Ernsthafte Zweifel an der Aufrichtigkeit der Gegenseite

KCK verlängert Waffenpause um einen Monat

Presseerklärung des KCK-Exekutivrats vom 30.09.2010

Sehr verehrte Pressevertreterinnen,
verehrte Pressevertreter,

es ist eine bekannte Tatsache, dass die kurdische Frage eines der Hauptprobleme des Mittleren Ostens darstellt, welches auf eine Lösung drängt. Die in dieser Frage seit hundert Jahren ausbleibende Lösung und die anhaltenden militärischen Auseinandersetzungen haben den Völkern in der Region, allen voran unserem Volk, sehr große Verluste und Leiden zugefügt. Daher ist es unabdingbar, hieraus die notwendigen Schlüsse zu ziehen und eine tief greifende Lösung anzustreben. Wir sind der Meinung, dass wir einer Lösung und einem dauerhaften Frieden heute näher sind als je zuvor. Denn die historischen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen drängen uns die Lösung des Problems auf.
Unsere Bewegung hat von Beginn an bedeutende Bestrebungen zur Lösung des Problems gezeigt. Vor allem auch die großen Anstrengungen unseres Vorsitzenden seit nunmehr 18 Jahren für eine friedliche und demokratische Lösung des Problems sind der Öffentlichkeit bekannt. Ebenso hat der Vorsitzende Öcalan an unserem Beschluss, den wir heute öffentlich machen werden, einen maßgeblichen Anteil.

Verehrte PressevertreterInnen,

der Zap-Widerstand sowie der Erfolg bei den Kommunalwahlen vom März 2009 stellen einen wichtigen Wendepunkt im Freiheitskampf unseres Volkes dar. Der Beschluss unserer Bewegung vom 13. April 2009 der einseitigen Aktionslosigkeit ist das Resultat dieser Entwicklungen. Die einseitigen Schritte und Anstrengungen unserer Bewegung, um diese Phase in einen dauerhaften Frieden münden zu lassen, haben nicht zum erhofften Erfolg geführt. Der Grund hierfür liegt darin, dass die AKP-Regierung entgegen allen Erwartungen Tausende politische Festnahmen und das Verbot der Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP) veranlasste und die militärischen Operationen fortsetzte.
Im Anschluss initiierte sie ein ausschließlich auf Täuschung und Vernichtung basierendes inhaltsloses Projekt, anfänglich als Demokratisches Öffnungsprojekt, später in das Projekt der Nationalen Einheit und Geschwisterlichkeit umbenannt.
Diese Annäherungsweise der AKP-Regierung hat zum einen das Problem weiter vertieft und zum anderen das Leid vermehrt und zu noch tieferen Vertrauensproblemen geführt. In dieser Phase waren ernsthafte Bestrebungen unseres Vorsitzenden zur Entwicklung einer friedlich-demokratischen Lösung zu verzeichnen. Wegen der negativen Haltung der Regierung, die nicht von ihrer Vernichtungspolitik Abstand nimmt und somit eine Stagnation verursachte, war unser Vorsitzender gezwungen, ab dem 31. Mai seinen Rückzug aus dem Prozess bekannt zu geben.
Unsere Bewegung unternahm anschließend eine Neubewertung der Situation; Resultat war die Offensive der aktiven Verteidigung vom 1. Juni 2010. Die 1.-Juni-Offensive bestimmte die politische Tagesordnung der Türkei und zeigte erneut, dass die kurdische Frage das Hauptproblem darstellt. Der türkische Staat kam in dieser Phase ernsthaft ins Straucheln. Es wurde offensichtlich, dass die AKP-Regierung mit ihrer Liquidierungspolitik keinen Erfolg haben kann und dass unsere Bewegung in der Phase der Offensive sich erfolgreich gezeigt und wichtige politische und militärische Resultate erzielt hatte. Dies wiederum steigerte Motivation und Moral innerhalb unseres Volkes und unserer Organisation.
Einige Institutionen des türkischen Staates nahmen ausgehend von den Ergebnissen der 1.-Juni-Offensive den Dialog mit unserem Vorsitzenden auf, damit sich eine von militärischen Auseinandersetzungen unbelastete Atmosphäre ent­wickelt. Daraufhin ließ unser Vorsitzender unserer Bewegung eine Nachricht zukommen, in der er uns zum Waffenstillstand aufrief. Unter Berücksichtigung der Friedensappelle unterschiedlicher Kreise verkündete auf Empfehlung unseres Vorsitzenden unsere Bewegung am 13. August 2010 eine befristete Aktionslosigkeit. Dieser Beschluss gilt bis heute.
In diesem Zusammenhang brachten wir, damit die Phase sich positiv entwickeln kann, unsere vorrangigen Forderungen in vier Punkten zur Sprache. Der türkische Staat und die türkische Regierung haben in dieser Beziehung bislang keinerlei ernsthafte Schritte unternommen. Die militärischen und politischen Operationen halten weiterhin an und die politischen Festnahmen sind nicht eingestellt worden. Auch wird an der bestehenden Wahlhürde festgehalten, ohne eine Senkung in Aussicht zu stellen. Die Haftbedingungen unseres Vorsitzenden sind nicht ernsthaft verbessert worden. An der Untersuchungshaftsituation der zu Unrecht festgenommenen 1 700 kurdischen Politiker hat sich ebenfalls nichts verändert. Über zwanzig kurdische Freiheitsguerillas haben infolge von Militäroperationen der türkischen Armee ihr Leben verloren, obwohl sie sich in der Position der Aktionslosigkeit befanden. Vor allem in der Region Colemêrg (Hakkari) fanden provokative Angriffe und Massaker gegen die Guerilla und gegen das kurdische Volk statt. Während bei diesen Angriffen zehn kurdische Freiheitsguerillas ihr Leben verloren, starben neun kurdische Patrioten infolge von Angriffen durch JITEM und Kontra-Kräfte.

Trotz all dieser Entwicklungen brachte das Verfassungsreferendum vom 12. September wichtige politische Resultate mit sich. Die erfolgreiche Boykotthaltung unseres Volkes während des Verfassungsreferendums trug dazu bei, dass das Problem erneut umfassend auf die Tagesordnung kam. Die wichtigste Entwicklung dieser Phase ist der Dialog, der mit unserem Vorsitzenden aufgenommen wurde und zunehmend an Qualität gewonnen hat. Trotz aller negativen Haltungen ist dieser Aspekt von Dialog und Beziehung von großer Bedeutung und eine wertvolle Chance für die Lösung. Auf der Grundlage des mit ihm geführten Dialoges ließ unser Vorsitzender dem Präsidium des KCK-Exekutivrates eine Nachricht mit der Empfehlung zur Verlängerung der Phase der Aktionslosigkeit zukommen.

Der Vorstand unserer Bewegung bewertete diese Botschaft und beschloss die Verlängerung der Phase der Aktionslosigkeit vom 13. August. Wir hatten uns gewünscht, dass mit dem Aufbau gegenseitigen Vertrauens diese Phase mit zunehmender Qualität in einen unbefristeten Waffenstillstand münden würde. Aber die Entwicklungen in den letzten zwei Wochen – das Sicherheitsgipfeltreffen, die diplomatischen Aktivitäten mit unterschiedlichen Akteuren, in erster Linie mit den USA und Irak, mit dem Ziel unserer Liquidation sowie die Erneuerung der parlamentarischen Befugnisse für die AKP-Regierung zu grenzüberschreitenden Militäroperationen – haben bei uns ernsthafte Zweifel an der Aufrichtigkeit der Gegenseite aufkommen lassen. Die Wortwahl sowie die psychologische Kriegsführung haben zu Recht unsere Zweifel vermehrt. Des Weiteren müssen wir beobachten, inwieweit der Dialog mit unserem Vorsitzenden anhält oder nicht. Aus diesem Grunde haben wir beschlossen, die anfänglich als unbefristeter Waffenstillstand überlegte Phase nach einem Monat einer neuen Bewertung zu unterziehen, damit sie konstruktiv verlaufen kann. Es ist offensichtlich, dass diese Phase, im Falle gegenseitiger konkreter vertrauensbildender Friedensbemühungen, innerhalb dieses Monats in eine unbefristete Waffenruhe münden wird. Andernfalls werden wir eine neue Bewertung vornehmen müssen.

Verehrte PressevertreterInnen,

in dieser Phase werden unsere Guerillaeinheiten nicht aktiv sein, außer im Rahmen unabdingbarer Bedürfnisse. Sie werden nur im Rahmen ihrer Selbstverteidigung und Vergeltung antworten, wenn mit Gewalt gegen sie vorgegangen wird. In dieser Phase werden unsere Kräfte ihre Selbstverteidigung zur Grundlage nehmen.

Die Öffentlichkeit und alle Kreise, die sich für den Frieden aussprechen, sollten wissen, dass sich die Gegenseite an bestimmte Dinge halten muss, damit diese Phase anhalten kann und damit die militärischen Auseinandersetzungen nicht mehr entfacht werden.

  • In erster Linie müssen die Militäroperationen gegen die Basis unserer Guerillaeinheiten eingestellt werden. Denn ihr Andauern wird den Waffenstillstand von selbst gegenstandslos machen. Um den Waffenstillstand im wahren Sinne umsetzen zu können, muss er beidseitig sein.
  • Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass, wenn Repressionen, Gewalt und ungerechtfertigte Festnahmen im Rahmen politischer Operationen gegen die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Bereiche unseres Volkes nicht eingestellt werden, die Spannung in der Gesellschaft steigen und der Waffenstillstand nicht mehr zu halten sein wird. Aus diesem Grunde müssen die provokativen politischen Operationen gegen die politischen Kräfte beendet werden.
  • Damit die Phase in einen dauerhaften Frieden münden kann, ist es von großer Bedeutung, dass mithilfe einer demokratischen Verfassung, welche die Lösung der kurdischen Frage beinhalten sollte, die Phase der demokratischen Republik entwickelt wird. Für die Lösung des Problems und für die Demokratisierung der Türkei ist die Ausarbeitung einer demokratischen Verfassung eine unaufschiebbare Aufgabe. Vor diesem Hintergrund ist es nur natürlich, dass konkrete Schritte in diesem Zusammenhang die Phase vertiefen werden.
  • Parallel dazu sind die Fortsetzung und die Weiterentwick­lung des Dialogs und Verhandlungen mit dem Vorsitzenden Öcalan für die Entwicklung und den konstruktiven Verlauf dieser Phase von strategischer Bedeutung. Während die allgemeinen Fragen und konkret die Sicherheitsdimension einer tief greifenden Problemlösung mit unserem Vorsitzenden Öcalan besprochen werden sollten, sollten die demokratischen Rechte und die Dimension der Verfassung mit der DTK und der BDP, als legalen Vertretern des kurdischen Volkes, mittels Dialog und Verhandlung behandelt werden. Das ist der einzige Weg, um einen dauerhaften Frieden zu schaffen.

Es ist augenfällig, dass es bei der Lösung des Problems nicht an einem Verhandlungspartner mangelt. Der kurdische Volksvertreter ist der einzige Verhandlungspartner. Damit diese Phase ganzheitlich geführt werden kann, ist es von Bedeutung, dass die legalen demokratischen Vertreter des kurdischen Volkes als Gesprächspartner ebenfalls ihre Rolle spielen.
Wichtig ist nur, dass vertrauensbildende, aufrichtige praktische Schritte im Rahmen der Problemlösung beidseitig eingeleitet werden. Die gegenwärtige Atmosphäre des Misstrauens durch vertrauensfördernde Maßnahmen zu überwinden und auf der Grundlage gegenseitigen Respekts Verantwortungsbewusstsein zu entwickeln, wird die wichtigste, lösungsorientierte politische Haltung kennzeichnen.

Die Formel von der Demokratischen Republik und dem Autonomen Kurdistan ist die Hauptlösungsformel für die kurdische Frage. Das patriotische kurdische Volk sollte in dieser Phase mit der Entwicklung seines Gesellschaftssystems seine demokratische Selbstverwaltung organisieren. Unser Volk sollte parallel zur Phase der demokratischen Lösung ernsthaft seine Strukturen der demokratischen Autonomie entwickeln und Schritt für Schritt umsetzen und seine demokratische Lösung darlegen.
Alle internationalen und regionalen Kräfte, die gegenüber unserer Region und unserem Land Interesse zeigen, sollten den neuen und somit achten Waffenstillstand, den wir zur Stärkung der Grundlage für eine friedliche Lösung ausgerufen haben, richtig bewerten. Es sollte nicht vergessen werden, dass die demokratische Lösung der kurdischen Frage eine wesentliche Rolle bei der Entwicklung von Stabilität und Demokratie in der Region spielen wird. Wir rufen diese Kräfte dazu auf, ihrer Verantwortung entsprechend die Politik für eine friedliche Lösung zu unterstützen, damit sich in Kurdistan eine friedliche Lösungsphase entwickeln und unser Volk seine ihm zustehenden legitimen Rechte uneingeschränkt wahrnehmen kann.
Des Weiteren appellieren wir an alle patriotisch-demokratischen Kräfte in Kurdistan, allen voran an die kurdischen politischen Kräfte in Südkurdistan, ihre nationale Einheit und Solidarität zu entwickeln. Sie sind aufgefordert, sich um die Lösung der kurdischen Frage in der Türkei im Rahmen der Geschwisterlichkeit und nationaler Interessen zu bemühen.
Die Lösung der kurdischen Frage in Nordkurdistan [türkischer Teil Kurdistans; Anm. d. Ü.] wird die Voraussetzungen für die Lösung der kurdischen Frage in allen Teilen Kurdistans schaffen. Die Lösung der kurdischen Frage in der Region wird der Demokratisierung des Mittleren Ostens gleichkommen. Daher rufen wir alle Völker in der Region, die für Frieden und Geschwisterlichkeit sind, dazu auf, ihren Beitrag zur Lösung der kurdischen Frage zu leisten.
Vor allem rufen wir alle Kräfte in der Türkei, Intellektuelle, Demokraten, Revolutionäre und diejenigen, die für eine Lösung sind, in dem Wissen, dass die demokratische Lösung der kurdischen Frage gleichzeitig die Demokratisierung der Türkei bedeutet, dazu auf, ihre Rolle wahrzunehmen und sich ernsthaft für eine würdevolle und dauerhafte Lösung zu engagieren.

Den türkischen Staat und die AKP-Regierung rufen wir erneut auf, bei diesem Waffenstillstand Abstand zu nehmen von jeglicher billigen Politik und die Vernichtungspläne einzustellen. Sie sollten vertrauensbildende Politik entwickeln und entsprechende konkrete Schritte einleiten. Die oppositionellen Parteien in der Türkei sind aufgefordert, Abstand zu nehmen von ihrer bisherigen Politik, die Rassismus und Nationalismus schürt. Wir rufen sie auf, ihren Beitrag zu Frieden, Geschwisterlichkeit und freiwilliger Einheit zu leisten.
Dieser wichtige Schritt [des Waffenstillstands; Anm. d. Ü.] ist nicht taktischer, sondern strategischer Natur. Er bedeutet, dass in der kurdischen Frage eine neue Phase begonnen wurde. Es besteht die Möglichkeit, dass bei der Lösung der kurdischen Frage, die ein gesellschaftliches Problem ist, die Waffen für immer außen vor gelassen werden. Aber hierfür sind gegenseitige Anstrengungen und Opferbereitschaft notwendig.
Wenn trotz all unserer wichtigen Appelle und Bemühungen kein Abstand genommen wird von Vernichtung und Gewalt und wir beharrlich angegriffen werden, dann wird unsere Antwort der umfassende Widerstands- und Verteidigungskrieg auf der Grundlage des revolutionären Volkskampfes sein. Die Widerstandsdynamik unserer Bewegung hat bewiesen, dass sie in der Lage ist, ihre Kräfte, Stellungen und Werte zu verteidigen.

Wir hoffen, dass unsere Appelle in Betracht gezogen werden und alle eine entsprechende verantwortungsbewusste Haltung an den Tag legen, damit in der kurdischen Frage eine neue Phase außerhalb der Gewalt beginnen kann. An dieser Stelle möchten wir erneut unterstreichen, dass wir verantwortungsbewusst und prinzipientreu handeln werden, damit die neue Phase sich als eine Phase des Friedens und des Dialogs entwickeln kann und entsprechende Resultate erzielt werden können.

In diesem Sinne bedanken wir uns ganz herzlich.

 
ISKU | Informationsstelle Kurdistan