Delegationsbericht 4 Kriegsalltag in Kurdistan In der Provinz Hakkari hat
das Militär am Wochenende trotz des von der PKK ausgerufenen Waffenstillandes
bis zum 20.09.2010, gezielt eine Bergregion außerhalb der Ortschaft Şemdinli
bombardiert. Bei diesem Angriff sind die 4 Guerillas Gülistan Ergül, Zindan
Ahmet, Seyma Yıldız und Şervan Kadir getötet worden. Der gezielte Angriff
auf eine Guerillaeinheit, trotz des einseitigen Waffenstillstandes, wird
von einem Großteil der Bevölkerung als Provokation angesehen. Aus diesem
Grund kam es schon seit dem 20. v.a. in der Region Hakkari zu schweren
Auseinandersetzungen. Şemdinli hat 12000 EinwohnerInnen.
In der Region Hakkari/Şemdinli nahe der türkisch/irakischen Grenze haben
die Operationen der türkischen Armee gegen die Guerilla seit den neunziger
Jahren zu keiner Zeit aufgehört. Selbst nach der Verkündung des erneuten
Waffenstillstands durch die PKK werden die Militäroperationen in dieser
Region fortgesetzt. Zudem ziehen Einheiten des Geheimdienstes Jitem zur
Zeit ebenfalls durch die Region. Massive Präsenz deutschen Kriegsgeräts in der Region Auf dem Weg von Hakkari nach Şemdinli begegneten uns ein Militärkonvoi mit Mercedes LKWs und Unimogs. Wir überholten einen Konvoi von Polizeibussen, Panzerfahrzeugen und einem Jammer. Şemdinli ist eine Stadt, die von Repression bis hin zu Folter und extralegalen Hinrichtungen gezeichnet ist. Im März 2010 wurden 4 Menschen durch vom türkischen Militär verlegte Minen schwer verletzt.
Am 23.08. verzögerte die Staatsanwaltschaft
weiterhin die Herausgabe der Leichen. Schließlich wurden 3 der Opfer den
jeweiligen Familien, bzw. der Stadtverwaltung zur Waschung und Bestattung
übergeben. Das 4. Opfer sollte nicht übergeben werden, da hier die direkten
Angehörigen aus gesundheitlichen Gründen nicht vor Ort sein konnten. Aufgrund
der Nichtherausgabe des Leichnams der 4. Getöteten Şeyma Yıldız, spitzte
sich die Lage immer weiter zu. Den Delegationsteilnehmern stellte sich
die Lage so dar, dass Behörden und Polizei mit ihrem Vorgehen die Situation
absehbar eskalierten. Im Hof der Polizeidirektion, direkt gegenüber des
Krankenhauses in dem sich die Leichen befanden, sammelten sich mehrere
Dutzend Mitglieder von Spezialeinheiten, welche die wartenden durch Beleidigungen
und demütigendes Auftreten zu provozieren suchten.
Viele Menschen konnten sich nur durch einen Sprung über einen Zaun vor dem Fahrzeug retten; „Das Leben von Menschen wurde wissentlich riskiert“ stellt entsetzt Bärbel Beuermann, Fraktionsvorsitzende DER LINKEN. im Landtag NRW, die vorerst an der Delegation teilnahm, fest. Nach dem Angriff hallten Schüsse aus den Sturmgewehren der Polizisten durch die Straßen der Stadt. Augenzeugen erklärten, dass diese gezielt auf DemonstrantInnen schossen, ob jemand dabei verletzt wurde ist nicht bekannt. „Die Menschen haben Schutz und medizinische Versorgung im örtlichen Krankenhaus gesucht. Durch den Einsatz der Gasgranaten sind bei BewohnerInnen und Kindern, auch bei den Delegationsteilnehmern aus Deutschland, massive körperliche Beeinträchtigungen eingetreten, “ so Beuermann weiter. 2 Getötete in entschlossener Demonstration beigesetzt Die Leichname wurden schließlich am späten Nachmittag freigegeben und nach den rituellen Waschungen in einem entschlossenen Demonstrationszug beigesetzt. Die Herausgabe wurde von der Staatsanwaltschaft so lange verzögert, dass möglichst wenigen Menschen die Teilnahme an der Beerdigung möglich war. Im Fastenmonat Ramadan wird bis 19.00 Uhr gefastet. Die Leichen wurden um ca. herausgegeben und mussten daraufhin gewaschen werden, so dass die Beerdigung genau um 19.00 Uhr begann. Auch das Ausharren über den ganzen Tag ist bei 35-40 Grad zermürbend. Trotz dieser Repression beteiligten sich über 1000 Menschen an der Beerdigung, die zu einer politischen Demonstration für ein Eingehen der türkischen Regierung auf den Waffenstillstand der kurdischen Guerilla wurde. Die Bevölkerung übernahm solidarische Verantwortung für die 2 ohne ihre Familien beerdigten Getöteten, als wären es ihre eigenen Kinder. Es war große Trauer und Verbitterung zu spüren, dass die gerade über 20 jährigen in einer Phase des Waffenstillstands sterben mussten. Die 2 getöteten Frauen waren 2004/2005 Mitglieder der „Canli Kalkanlar“. Diese hatten sich als Lebende Schutzschilde intensiv für den Frieden eingesetzt. Die meisten der FriedensaktivistInnen wurden danach mit Prozessen überzogen. Es blieb ihnen die Wahl zwischen jahrelangen Freiheitsstrafen oder dem Weg in die Berge. Hier wird die Tragödie der kurdischen Bevölkerung auf zynische Weise besonders deutlich. Solange der türkische Staat sämtliche politischen und friedlichen Lösungswege blockiert, werden auch weiterhin Menschen unnötiger Weise Menschen sterben. Die Demonstration, angeführt von einem entschlossenen Jugendblock zog an brennenden Barrikaden vorbei, mit dem Leichenwagen zum Friedhof. Dort wurden die beiden unter Parolen, Fahnen und Liedern, welche die Verbundenheit der Bevölkerung mit der kurdischen Guerilla ausdrückten beigesetzt. Insbesondere die Friedensmütter – Mütter getöteter Guerillas oder Soldaten – forderten, dass insbesondere die europäische Öffentlichkeit sich endlich zu diesem mit deutschen Waffen geführten Krieg zu verhalten habe. Konvoi durch mehrere kurdische Städte von Zehntausenden empfangen Anschließend wurden die beiden weiblichen Guerillas, deren Familien angereist waren, in einem Konvoi von mehr als 40 Fahrzeugen zu ihren Heimatstädten begleitet. In der Kreisstadt Gever (Yüksekova) stand der Verkehr still, die Polizei hatte sich nach heftigen Straßenkämpfen aus dem Stadtbild entfernen müssen und die Straßen waren voll mit etlichen zehntausend v.a. Jungen Menschen, die den Trauerzug mit Parolen, Fahnen und Solidaritätsbekundungen begleiteten. Bei einem Cenaze Yemegi – einem essen zu Ehren der Toten, wandelte sich die große Trauer auf kreative Art in Motivation und Kraft um. Die Guerillakämpferin Gülistan Ergül wurde von mehr als Zehntausend Menschen in ihrer Heimatstadt Bitlis am 24.08. beigesetzt. Diese Ereignisse machen eines deutlich, die kurdische Guerilla ist nicht von der kurdischen Bevölkerung zu trennen. Mehr als Hunderttausend Menschen haben in den verschiedenen Städten gezeigt, dass sie um die Getöteten wie um ihre eigenen Kinder trauern. Immer wieder sagten sie: „Wir wollen nicht das weiterhin Guerillas und Soldaten fallen.“ Die zivile Bewegung, wie auch die Guerilla engagieren sich für einen dauerhaften Frieden, während das türkische Militär und der Staatsapparat auf ein Fortdauern des Krieges setzen. Es ist die Verpflichtung angesichts der schweren Kriegsverbrechen und Übergriffe des türkischen Staates überall auf der Welt Position zu beziehen. Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland gießen durch Waffenlieferungen, Geheimdienstzusammenarbeit und Repressionen weiter Öl ins Feuer. Es ist deutlich dass eine friedliche
Lösung seitens der kurdischen Bevölkerung und kurdischen Bewegung seit
1992/93 gewollt ist. Zur Umsetzung dessen wäre allerdings nötig, dass
die Bevölkerungen die Regierungen sowohl in der Türkei wie auch international
dazu bewegen ihre Bekämpfungslogik aufzugeben und für Frieden im Interesse
aller Menschen zu wirken.
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ISKU | Informationsstelle Kurdistan |