Colemerg /Hakkari – Provinz und Stadt

Delegationsbericht

Die Stadt wird von der BDP regiert. Bürgermeister ist Dr. Fadil Bedirhanoğlu. Gegen ihn laufen derzeit fünf Gerichtsverfahren. Seine Vorgänger wurden ebenfalls kriminalisiert, zum Teil des Amtes enthoben und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Bedirhanoğlu wurde mit über 80% der Stimmen gewählt. Hakkari hat 90000 EinwohnerInnen und lediglich einen Jahreshaushalt von 10-11 Millionen YTL. Das entspricht in etwa 5 Millionen Euro.

Kriegsverbrechen der türkischen Armee u.a. mit chemischen Kampfmitteln

1. Fall (Chemiewaffen)

Nahe der türkisch-irakischen Grenze, in der Provinz Hakkari, wurden zwischen dem 8. und 15. September letzten Jahres 8 Menschen – nach Betrachtung aller zugänglichen Fakten - Opfer eines Einsatzes von chemischen Kampfmitteln durch das türkische Militär.

Augenzeugen berichteten von dem Vorfall und beschrieben, dass Soldaten gasförmige, allem Anschein nach chemische Kampfstoffe in Form von Geschossen in eine Höhle in der Nähe der türkisch-irakischen Grenzstadt Cukurca (Provinz Hakkari) einbrachten und wenige Zeit später mehrere Menschen, Mitglieder der Guerilla der PKK, aus dieser Höhle bargen. Einige der bereits leblosen Körper wurden daraufhin zusätzlich von Panzerfahrzeugen überfahren und/oder erschossen.

Aus einem Gutachten eines Rechtsmedizinischen Instituts der Universitätsklinik Eppendorf in Hamburg in Zusammenhang mit dem Augenzeugenbericht können wir schließen, dass gegen die 8 von der türkischen Armee getöteten Personen mit großer Wahrscheinlichkeit chemische Waffen eingesetzt wurden.

Menschenrechtler aus der Region hatten unserer letzten Menschenrechtsdelegation, im März 2010 unter anderem Delegierten von Bundestags- und Landtagsabgeordneten und WissenschaftlerInnen die Augenzeugenberichte übermittelt und Fotos aus dem Zeitraum kurz nach der Obduktion übergeben. Die Fotos sind nach Ansicht des Bildfälschungsexperten Hans Baumann authentisch. Bei einer Begutachtung fand Baumann keinerlei Hinweise auf eine Manipulation der Aufnahmen. Lichtverhältnisse, Details der Leichen und Kameradaten seien konsistent und in dieser Form praktisch nicht fälschbar. Nach weiterer Recherche können wir davon ausgehen, dass es sich bei den Toten um Rizgar Askan, Aziz Özer, Ramazan Yildiz, Kahraman Şex Ali, Yahya Musazade, Salih Güleç, Aliye Timur und Hanife Ali, im Alter von 19 bis 33 Jahren handelt.

Wir konnten dieses Kriegsverbrechen in Zusammenarbeit mit MdB, Die Linke Andrej Hunko einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Politiker mehrerer Bundestagsfraktionen forderten daraufhin unseren Ideen entsprechend eine internationale Untersuchungskommission.

2. Fall (Chemiewaffen)

Am 06. Juli 2010 wurden nahe der Stadt Hakkari Semdinli zwölf Guerillas bei einer militärischen Auseinandersetzung getötet. Die Leichen sind sämtlich auf eine unbeschreibliche Art und Weise aufgequollen wie Wasserleichen. Es handelt sich allerdings nicht um Wasserleichen. Es besteht ein erheblicher Verdacht das chemische Substanzen oder Waffen prä- oder postmortal zum Einsatz gekommen sind. Bei einem der Toten wurde der Kopf abgetrennt, bei weiteren Toten, andere Körperteile verstümmelt. Fotos der Leichen sind vorhanden. Der Obduktionsbericht wurde bisher von der Staatsanwaltschaft nicht herausgegeben. Eine Klage und eine weitere Obduktion der Toten, sowie die Begutachtung der Fotos wird etwaig von MenschenrechtlerInnen angestrebt. In der Türkei haben derartige Klagen jedoch kaum eine Chance auf Erfolg.

3. Fall (Folter, Vergewaltigung und Tötung nach Festnahme)

7 Kilometer von Hakkari entfernt wurde am 06. August, mehreren übereinstimmenden Augen- und Ohrenzeugenberichten zufolge, eine zuvor mit drei weiteren Guerillas in ein Gefecht mit dem türkiscehn Militär verwickelte Frau, wahrscheinlich von Jitem-Mitgliedern, gefoltert und vergewaltigt und schließlich getötet. Es wurde beobachtet wie die Guerilla nach einem Gefecht, bei dem die drei weiteren Guerillas starben, nach ihrer Festnahme zu einem Platz in der Natur vor Hakkari Stadt, gebracht wurde. Anschließend hörten mehrere Zeugen immer wieder schreie: „Tut das nicht, nein tut das nicht.“ Daraufhin brachte ein Konvoi von drei Autos der „Sicherheitskräfte“ die Betroffene an einen anderen Ort. Am folgenden Tag wurde die nun Tote mit den weiteren Guerillas in der Leichenhalle aufgebart. Eine Obduktion der Toten wird im Gegensatz zu den weiteren drei bis heute verweigert. Bei in Augenscheinnahme durch Mitglieder des Menschenrechtsvereins IHD wurden Spuren von Folter und einer Vergewaltigung erkannt. Hierbei einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Genfer Konventionen und die Menschenrechte.

4. Fall (Waldbrände - Entlaubungsmittel)

Ein großes Problem sind in Hakkari ebenfalls seitens des Militärs gelegte Waldbrände und der Einsatz von Entlaubungsmitteln. Auch hier besteht der Verdacht, dass unerlaubte chemische Substanzen eingesetzt wurden. Ärzte haben die Vermutung, dass die Kräuter, die in der Region wachsen und von der Bevölkerung von April bis Juni geerntet werden, stark vergiftet sind. Eine Folge davon könnte sein, dass die Magenkrebsrate in den letzten Jahren um 100% angestiegen ist. Früher wurden die Kräuter als Medikament genutzt.

Ärzte in Ankara und Hakkari haben empfohlen, die Kräuter nicht mehr zu essen. Für einen großen Teil der Bevölkerung sind sie jedoch derart essentiell, dass sie nicht auf das Sammeln verzichten wollen. Die Durchfallrate ist nach Auskunft von Ärzten in Hakkari ebenfalls stark angestiegen. Ein entsprechendes Dokument liegt beim örtlichen Gericht vor. Es besteht der Verdacht, dass die Ebene von Bercelan, sowie weitere Orte stark verseucht sind. Von hier kommt dass Trinkwasser der Stadt. Wegen einer Beschwerde gegen die Nutzung von Chemiewaffen durch das türkische Militär in Hakkari/Bercelan vor einigen Monaten war der Vorsitzende des IHD, Ismael Akbulut, drei Monate im Gefängnis von Bitlis inhaftiert. Vorwurf war die vermeintliche Erniedrigung des türkischen Militärs und Propaganda für eine kriminelle Vereinigung. Danach wurde er wegen Mangels an Beweisen frei gelassen.

Delegationen aus Europa, die versuchten in die Region vor Ort diesbezüglich zu recherchieren, wurden bisher regelmäßig von Militär und Polizei daran gehindert.

Repressionen gegen Jugendliche

In Hakkari/Colemerg sind besonders Jugendliche von Repression betroffen. Sie werden mit Prozessen wegen der Teilnahme an Demonstrationen, meist wegen des Vorwurfs der Propaganda für eine kriminelle Vereinigung oder vermeintlichen Steinwürfen angeklagt und in vielen Fällen zu Strafen zwischen 7 und 8 Jahren verurteilt. Die Prozesse fanden bis zu einer Gesetzesreform im letzten Monat vor dem Schwurgericht für Erwachsene in Van unter den Regulierungen des „Anti-Terror Gesetzes“ statt. Durch die Reform hat sich allerdings wenig geändert. Die Prozesse finden nun vor Gerichten für Kinder und Jugendliche statt. Die Zahl der Inhaftierungen nimmt allerdings nicht ab. Das Strafmaß hat ebenfalls nur geringfügig abgenommen. Das gesamte Vorgehen widerspricht nach wie vor den UN Kinderrechtsregulierungen. (s.o.)

Betroffenen Familien und Anwälten in Hakkari mangelt es ständig an finanziellen Mitteln, da die Anzahl der Anklagen in den letzten zwei Jahren stark gestiegen ist und für eine Verteidigung auch des Öfteren hohe Kosten entstehen. In den letzten Monaten machten IHD und eine Malerin eine Aktion bei der Bilder zum Thema verkauft wurden. Die Erlöse erhielten die Familien inhaftierter Kinder. Weitere Projekte des IHD, wie zum Beispiel eines zur Traumaaufarbeitung, werden vom Gouverneur bisher finanziell geblockt.


Festnahme des Stadtratsmitgliedes und ehem. zweiten Bürgermeisters Bülent A.

Das Stadtratsmitglied und ehem. zweite Bürgermeister Bülent A. wurde am 23. August am Kontrollpunkt vor der Stadt von der „Anti Terror Polizei“ festgenommen. Die Delegationsmitglieder befanden sich gemeinsam mit dem BDP Politiker auf dem Rückweg von einer Beerdigung im gleichen Auto. Der Kontrollpunkt ist für seine menschenverachtenden Praktiken bekannt. Hier befinden sich Militär, Polizei und Jitem-Einheiten an einem Ort. Am 24. August wurde der Haftbefehl erneut verlängert. Anwälte konnten bis dahin keinen Kontakt zu dem Politiker aufnehmen. Am 25. August wurden fünf weitere PolitikerInnen unter anderem der Vorsitzende der Gewerkschaft KESK verhaftet.

ISKU | Informationsstelle Kurdistan