Delegationsbericht
19.08.10, Diyarbakır
Die aktuelle Lage
in Kurdistan, insbesondere in den kurdischen Provinzen innerhalb der Türkei
ist geprägt von schweren Menschenrechtsverletzungen, Repressionen, und
Verbrechen in
Rahmen eines von Woche zu Woche, trotz ständiger kurdischer Friedensbemühungen,
eskalierenden Krieges. U.a. deshalb befindet sich im Moment eine Menschenrechtsdelegation
aus ParlamentarierInnen und MenschenrechtsaktivistInnen in den kurdischen
Provinzen.
Die PKK ist nicht die Ursache, sondern die Folge der Problematik
Schon bei der Ankunft in Amed (Diyarbakır) wurde der Krieg durch permanente
Starts von F-16
Bombern deutlich. In einem ersten Gespräch der Delegation mit dem Bürgermeister
der linken
prokurdischen Friedens und Demokratiepartei (BDP), ehem. Vorsitzenden
des
Menschenrechtsvereins IHD und Anwalts, Osman Baydemir, wurde das Ausmaß
der
Repression deutlich. So befinden sich im Moment allein aufgrund der behördlichen
Repression
gegen politische AktivistInnen ab April 2009 mehr als 1680 Menschen in
Haft, unter ihnen sind neben Menschenrechtlern auch 61 gewählte VertreterInnen
aus den Reihen der BDP. Er
betonte, dass in vielen kurdischen Regionen vom Militär aus „strategischen
Gründen“ Wälder in Brand gesteckt werden. Während die ganze Welt auf die
Brände in Russland schaue, kümmert
sich keine Umweltorganisation aus dem Westen um die Flächenbrände in den
kurdischen
Provinzen.
Der Bürgermeister begrüßte ausdrücklich den, am 13. August trotz der permanenten
Angriffe
seitens des türkischen Militärs ausgerufenen, bis zum 20.09. befristeten
Waffenstillstand der kurdischen Guerilla (HPG). Er erklärte, dass dieser
Waffenstillstand für den türkischen Staat eine historische Gelegenheit
sei, das Problem zu lösen. Der Konflikt könne aber nur gelöst werden indem
die grundsätzliche Unterdrückungspolitik gegen die kurdische Bevölkerung
ein Ende finde, denn. Die PKK ist nicht die Ursache, sondern die Folge
der Problematik. Das Problem ist die Nichtanerkennung der Existenz der
kurdischen Bevölkerung und ihrer Freiheitsrechte. Er machte deutlich,
dass es der kurdischen Bewegung nicht um einen eigenständigen Staat, sondern
um eine Demokratisierung der Türkei, bis hin zu Rätestrukturen, in denen
alle Identitäten ihre Repräsentation finden, geht. Da Osman Baydemir diese
Forderungen immer wieder betont und für eine friedliche Lösung eintritt,
wird ihm unterstellt „er vertrete damit die gleichen Ziele wie eine Terrororganisation“
und sei deshalb als Teil einer solchen Struktur zu werten. Damit droht
ihm verschärfte lebenslängliche Haft. Der Bürgermeister darf das Land
nicht verlassen und lebt unter dauerhafter Bedrohung seines Lebens. Er
ist in permanenter Gefahr einem Attentat faschistischer Kräfte zum Opfer
zu fallen.
So wurde vor wenigen Wochen in der Kleinstadt Dersim eine Zeitbombe unter
dem Saal in dem
er vor 500 Männern, Frauen und Kindern redete gelegt. Die Bombe, die zum
Zeitpunkt seiner
Rede detonieren sollte, hatte jedoch glücklicherweise einen Defekt. Er
erklärte daraufhin
gegenüber JournalistInnen: „Wenn sie mich töten wollen, sollen sie das
tun, aber nicht Frauen und Kinder treffen.“
Bezirksbürgermeister wird als „Terroristenführer“ kriminalisiert
Auch der Bezirksbürgermeister
von Diyarbakır Sur, Abdullah Demirbaş, ist Zielscheibe dieser
Repressionen. Schon in seiner vorrangegangenen Amtszeit, war er seines
Amtes enthoben
worden, weil er Informationen der Stadtverwaltung der Bevölkerung in kurdischer
Sprache zur
Verfügung stellt. Er saß im Rahmen der letztjährigen Repressionswelle
trotz schwerer Krankheit mehrere Monate im Gefängnis und wurde aufgrund
von Lebensgefahr vor wenigen Wochen haftverschont. Allerdings ist diese
Verschonung seiner Meinung nach vor Allem dem Fakt geschuldet, dass der
Tod des prominenten BDP Politikers und Aktivisten hinter Gittern zu einer
weiteren Skandalisierung der Lage führen hätte können. Er gilt der Staatsanwaltschaft
nach den aktuellen Ermittlungsakten, allein wegen seiner Reden und seinem
multilingualen Engagements als „Terroristenführer.“ Die vielen politischen
Verfahren, die gegen ihn noch anhängig sind, können zu einer länger als
hundertjährigen Haftstrafe führen. Der Lehrer und Soziologe berichtet,
dass sein Sohn sich nach der Verhaftung des Vaters entschied sich der
Guerilla anzuschließen, da ihm legale Politik in der Türkei nicht mehr
möglich erschien.
Krieg und Repression weiten sich aus
Das Klima der Gewalt
und Kriegsverbrechen wurde ebenfalls deutlich in einem folgenden
Gespräch mit VertreterInnen des Menschenrechtsvereins IHD deutlich. Die
MitarbeiterInnen des Menschenrechtsvereins stellten an aktuellen Beispielen
die Ausweitung des Krieges und der Repressionen dar. Während immer wieder
von Regierungsseite behauptet wird, dass es eine „Nulltoleranzpolitik“
gegenüber Folter gäbe, wurde bis jetzt noch kein Folterer verurteilt und
Übergriffe der Sicherheitsbehörden finden mittlerweile auf offener Straße
statt. Die Straflosigkeit von Tätern den Reihen der Sicherheitsbehörden
ist eklatant. In mehr als 900 Verfahren kam es nur zu zwei Verurteilungen
zu Gefängnisstrafen auf Bewährung. Das wird auch von Human Rights Watch
in einer 100 seitigen Studie scharf kritisiert. Lynchmobs, die KurdInnen
durch die Straßen vor allem westtürkischer Städte jagen, werden von der
Polizei nicht gehindert, ja sogar vom Gouverneur als „aufrechte Patrioten“
bezeichnet und mit Verständnis bedacht. Leichen getöteter
GuerillakämpferInnen werden von türkischen Soldaten systematisch verstümmelt
und erniedrigt. Bei den Bombardierungen häufen sich die Verdachtsmomente
auf den häufigen Einsatz chemischer Waffen durch die türkische Armee.
Darüber gibt es mehrere Fotodokumentationen.
Die Herausgabe von Obduktionsberichten wurde bisher in jedem Fall verweigert.
Den Familien
gegenüber wurde zum Teil von staatsanwaltlicher Seite geäußert, dass mit
Terroristen und den Leichen von Terroristen gemacht würde was sie verdienten.
Systematische Diskriminierung durch Justiz
Es gibt eine systematische
Ungleichbehandlung von KurdInnen und TürkInnen. Während
kurdische JournalistInnen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt werden,
weil sie Abdullah
Öcalan als „Herrn Öcalan“ bezeichnet haben, steht es türkischen Zeitungen
frei zum Mord an
KurdInnen aufzurufen. So wurde beispielsweise der Zeitungstitel „Für jeden
toten Soldaten, fünf tote BDPler“ nicht strafrechtlich verfolgt, während
der kurdische Journalist Vedat Kurşun, alleine wegen seiner Artikel zu
über 166 Jahren Haft verurteilt worden ist.
In der Türkei findest ein systematische mediale Diskriminierung der KurdInnnen
statt, die in weiten teilen auch von europäischen Medien aufgegriffen
wird. „So werden prinzipiell in den Medien Morde an Frauen in den kurdischen
Provinzen als „Verbrechen aus Tradition“ bewertet,und damit der kurdischen
Gesellschaft als Besonderheit zugeschrieben, während Morde an Frauen im
Westen als Einzelfälle oder Beziehungsdramen dargestellt - obwohl statistisch
gesehen in einigen der westlichen Regionen weit mehr Fälle von Innerfamiliärer
Gewalt stattfinden als in den kurdischen Provinzen, erklärte die Anwältin
und Frauenrechtsaktivistin Reyhan Yalçındağ.
Liberalisierung des Kinder- und Jugendstrafrechts ist eine Farce
Die in deutschen Medien
als großer Fortschritt für die Menschenrechte in der Türkei gefeierte
Liberalisierung des Jugendstrafrechts, stellt keine substantielle Veränderung
der Lage dar. Trotz der symbolischen Freilassungen einiger Kinder und
Jugendlicher, die angeblich Steinegeworfen hätten und der Durchführung
der Verfahren vor Jugenmdgerichtskammern, bleibt die Verurteilung der
Kinder nach dem Antiterrorgesetzt als PKK Mitglieder für die Teilnahme
an einer Demonstration erhalten und führt weiterhin zu langjährigen Haftstrafen.
Die Veränderung des Gesetzes wurde von denjenigen ParlamentarierInnen
durchgeführt, die eben dieses Gesetz 2006 verabschiedet hatten.
Weiterhin findet Angaben der Rechtsanwältin Reyhan Yalçındağ die Folter
von Kindern und
Jugendlichen u.a. im Gefängnis von Adana aber auch bei Verlegungen häufig
und systematisch
statt.
Die internationale Wahrnehmung des Krieges und der staatlichen Verbrechen
soll durch
Repression und Einschüchterung von MenschenrechtlerInnen, JournalistInnen
und
PolitikerInnen verhindert werden
Der Vorsitzende des
Büros des IHD Diyarbakır, Muharem Erbey befindet sich seit 240 Tagen in
Haft. Ebenso seine beiden Vertreter. Ihnen wird u.a. vorgeworfen, ausländischen
Delegationen statistisches Material über Menschenrechtsverletzungen in
der Türkei zur Verfügung gestellt zu haben. In diesem Rahmen wird nicht
nur gegen den IHD, sondern gegen sämtliche MenschenrechtlerInnen vorgegangen,
damit keine Nachrichten über Kriegsverbrechen ins Ausland gelangen. Alle
Aktiven des IHD sind von Festnahme bedroht, insbesondere wenn sie sich
mit Delegierten aus anderen Ländern treffen um die Situation der Bevölkerung
zu thematisieren. Folgerichtig sind auch JournalistInnen Ziel dieser Angriffe.
Mehrere kurdische JournalistInnen sind im Moment aufgrund der Verbreitung
menschenrechtspolitischer Themen inhaftiert. Ein wichtiges Beispiel stellt
hier die Journalistin Hamdiye Ciftci dar, die allein wegen ihrer Arbeit
über das Leid der Bevölkerung in der Provinz Hakkari unter Terrorparagrafen
inhaftiert ist. Ein Novum stellt weiterhin die Inhaftierung des US-amerikanischen
Journalisten Jake Hess, ebenfalls aufgrund seiner Reportagen und seiner
Arbeit für Menschenrechtsvereine dar. Er wurde von Antiterroreinheiten
unter dem Vorwurf der Unterstützung der PKK festgenommen und nach sieben
Tagen Abschiebehaft ausgeflogen. Er wurde beschuldigt „Ansehen der Türkei
zu beschmutzen“ denn Menschenrechtsverletzungen gebe es hier nicht.
Auch diese Angriffe
dienen der Einschüchterung von Delegationen und kritischen
JournalistInnen und damit dem Verhindern einer internationalen Öffentlichkeit.
Es ist die
Aufgabe der internationalen Öffentlichkeit und aller emanzipatorischen
Bewegungen, gegen
diese Repression vorzugehen und die Betroffenen damit nicht alleine zu
lassen. Deshalb
fordern wir erneut die Freilassung der kurdischen Journalistin Hamdiye
Ciftci und auch der im letzten Jahr inhaftierten, mehr als 1680 anderen
inhaftierten PolitikerInnen,
MenschenrechtlerInnen, AktivistInnen und JournalistInnen. Der Waffenstillstand
der PKK stellt eine historische Chance dar. Die türkische Regierung und
die Verantwortlichen in Europa müssen dies begreifen und von ihrer Bekämpfungslogik
gegenüber der kurdischen Bewegung Abstand nehemn, um eine friedlichen
Entwicklung zu ermöglichen. Bezüglich der
Chemiewaffeneinsätze ist es notwendig, dass diese von einer internationalen
Kommission
untersucht werden. Ohne öffentlichen Druck wird diese nicht hinnehmbare
menschenverachtende Praxis des türkischehn Militärs unverändert weitergeführt.
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