hinhaltetaktik keine Chance geben. Nach dem Referendum stehen Wahlen an. Anschließend wird „wartet die Wahlen ab“ gesagt werden. Auf dieses Hinhalten werde ich mich nicht einlassen.
Cemil Bayik sprach davon, die „demokratische Autonomie“ auszurufen. Wenn keine Lösung kommen sollte, haben wir das Beispiel Kosovo. So etwas kann passieren. Das ist das, wenn ich sage, die Kurden sollen schauen, wie sie zurechtkommen.
Die Kurden wollen ein gemeinsames Leben. Wir wollen sogar das alte „Misak-i Milli“ aktualisieren und zusammen leben. Aber das alleinige „wollen“ hat keinen Wert. Das muss gegenseitig und auf rechtlicher Basis sein. Wenn wir zusammen leben, dann muss das eine „rechtliche Ehe“ sein. Die Verfassung muss das widerspiegeln. Wenn in einer Ehe die Frau täglich geschlagen wird, dann wird sie eines Tages abhauen. Ähnliches gilt auch für die Kurden. Wenn sie ihre Rechte nicht bekommen, dann haben sie das Recht darauf, das für sie Nötige zu tun.

Bezüglich der nationalen Konferenz habe ich einen Vorschlag, der dem der PLO ähnelt. Unsere Organisation sollte nicht nur bewaffnet sein, sondern auch ein Organ für Diplomatie, Exekutive und Verteidigung haben.

Ich habe drei Vorschläge:
Die nationale Konferenz sollte sich versammeln.
Eine Exekutive muss gebildet werden. Keine richtige Regierung. Eine einfache Exekutive, die ihre Arbeit macht und diplomatische Beziehungen aufbaut.

Verteidigung:
Die Verteidigungskräfte müssen koordiniert und in Einklang miteinander sein. Die Einheiten sollten nie wieder wie früher gegeneinander stehen bzw. gegeneinander Krieg führen.
Neben dem sind die Vorschläge, die ich vorher nannte vorhanden. Diese könnten ausdiskutiert werden. Man kann sich im Sinne des „demokratischen Konföderalismus“ organisieren, ohne die vorhandenen Grenzen anzutasten. Dafür gibt es Beispiele aus der Welt wie Südafrika. Sie haben auch einen nationalen Kongress. Diese Beispiele kann man sich als Grundlage nehmen.

Quelle: ANF, 30.07.2010

ISKU | Informationsstelle Kurdistan