Delegationsbericht 4

Kriegsalltag in Kurdistan

In der Provinz Hakkari hat das Militär am Wochenende trotz des von der PKK ausgerufenen Waffenstillandes bis zum 20.09.2010, gezielt eine Bergregion außerhalb der Ortschaft Şemdinli bombardiert. Bei diesem Angriff sind die 4 Guerillas Gülistan Ergül, Zindan Ahmet, Seyma Yıldız und Şervan Kadir getötet worden. Der gezielte Angriff auf eine Guerillaeinheit, trotz des einseitigen Waffenstillstandes, wird von einem Großteil der Bevölkerung als Provokation angesehen. Aus diesem Grund kam es schon seit dem 20. v.a. in der Region Hakkari zu schweren Auseinandersetzungen.
Unsere Delegation reiste am 22. und 23.08. nach Şemdinli um die Bestattungen, Demonstrationen und das Agieren des türkischen Staates zu beobachten.

Şemdinli hat 12000 EinwohnerInnen. In der Region Hakkari/Şemdinli nahe der türkisch/irakischen Grenze haben die Operationen der türkischen Armee gegen die Guerilla seit den neunziger Jahren zu keiner Zeit aufgehört. Selbst nach der Verkündung des erneuten Waffenstillstands durch die PKK werden die Militäroperationen in dieser Region fortgesetzt. Zudem ziehen Einheiten des Geheimdienstes Jitem zur Zeit ebenfalls durch die Region.
In den letzten Wochen gibt es häufig Proteste gegen staatliche und militärische Gewalt. Die Polizei greift besonders Jugendliche und Kinder immer wieder mit Tränengaspatronen und nachts auch mit scharfer Munition an. Auch Häuser werden in diesem Rahmen beschossen.
Şemdinli – Schauplatz von Aktivitäten von Todesschwadronen
Şemdinli ist seit Jahrzehenten der Schauplatz von durch Todesschwadronen begangenen Verbrechen. Ein Beispiel ist die Umut Bücherei, auf die am 9.11.2005 von Agenten des Geheimdiensts Jitem, der dem “tiefen Staat” zuzurechnen ist, ein Handgranatenanschlag verübt wurde. Als die zwei Handgranaten explodierten, waren drei anwesende Mitarbeiter gerade beim Essen. Einer wurde durch Schrapnelle tödlich, ein anderer schwer verletzt. Der Mitarbeiter Seferi Yilmaz konnte fliehen.
Die Bevölkerung von Şemdinli stellte die Täter in couragierter Art, die gerade ihr Fluchtfahrzeug bestiegen hatten. Dabei stellten sie eine große Menge an Dokumenten, wie Todeslisten, Attentatspläne, Handgranaten deutscher Produktion und eine große Menge anderer Waffen sicher. Die Täter wurden so gestellt und der Polizei übergeben. Als Folge dieses Ereignisses blockierten die BewohnerInnen 15 Tage die Stadt. Die Täter wurden zunächst vor ein Zivilgericht gestellt und zu 15 Jahren Haft verurteilt. Daraufhin wurde der Prozess einem Militärgericht übergeben. Generalstabschef Yasar Büyükanit gab die Linie des Verfahrens vor, indem er die Mörder als “gute Jungs” lobte. Das Verfahren wurde verschleppt, die Mörder freigelassen. Sie haben, bei einer solchen Prozedere aller Erfahrung nach keine Verurteilung oder Konsequenz ihrer terroristischen Aktivitäten zu befürchten. Die Straflosigkeit von Sicherheitskräften wird auch in einem 100seitigen Bericht von Human Rights Watch kritisiert. Weniger als 2% der TäterInnen werden überhaupt verurteilt. Die Strafen meist zur Bewährung ausgesetzt.

Massive Präsenz deutschen Kriegsgeräts in der Region

Auf dem Weg von Hakkari nach Şemdinli begegneten uns ein Militärkonvoi mit Mercedes LKWs und Unimogs. Wir überholten einen Konvoi von Polizeibussen, Panzerfahrzeugen und einem Jammer. Şemdinli ist eine Stadt, die von Repression bis hin zu Folter und extralegalen Hinrichtungen gezeichnet ist. Im März 2010 wurden 4 Menschen durch vom türkischen Militär verlegte Minen schwer verletzt.


22.08.10 mit Tränengasgranaten gegen 9-10 jährige Kinder
Am 20.08.2010 tötete das türkische Militär die 4 KämpferInnen der PKK. Wir besuchten Şemdinli am Tag der Beerdigung, den 23.08.2010 und einen Tag davor. Am 22.08.2010 erreichten wir die Stadt mittags. Als Kinder aus Protest gegen die Tötung der Guerillas einige wenige Steine auf vorbeifahrende Panzerfahrzeuge warfen, griffen martialisch gekleidete Polizisten sie mit, Maschinengewehrgroßen Tränengaswerfern an. Dabei wurde auch immer wieder demonstrativ auf das BDP Gebäude gezielt.
BürgermeisterInnen und KommunalpolitikerInnen der Städte Hakkari, Yüksekova und Şemdinli, sowie der BDP Politiker Salih Yildiz hielten daraufhin eine Pressekonferenz auf offener Straße ab. Sie kritisierten, dass Regierung und Militär dem Waffenstillstand der PKK mit weiteren Militäroperationen und der gezielten Tötung von Guerillas begegnen, anstatt ihn positiv zu erwidern und sämtliche Kampfhandlungen einzustellen. Ein Friedensdialog sei so möglich und für eine demokratische und friedliche Entwicklung des Landes notwendig. Die kurdische Seite ist dazu seit langem bereit.
Staat provoziert Bevölkerung durch willkürlichen Umgang mit Leichen.
Da noch keine Angehörigen der Getöteten angereist waren, wurde die Bestattung auf den Nächsten Tag verschoben. Der Gouverneur und die Staatsanwaltschaft drängten auf eine schnelle Bestattung der Toten, trotz eigentlich üblicher 15 Tagesfrist, in der die Angehörigen, den betreffenden Leichnam abholen könnten. Damit werden die Angehörigen der Getöteten zusätzlich bestraft, da sie, wenn sie den Leichnam haben wollen, auf eine Exhumierung bestehen müssen. Da die Angehörigen von den beiden männlichen Guerillas Zindan Ahmet und Şervan Kadir aus Nordirak/Südkurdistan, bzw. dem Iran nicht anreisen konnten, entschied die Staatsanwaltschaft diese am nächsten Tag beisetzen zu lassen, während sie mit der gleichen Begründung die Beisetzung einer weiblichen Guerilla verweigerte, da zunächst aufgrund von Krankheit der Eltern nur der Cousin und die Cousine anwesend waren um den Leichnam zu übernehmen. Dieses willkürliche Umgehen mit den Körpern der Getöteten führte zu einer Absehbaren Eskalation der Lage. Am Abend des 22.08. kam es in Şemdinli erneut zu Straßenkämpfen. Die Polizei verletzte auch MoscheebesucherInnen durch ihren Tränengaseinsatz.

23.08. Polizeiangriff auf Demonstrationszug und Wartende

Am 23.08. verzögerte die Staatsanwaltschaft weiterhin die Herausgabe der Leichen. Schließlich wurden 3 der Opfer den jeweiligen Familien, bzw. der Stadtverwaltung zur Waschung und Bestattung übergeben. Das 4. Opfer sollte nicht übergeben werden, da hier die direkten Angehörigen aus gesundheitlichen Gründen nicht vor Ort sein konnten. Aufgrund der Nichtherausgabe des Leichnams der 4. Getöteten Şeyma Yıldız, spitzte sich die Lage immer weiter zu. Den Delegationsteilnehmern stellte sich die Lage so dar, dass Behörden und Polizei mit ihrem Vorgehen die Situation absehbar eskalierten. Im Hof der Polizeidirektion, direkt gegenüber des Krankenhauses in dem sich die Leichen befanden, sammelten sich mehrere Dutzend Mitglieder von Spezialeinheiten, welche die wartenden durch Beleidigungen und demütigendes Auftreten zu provozieren suchten.
Als ein Demonstrationszug aus der Stadt vor dem Krankenhaus eintraf und vorwiegend Kinder einige wirkungslose Steine auf Panzerfahrzeuge warfen, griff die Polizei unnötiger Weise an. Sie fuhr mit einem gepanzerten Fahrzeug/Wasserwerfer (Typ Skorpion) mit ca.50km/h in die Menge. Es ist und nur einem glücklichen Zufall geschuldet, dass es keine Toten gab. Daraufhin fuhr das Panzerfahrzeug mit gleicher Geschwindigkeit in eine vor dem Krankenhaus, z.T. sitzende Menschenmenge, die auf die Herausgabe der Leichen wartete. Wäre nur einer der Menschen vor dem Fahrzeug gestolpert wäre es zu einem tragischen und völlig unnötigen Vorfall gekommen. Verletzt wurden Personen u.a. durch auf Kopfhöhe abgeschossene Tränengasgranaten. Auch der Bürgermeister der Kreisstadt Hakkari, der Geschäftsführer der BDP Salih Yıldız wie auch verschiedene KommunalpolitikerInnen aus der gesamten Region wurden durch den Tränengaseinsatz verletzt. Auch wir hatten keine Möglichkeit uns aus dieser Situation zu entfernen ohne vom Gas geschädigt und dem heranrasenden Fahrzeug gefährdet zu werden. Das Panzerfahrzeug wurde durch mit Tränengaswerfern, Tränengasgranaten, Knüppeln und AK-47 Schnellfeuergewehren ausgerüstete Polizisten begleitet.


Viele konnten sich nur durch Flucht retten

Viele Menschen konnten sich nur durch einen Sprung über einen Zaun vor dem Fahrzeug retten; „Das Leben von Menschen wurde wissentlich riskiert“ stellt entsetzt Bärbel Beuermann, Fraktionsvorsitzende DER LINKEN. im Landtag NRW, die vorerst an der Delegation teilnahm, fest. Nach dem Angriff hallten Schüsse aus den Sturmgewehren der Polizisten durch die Straßen der Stadt. Augenzeugen erklärten, dass diese gezielt auf DemonstrantInnen schossen, ob jemand dabei verletzt wurde ist nicht bekannt.

„Die Menschen haben Schutz und medizinische Versorgung im örtlichen Krankenhaus gesucht. Durch den Einsatz der Gasgranaten sind bei BewohnerInnen und Kindern, auch bei den Delegationsteilnehmern aus Deutschland, massive körperliche Beeinträchtigungen eingetreten, “ so Beuermann weiter.

2 Getötete in entschlossener Demonstration beigesetzt

Die Leichname wurden schließlich am späten Nachmittag freigegeben und nach den rituellen Waschungen in einem entschlossenen Demonstrationszug beigesetzt. Die Herausgabe wurde von der Staatsanwaltschaft so lange verzögert, dass möglichst wenigen Menschen die Teilnahme an der Beerdigung möglich war. Im Fastenmonat Ramadan wird bis 19.00 Uhr gefastet. Die Leichen wurden um ca. herausgegeben und mussten daraufhin gewaschen werden, so dass die Beerdigung genau um 19.00 Uhr begann. Auch das Ausharren über den ganzen Tag ist bei 35-40 Grad zermürbend.

Trotz dieser Repression beteiligten sich über 1000 Menschen an der Beerdigung, die zu einer politischen Demonstration für ein Eingehen der türkischen Regierung auf den Waffenstillstand der kurdischen Guerilla wurde. Die Bevölkerung übernahm solidarische Verantwortung für die 2 ohne ihre Familien beerdigten Getöteten, als wären es ihre eigenen Kinder. Es war große Trauer und Verbitterung zu spüren, dass die gerade über 20 jährigen in einer Phase des Waffenstillstands sterben mussten. Die 2 getöteten Frauen waren 2004/2005 Mitglieder der „Canli Kalkanlar“. Diese hatten sich als Lebende Schutzschilde intensiv für den Frieden eingesetzt. Die meisten der FriedensaktivistInnen wurden danach mit Prozessen überzogen. Es blieb ihnen die Wahl zwischen jahrelangen Freiheitsstrafen oder dem Weg in die Berge. Hier wird die Tragödie der kurdischen Bevölkerung auf zynische Weise besonders deutlich. Solange der türkische Staat sämtliche politischen und friedlichen Lösungswege blockiert, werden auch weiterhin Menschen unnötiger Weise Menschen sterben.

Die Demonstration, angeführt von einem entschlossenen Jugendblock zog an brennenden Barrikaden vorbei, mit dem Leichenwagen zum Friedhof. Dort wurden die beiden unter Parolen, Fahnen und Liedern, welche die Verbundenheit der Bevölkerung mit der kurdischen Guerilla ausdrückten beigesetzt. Insbesondere die Friedensmütter – Mütter getöteter Guerillas oder Soldaten – forderten, dass insbesondere die europäische Öffentlichkeit sich endlich zu diesem mit deutschen Waffen geführten Krieg zu verhalten habe.

Konvoi durch mehrere kurdische Städte von Zehntausenden empfangen

Anschließend wurden die beiden weiblichen Guerillas, deren Familien angereist waren, in einem Konvoi von mehr als 40 Fahrzeugen zu ihren Heimatstädten begleitet. In der Kreisstadt Gever (Yüksekova) stand der Verkehr still, die Polizei hatte sich nach heftigen Straßenkämpfen aus dem Stadtbild entfernen müssen und die Straßen waren voll mit etlichen zehntausend v.a. Jungen Menschen, die den Trauerzug mit Parolen, Fahnen und Solidaritätsbekundungen begleiteten. Bei einem Cenaze Yemegi – einem essen zu Ehren der Toten, wandelte sich die große Trauer auf kreative Art in Motivation und Kraft um.

Die Guerillakämpferin Gülistan Ergül wurde von mehr als Zehntausend Menschen in ihrer Heimatstadt Bitlis am 24.08. beigesetzt. Diese Ereignisse machen eines deutlich, die kurdische Guerilla ist nicht von der kurdischen Bevölkerung zu trennen. Mehr als Hunderttausend Menschen haben in den verschiedenen Städten gezeigt, dass sie um die Getöteten wie um ihre eigenen Kinder trauern. Immer wieder sagten sie: „Wir wollen nicht das weiterhin Guerillas und Soldaten fallen.“ Die zivile Bewegung, wie auch die Guerilla engagieren sich für einen dauerhaften Frieden, während das türkische Militär und der Staatsapparat auf ein Fortdauern des Krieges setzen.

Es ist die Verpflichtung angesichts der schweren Kriegsverbrechen und Übergriffe des türkischen Staates überall auf der Welt Position zu beziehen. Staaten wie die Bundesrepublik Deutschland gießen durch Waffenlieferungen, Geheimdienstzusammenarbeit und Repressionen weiter Öl ins Feuer.

Es ist deutlich dass eine friedliche Lösung seitens der kurdischen Bevölkerung und kurdischen Bewegung seit 1992/93 gewollt ist. Zur Umsetzung dessen wäre allerdings nötig, dass die Bevölkerungen die Regierungen sowohl in der Türkei wie auch international dazu bewegen ihre Bekämpfungslogik aufzugeben und für Frieden im Interesse aller Menschen zu wirken.

ISKU | Informationsstelle Kurdistan