Kongress
für eine demokratische Gesellschaft (DTK):
Vorlage eines Modellentwurfs für ein Demokratisches Autonomes
Kurdistan
mit einem Vorwort
von Prof. Dr. Norman Paech
Januar 2011
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Kongress
für eine demokratische Gesellschaft (DTK): Demokratische Autonomie
Prof. Dr. Norman Paech, Völkerrechtler und ehemaliger Bundestagsabgeordneter
Der Kongress für eine
demokratische Gesellschaft hat ein Projekt vorgeschlagen, mit dem das
Zusammenleben des türkischen und kurdischen Volkes in der Türkei auf demokratischer
Basis neu organisiert und damit friedlich gestaltet werden soll. Das Konzept
„Demokratische Autonomie“ versteht sich als ein Vorschlag zur Demokratisierung
der gesamten Türkei. Kernelement soll eine neue Verfassung sein, die dem
kurdischen Volk die gleichen Lebensrechte, den gleichen politischen Status
und die gleichen ökonomischen, sozialen und kulturellen Möglichkeiten
wie dem türkischen Volk einräumt.
Es hat lange gedauert, bis die ca. 15 Mio. Kurden in der Türkei überhaupt
als ein Volk anerkannt wurden. Ihm stehen daher nicht nur die beschränkten
Minderheitenrechte, sondern das umfassendere Recht auf Selbstbestimmung
zu, wie es in den Art. 1 der beiden Internationalen Menschenrechtspakte
von 1966 kodifiziert ist: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung.
Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status
und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Entwicklung.“ Dieses Recht hat die UNO-Generalversammlung 1970 noch einmal
in ihrer „Deklaration über die Prinzipien des Völkerrechts betreffend
die freundschaftlichen Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen den
Staaten in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen“ (sog.
Prinzipiendeklaration) mit den Worten bestätigt: „Auf Grund des in der
Charta der Vereinten Nationen verankerten Grundsatzes der Gleichberechtigung
und Selbstbestimmung der Völker haben alle Völker das Recht, frei und
ohne Einmischung von außen über ihren politischen Status zu entscheiden
und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu gestalten,
und jeder Staat ist verpflichtet, dieses Recht im Einklang mit den Bestimmungen
der Charta zu achten....“.
Seit diesem Zeitpunkt wird das Recht auf Selbstbestimmung nicht mehr nur
als politisches Prinzip oder unverbindliche Programmatik in den internationalen
Beziehungen, sondern als verbindliche Regel des internationalen Gewohnheitsrechts
im Range zwingenden Rechts (ius cogens) angesehen. Dies hat die UN-Generalversammlung
in zahlreichen Resolutionen immer wieder bekräftigt. Die International
Law Commission hat das Selbstbestimmungsrecht schon vor 1970 als ius cogens
anerkannt und später seine Verletzung als ein Beispiel für ein Internationales
Verbrechen angeführt. Der Internationale Gerichtshof hat seine verbindliche
Geltung als Gewohnheitsrecht in seinen Gutachten zu Namibia und zur Westsahara
sowie in seinem Rechtsstreit zwischen Nikaragua und der USA bestätigt.
Und so bestimmt Art. 20 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und
Rechte der Völker vom 27. Juni 1981: „Alle Völker haben ein Existenzrecht.
Sie haben das unbestreitbare und unveräußerliche Recht auf Selbstbestimmung.
Sie entscheiden frei über ihren politischen Status und gestalten ihre
wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung nach der von ihnen
frei gewählten Politik.“
Zu jener Zeit bedeutete das Selbstbestimmungsrecht sogar, dass sich die
kolonial unterdrückten Völker von ihren Kolonialmächten trennen konnten.
Es war gleichbedeutend mit dem Recht auf Gründung eines souveränen und
unabhängigen Staates. Doch mit dem Ende des Dekolonisierungsprozesses
wurde das Sezessionsrecht zunehmend durch die Verpflichtung eingeschränkt,
die bestehenden Grenzen zu respektieren. Heute wird das Recht auf Sezession
allgemein abgelehnt und nur noch in den Fällen anerkannt, in denen z.B.
dem Volk die grundlegenden Menschenrechte dauernd vorenthalten werden
oder seine Existenz durch den weiteren Verbleib im Staatsverband bedroht
wird.
Der Entwurf des Demokratischen Gesellschaftskongresses erkennt die bestehenden
Grenzen der Türkei ausdrücklich an und begrenzt sein Autonomiemodell auf
das türkische Staatsgebiet. Es zählt acht verschiedene Dimensionen auf,
die alle legitime Aspekte des Rechts auf Selbstbestimmung erfassen. Eine
Grundvoraussetzung all dieser Dimensionen des Selbstbestimmungsrechts
betrifft die Achtung der ethnischen Identität eines Volkes und seiner
kulturellen Besonderheit. Hier geht es um die Bewahrung und Selbständigkeit
historisch gewachsener Eigenheiten, die nicht nur die Sprache und Religion,
sondern alle Bräuche, Traditionen und Riten umfasst, sofern sie nicht
die Selbständigkeit anderer Kulturen einschränkt oder gefährdet. Genauso
wie die territoriale Dimension des Selbstbestimmungsrechts nur durch die
Anerkennung eines kollektiven Rechts auf Siedlung und Heimat des Volkes
erfüllt werden kann, ist auch das kulturelle Selbstbestimmungsrecht im
weitesten Sinn ein kollektives Recht. D.h. dass ein solches Recht nicht
allein durch die Gewährung des Gebrauchs der eigenen Sprache und der eigenen
Bräuche durch die Angehörigen des Volkes eingelöst wird. Nicht das individuelle
Angebot einzelner Ansprüche zur Ausübung kultureller Eigenheiten entspricht
dem Selbstbestimmungsrecht, sondern nur die Anerkennung der kollektiven
Identität eines Volkes als historisches Subjekt der eigenen selbständigen
Entwicklung führt zur Verwirklichung dieses Rechts. Das bedeutet z.B.
konkret, dass sich das Selbstbestimmungsrecht nicht in Abwehransprüchen
gegenüber Einmischungsversuchen von Regierung und Verwaltung in eigene
kulturelle Initiativen und Aktivitäten erschöpft, sondern Leistungsansprüche
an den Staat formuliert. Es genügt also nicht, den Angehörigen des Volkes
zu erlauben, eigene private Schulen mit muttersprachlichem Unterricht
und Pflege der eigenen kulturellen Tradition einzurichten. Der Anspruch
geht auf gleichberechtigte Einrichtung derartiger Möglichkeiten im staatlichen
Schul- und Erziehungswesen.
Die Dimension der Selbstverteidigung und Diplomatie sprengt nur scheinbar
die territorialen Grenzen der Türkei. Jedes Volk hat ein Recht auf Schutz
seiner Sicherheit, seiner Identität, seiner Organisation des politischen
Gemeinwesens und der Umsetzung seines Anspruchs auf Demokratie. Es geht
also nicht nur um militärische Verteidigung, sondern vielmehr auch um
die zivile, politische und juristische Verteidigung der demokratischen
Organisation des Volkes. Darüber hinaus hat sich gerade das kurdische
Volk in seiner Geschichte einer Vielzahl gewaltsamer Interventionen und
Angriffe erwehren müssen. Gegen diese Gefahren müssen sich die Kurden
auch in Zukunft wappnen. Die Tatsache, dass die Kurden über vier Staaten
verteilt leben, bestimmt die Richtung der diplomatischen Dimension. Sie
durchbricht und verletzt nicht die Souveränität des türkischen Staates,
sondern ermöglicht und erleichtert die nachbarschaftlichen Beziehungen,
so wie seinerzeit die Aseri in der sowjetischen Republik Aserbeidschan
zur Erleichterung des nachbarschaftlichen Verkehrs diplomatische Beziehungen
zum Iran pflegten, wo der andere Teil der Aseris lebt.
Autonomie und Selbstverwaltung sind unabdingbare Elemente des Selbstbestimmungsrechts.
Dieses Recht ist absolut zwingend und macht es zur Pflicht eines jeden
Staates, den in ihren Grenzen lebenden Völkern den Raum von Autonomie
zu eröffnen, in dem sie als gleichberechtigter Teil in einer demokratischen
Gesellschaft wirken können. Hierzu macht der Entwurf für ein demokratisches
autonomes Kurdistan einen bemerkenswerten Vorschlag.
Vorlage eines Modellentwurfs für ein Demokratisches Autonomes
Kurdistan
Kongress für eine demokratische Gesellschaft (DTK)
1- Kurze Vorgeschichte
Bekanntlich sind die Kurden, die zu den ältesten Völkern Mesopotamiens
gehören, wo die neolithische landwirtschaftliche Revolution in der Morgendämmerung
der Menschheitsgeschichte stattgefunden hat, als Resultat einer Politik
der Ignoranz und der Vernichtung mit der Gefahr eines Genozids konfrontiert.
Aus nationalstaatlicher Sicht wird Kurdistan als Ausdehnungsgebiet für
die eigene ethnische Nation der Besatzungsmächte betrachtet; dementsprechend
werden Methoden der Unterdrückung, des Missbrauchs und der Assimilation
eingesetzt. Wenn es den kurdischen Widerstand gegen dieses unmenschliche
Ziel nicht geben würde, stünde diese Kultur, die mit einer Stammzelle
der Menschheit vergleichbar ist, vor der Auslöschung.
Als die ersten vom Staatsgedanken geprägten Zivilisationen und Imperien
in Niedermesopotamien entstanden, richteten sie ihr Augenmerk auf Kurdistan.
Aus diesem Grund gehören die Kurden historisch zu den Völkern, die traditionell
einen Befreiungskampf führten. Der ständige Druck von Staaten und Imperien
führte einerseits dazu, dass das kurdische Volk sich in Form von Stammeskonföderationen
verteidigte; auf der anderen Seite entstand innerhalb der dadurch erstarkenden
Strukturen eine Kultur der gegenseitigen Anerkennung und des Zusammenlebens
mit den Nachbarvölkern. Auch innerhalb staatlicher Strukturen gelang es
den Kurden auf gewissem Niveau, ihre Autonomie zu wahren und ihre Existenz
zu erhalten.
Nachdem die nationalstaatliche Mentalität der kapitalistischen Moderne
und der Nationalismus als ihre Ideologie ihren Einzug in den Mittleren
Osten gehalten hatten, entstanden für die Völker dort schwerwiegende politische,
soziale, wirtschaftliche und kulturelle Problemfelder. Wie auch weltweit
wurden Völker, die mit dem pathologischen Nationalismus in Berührung kamen,
zu Feinden anderer Völker gemacht. Nationalstaaten starteten einen systematischen
Angriff bestehend aus Verleugnung, Vernichtung und Assimilation auf die
Kulturen anderer Völker. So stehen die Kurden kurz davor, ihre vorkapitalistische
Autonomie zu verlieren.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfolgten die herrschenden türkischen,
arabischen und persischen Eliten, die für eine nationalstaatszentrierte
Denkweise standen und sich aus der destruktiven Energie des Nationalismus
formierten, mit Unterstützung der unter ihrem Einfluss stehenden Gesellschaften
eine systematische Politik der kulturellen und physischen Vernichtung
gegen die Kurden. Aus diesem Grund waren die Kurden der Unterdrückung
unter den türkischen, arabischen und persischen Nationalstaaten ausgesetzt.
Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts bestand die Gefahr des kompletten
Verlusts ihrer kulturellen Existenz, insbesondere in Nordkurdistan als
Resultat der ignoranten Politik der Türkei.
Die seit Beginn des 20. Jahrhunderts herrschende jungtürkische Politik
der „Gesellschaft für Einheit und Fortschritt“, aus den übrig gebliebenen
Territorien des Osmanischen Reiches einen Nationalstaat zu schaffen, führte
zu großem Leid der anderen Völker und wurde in den kurdisch-türkischen
Beziehungen zur ideologischen und politischen Grundlage des Beginns eines
Vernichtungsprozesses. Mustafa Kemal hielt angesichts des Zusammenbruchs
des Osmanischen Reiches im Ersten Weltkrieg und der Gefahr, in der sich
die türkische nationale Existenz damit befand, ein Bündnis entsprechend
historischen Traditionen insbesondere mit den Kurden für äußerst wichtig.
Auf dieser Grundlage gewann die Türkei den Befreiungskampf; die Republik
Türkei wurde basierend auf den kurdisch-türkischen Beziehungen gegründet,
was ein weiteres Mal die große Bedeutung dieses Verhältnisses offenbarte.
In jenen Jahren dachte Mustafa Kemal in Bezug auf Kurdistan an einen Autonomiestatus
und im Februar 1922 traf das erste Parlament einen entsprechenden Beschluss.
Obwohl auch die Kurden großen Schaden durch die Politik in der letzten
Phase des Osmanischen Reiches erlitten hatten, zogen sie es anders als
die Araber und andere Völker vor, sich nicht abzutrennen, sondern in einem
bestimmten Ausmaß unter Wahrung ihrer Autonomie gemeinsam mit den Türken,
die auch der gleichen Religion angehören, im selben Staat zu leben.
2- Notwendigkeiten
der aktuellen Situation und generelle Grundsätze der demokratischen Autonomie
Allen negativen Fakten zum Trotz ist heute die internationale und regionale
politische Lage für eine Lösung der kurdischen Frage günstig. Auch die
in der Gesellschaft der Türkei entstandene positive Tendenz zu einer Lösung
der kurdischen Frage birgt ausreichend Möglichkeiten. Der türkische Staat
kann seine gewohnte Politik nicht fortsetzen; gleichzeitig verweigert
sich das kurdische Volk einer Fortsetzung des Lebens unter dem alten Status.
Bei der demokratischen Autonomie handelt es sich um den konkreten Ausdruck
unseres Vorschlags für ein Lösungsprojekt auf der Grundlage einer Umwandlung
der Türkei in eine demokratische Republik. Wir wollen auf der einen Seite
die demokratische Autonomie basierend auf einem Dialog mit dem Staat verwirklichen
und wir wollen sie auf der anderen Seite basierend auf einer demokratischen
Organisierung und dem entsprechenden Kampf unseres Volkes parallel dazu
aufbauen.
Dieses Modell ist das richtige Lösungsmodell für nationale Fragen gegen
eine Denkweise, die aufgrund ihres kontinuierlich Konflikte und Instabilität
erzeugenden Charakters die verschiedenen Gemeinschaften voneinander trennt.
Heutzutage verwandeln sich Nationalstaaten, die verschiedene Gemeinschaften
umfassen, in relativ demokratische politische Systeme, in denen diese
verschiedenen ethnischen und religiösen Gemeinschaften auf der Grundlage
ihrer jeweiligen Autonomie zusammen leben. Die Existenz einer Mehrheitsgesellschaft
auf der Basis einer Akzeptanz der Besonderheit und Autonomie der Unterschiedlichkeiten
entspricht der demokratischen Tendenz unseres Zeitalters.
Eine demokratische Autonomie kann nicht nur die Beziehungen zwischen der
Türkei und den Kurden maßgeblich verbessern und die kurdische Frage lösen,
sondern auch eine radikal-demokratische politische Struktur für die Türkei
schaffen, mit der dort weitere gesellschaftliche Probleme gelöst werden
können. Da die demokratische Autonomie auf einer organisierten demokratischen
Gesellschaft beruht, die auf freiheitlich-kommunale Werte setzt, wird
damit die Lösung aller Probleme einschließlich ökonomischer Fragen angestrebt.
Inner- und außerhalb der Türkei befürworten viele Kreise eine Lösung der
kurdischen Frage. Da jedoch die Oligarchie politischer Parteien in unserem
Land nicht für die Türkei, sondern für ihre Eigeninteressen Politik macht,
verweigert sie sich einer Lösung, vertieft die Ausweglosigkeit und fügt
dem kurdischen Volk weiteres Leid zu.
In dieser Situation bleibt dem kurdischen Volk keine andere Alternative,
als das eigene demokratische freiheitliche Leben in legitimer Form selbst
zu gründen. Demokratische Autonomie ist Ausdruck dafür, dass das kurdische
Volk nicht mehr ohne einen verbindlichen Status unter einer Regierung
leben will, die in der aktuellen Situation seine Existenz bedroht. Weltweit
gibt es kein weiteres über vierzig Millionen Menschen zählendes Volk,
dessen Rechte jedoch komplett ignoriert werden. Demokratische Autonomie
bedeutet die Ablehnung des politischen Status, den der türkische Staat
den Kurden auf der Basis einer Politik von Verleugnung und Vernichtung
zugedacht hat, und die Annahme eines neuen Status, der auf Freiheit und
Demokratie setzt.
Demokratische Autonomie hat das Ziel, ein demokratisches autonomes Kurdistan
aufzubauen, indem die Gesellschaft sich in acht verschiedenen Dimensionen
(Politik, Recht, Selbstverteidigung, Soziales, Wirtschaft, Kultur, Ökologie,
Diplomatie) organisiert und einen politischen Willen herausbildet.
Ohne eine demokratische Autonomie können die Kurden als Gesellschaft nicht
einen demokratischen politischen Willen formulieren. Somit kann weder
die Stärke der Gesellschaft zum Vorschein treten, noch können ihre wirtschaftlichen,
sozialen und kulturellen Bedürfnisse befriedigt werden. Die kurdische
Bevölkerung hat das von DTK (Kongress für eine demokratische Gesellschaft)
und BDP (Partei für Frieden und Demokratie) vorgelegte Lösungsmodell mit
großer Begeisterung angenommen.
Demokratische Autonomie strebt an, die Republik zu demokratisieren, indem
die starre Nationalstaatsmentalität, die auch für die Gesamtgesellschaft
der Türkei zu einer Last geworden ist, verändert wird, bis sie kein Hindernis
mehr für die politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung
der Völker darstellt. Somit ist die demokratische Autonomie verlängerter
Ausdruck der demokratischen Republik Türkei in Kurdistan.
Die Gesellschaft Kurdistans ist bereits heute zur größten Demokratisierungskraft
nicht nur der Türkei, sondern aller Länder in der Region geworden. Durch
den Befreiungskampf Kurdistans und die in der Gesellschaft Kurdistans
verwirklichte demokratische, soziale und kulturelle Revolution ist in
der Türkei und im gesamten Mittleren Osten eine Kraft entstanden. Der
Aufbau einer demokratischen Autonomie wird somit auch eine Demokratisierung
der Region mit sich bringen.
Gleichzeitig wird der Staat Türkei mit dem Wunsch seiner Gesamtgesellschaft
nach Demokratisierung und einer Lösung der kurdischen Frage sowie die
durch die regionale und internationale Lage erforderte Notwendigkeit einer
Demokratisierung konfrontiert. Bis heute hatten alle Verfassungen und
Gesetze der Türkei sowie ihre Umsetzung in Kurdistan einen ignoranten
Rechtscharakter, der für das kurdische Volk keine Legitimität vorsah.
Aus diesem Grund haben die angewandte Politik und der gesamte politische,
administrative und juristische Bereich in Kurdistan einen antidemokratischen
Charakter, der aus kurdischer Sicht umgewandelt werden muss.
Die demokratische Autonomie sieht keine Veränderung der Staatsgrenzen
vor, sondern gewährleistet die Geschwisterlichkeit und Einheit der Völker,
die innerhalb dieser Grenzen leben. Somit wird die in der Türkei entstehende
Gegnerschaft zwischen den Völkern gestoppt und mit einer neuen Vereinbarung
zwischen dem kurdischen Volk und der Türkei ein neues Kapitel in den türkisch-kurdischen
Beziehungen aufgeschlagen. Unser Modell ist ein Demokratisierungsmodell,
das in allen anderen Regionen der Türkei Anwendung finden kann. Auch weltweit
ändern andere Staaten ihren extremen zentralistischen Charakter und wenden
sich dezentralisierten Systemen zu, weil Regionalverwaltungen Probleme
leichter lösen können. In dieser Hinsicht entspricht die demokratische
Autonomie auch der Tendenz von Staaten, Entscheidungsbefugnisse den Kommunen
zu übertragen und sich dadurch zu demokratisieren.
Die historischen türkisch-kurdischen Beziehungen, besonders die Herangehensweise
des Gründungsvaters der Republik, Mustafa Kemal, in der Gründungszeit
der modernen Türkei, bilden das Fundament für ein neues türkisch-kurdisches
Verhältnis. Angesichts der Tatsache, dass heutzutage auch die Beziehungen
zwischen den Völkern basierend auf gegenseitiger Akzeptanz der Existenz
verschiedener ethnischer Gemeinschaften und der Selbstverwaltung neu geknüpft
werden, stellt unser Modell auch das konstruktivste Modell für eine Neubegründung
der kurdisch-türkischen Beziehungen in zeitgenössischer Form dar.
Da es sich bei der demokratischen Autonomie nicht um die Institutionalisierung
eines Staates handelt, verursacht sie auch keine Kriege um Macht und Staat.
In dieser Hinsicht verfügt sie über einen Charakter und eine Kapazität,
mit denen alle Gemeinschaften, Völker und politischen Gruppen im gegenseitigen
Interesse stabile Beziehungen aufbauen können.
Demokratische Autonomie hat die Fähigkeit, eine demokratische konföderale
Einheit der Vielfalt in der Gesellschaft in Form gegenseitiger Ergänzung
und Stärkung zu gewährleisten. Somit wird Kurdistan auch mit den kurdischen
politischen Systemen in anderen Landesteilen und den Völkern in der Region
demokratische und freie Beziehungen entwickeln.
Die Administration der demokratischen Autonomie stellt in Nordkurdistan
den Willen des Volkes dar und wird mit den demokratischen konföderalen
Organisierungsformen, die in den anderen Landesteilen den Willen des Volkes
repräsentieren, Beziehungen der gegenseitigen Stärkung und Ergänzung aufbauen,
ohne die jeweiligen Staatsgrenzen zu berühren. Da sie frei von nationalstaatlichem
und machtzentriertem Streben ist, wird in diesen Beziehungen auch keine
chauvinistische Tendenz auftauchen. In dieser Hinsicht spielt auch beim
Aufbau stabiler Beziehungen unter den Kurden die Mentalität und Struktur
der demokratischen Autonomie eine wichtige und konstruktive Rolle. Der
demokratische Konföderalismus zwischen den Teilen Kurdistans wird auf
dieser Grundlage funktionaler werden.
Da es sich bei der demokratischen Autonomie nicht um ein Projekt zur Errichtung
oder Zerstörung eines Staates handelt, wird sie auch den Staaten in der
Region den Weg zu einer Lösung der kurdischen Frage weisen und hilfreich
sein. Mit diesem Charakter wird gleichzeitig auf der Grundlage einer prinzipiellen
Einigung mit den Nationalstaaten im Rahmen der Formel „Staat + Demokratie“
ein Zusammenleben gewährleistet.
Bei diesem Modell handelt es sich um ein Modell zur Lösung eines nationalen
Problems, das auf der Grundlage prinzipieller Einigung von allen nicht
faschistischen politischen Kräften akzeptiert werden kann. Dieser Charakter
der demokratischen Autonomie kann stabile Beziehungen mit den Ländern
der Region und eine Akzeptanz der demokratischen Autonomie gewährleisten.
Ohne Kämpfe um Staat und Macht können mit allen nicht faschistischen politischen
Kräften politische, soziale und wirtschaftliche Beziehungen geknüpft werden.
Demokratische Autonomie stellt den Beginn einer neuen Ära in den Beziehungen
der Kurden mit den Staaten dar, beginnend mit der Türkei über den Iran,
Irak und Syrien bis zu anderen Ländern. Wird die kurdische Frage über
ein Verständnis der demokratischen Autonomie gelöst, wird es eine Lösung
für alle Probleme in der Region geben. Da die kurdische Frage Ursache
für Spannungen und Konflikte in der Region ist, ist sie dort gleichzeitig
ein Grund für die herrschende politische, ökonomische und soziale Instabilität.
Eine Lösung dieses Problems wird zunehmend wichtiger für die regionale
Stabilität. Es wird sich zeigen, dass das Projekt der demokratischen Autonomie
nicht nur für eine Lösung der kurdischen Frage, sondern für eine Lösung
aller regionalen Probleme ein Lösungsmodell von universeller Qualität
darstellt.
3- Die acht
Dimensionen des Modells der demokratischen Autonomie
3.1- Politische Dimension
Der politische Willen des demokratischen autonomen Kurdistans gewinnt
seine Stärke aus der demokratisch organisierten Gesellschaft; die Gesellschaft
wiederum aus dem gemeinsamen Gebrauch der individuellen Rechte freier
Bürger in Verbindung mit kollektiven Gruppenrechten. Diese Kraft wird
zum Wohle der Gesellschaft mittels demokratischer Politik umgesetzt. Dafür
wird auf eine demokratische Organisierung gegen die starr zentralistische,
bürokratische Auffassung von Regierung und Verwaltung des Nationalstaates
gebaut. In der demokratischen Politik partizipieren alle Teile der Gesellschaft
aktiv am politischen Prozess. Die offene, durchsichtige Politik von Angesicht
zu Angesicht macht die Stärke im Wandel und in der Demokratisierung der
Gemeinschaften aus.
Die politische Verwaltung in der demokratischen Autonomie organisiert
sich von der Basis her in Form von Dorfkommunen-, Kleinstadt-, Kreisstadt-,
Stadtteil- und Stadträten auf demokratischer konföderaler Grundlage und
findet ihre höchste Vertretung im Kongress der Gesellschaft. Der Gesellschaftskongress
des demokratischen autonomen Kurdistans entsendet Vertreter in das Parlament
der demokratischen Republik Türkei und wird so Teil der Politik des gemeinsamen
Landes. Das demokratische autonome Kurdistan verfügt über eine eigene
repräsentative Fahne und andere Symbole. Außerdem benutzen [Angehörige]
andere[r] Identitäten im Bereich der demokratischen Autonomie auch ihre
eigenen Symbole.
In diesem Sinne ist die demokratische Autonomie Ausdruck des Willens des
kurdischen Volkes, innerhalb einer demokratischen Türkei zu leben, und
des politischen Status des kurdischen Volkes.
Die demokratische Autonomie baut nicht auf einem Territorium, einer ethnischen
oder religiösen Gemeinschaft auf, sondern auf einer Kultur des Zusammenlebens
der Vielfalt und Demokratie. Sie ist Ausdruck ethnischer, religiöser,
sozialer und kultureller Rechte als Kriterien für eine Demokratie. Dieses
Modell gilt nicht nur für Kurdistan, sondern auch für die anderen Regionen
der Türkei.
Entscheidungsbefugt sind in der demokratischen Autonomie in erster Linie
die Dorf-, Stadtteil- und Stadträte und ihre Delegierten. Jede Gemeinschaft
setzt ihre Rede-, Diskussions- und Entscheidungsbefugnis in den Volksräten
um. Es gilt eine partizipative, pluralistische, direkte Volksdemokratie.
Die demokratische Autonomie ist nicht darauf beschränkt, die Befugnisse
und die Macht des Staates einzugrenzen; sie spielt zwar diese Rolle, aber
gleichzeitig sorgt sie mit ihrer Auffassung von „Staat + Demokratie“ für
ein lebendiges demokratisches Leben der Gesellschaft und führt dem Staat
eine partizipative und direkte Demokratie zu. Organisierungspluralismus
und -reichtum betrachtet sie als Vertiefung der Demokratie, als einen
Zugewinn von Kraft und Willen des Individuums und der Gemeinschaften.
Die unterschiedlichen Kulturen, Ethnien, Geschlechter und Glaubensrichtungen
müssen das Recht haben, sich gesondert und autonom zu organisieren. Eine
eigene Vertretung von Völkern (Assyrer, Chaldäer, Araber, Armenier, Aserbaidschaner)
sowie Glaubensgemeinschaften wie den Jesiden und Aleviten innerhalb der
demokratischen Autonomie ist unabdingbar für eine ethische und politische
Gesellschaft.
Ein Individualismus, der sich von der Gesellschaftlichkeit abspaltet und
sich gegen die Gesellschaft richtet, wird genauso wenig akzeptiert wie
die Tradition, dem Individuum den eigenen Willen abzusprechen. Wir betrachten
die Beziehung zwischen freiem Individuum und freier Gesellschaft als sich
gegenseitig bedingende gesellschaftliche Gesamtheit. Das Freiheitsniveau
von Frauen sehen wir als grundlegendes Kriterium für eine demokratische
Gesellschaft.
Im demokratischen autonomen Kurdistan ist eine gesonderte Organisierung
der Gesellschaft auf Gebieten wie Politik, Soziales, Wirtschaft, Kultur,
Kunst, Sport, Bildung, Recht, öffentlicher Verkehr, Handel, Finanzen,
Gewerbe etc. ein gesellschaftliches Bedürfnis. Die politischen Parteien
als unverzichtbares Mittel der Demokratie müssen neu strukturiert werden,
ohne eine ideologische Hegemonie, eine politische Herrschaft anzustreben
und im Widerspruch zur ethischen und politischen Gesellschaft zu stehen.
Demokratische Institutionen des demokratisch-autonomen Systems sind beginnend
mit den Dörfern Kommunen an der Basis und Räte in den Städten. Unabwendbar
für eine ethisch-politische Gesellschaft und das Funktionieren eines demokratischen
Systems ist die Gründung von Räten an der Basis insbesondere von Frauen
und Jugendlichen, aber auch aller anderen gesellschaftlichen Gruppen,
und damit eine direkte Partizipation an der Politik. Die Dorfvorsteher
und Dorfältesten dürfen nicht als Werkzeuge des Staates fungieren, sondern
als demokratische Mittler. Zwischen den Städten organisieren sich die
Verwaltungen in der gesamten Region.
3.2- Juristische
Dimension
Das kurdische Volk, das international, in der Region und in der Republik
Türkei vom Rechtssystem ausgeschlossen wird, dessen Existenz und Rechte
verleugnet werden, ist heute durch seinen auf dem Boden universellen Rechts
geführten Befreiungskampf in der Lage, einen Status der demokratischen
Autonomie zu proklamieren. Verfassungs- und Gesetzesänderungen, die notwendig
sind, um den unrechtmäßigen und unmenschlichen Umgang mit dem kurdischen
Volk sowie die Verleugnungspolitik und den Vernichtungskrieg zu beenden
und innerhalb der Grenzen der Republik Türkei auf friedlicher Grundlage
eine freie demokratische Einheit zu gewährleisten, müssen einen Status
der demokratischen Autonomie vorsehen. Wir betrachten die Türkei und Kurdistan
als gemeinsame Heimat. Das Rechtssystem der demokratischen Autonomie muss
von einer neuen Verfassung der Republik Türkei und dem EU-Recht anerkannt
und sein Funktionieren über gegenseitige verbindliche Erklärungen gesichert
werden.
Das kurdische Volk kann seine Grundrechte und -freiheiten innerhalb der
Grenzen der Republik Türkei über den Status der demokratischen Autonomie
gewährleisten. Dieser Status ist Ausdruck des Willens zu einer freien,
gleichen und freiwilligen Gemeinsamkeit basierend auf dem Einverständnis
des kurdischen Volkes und muss von der Republik Türkei verfassungsrechtlich
und gesetzlich garantiert werden. Demokratische Autonomie ist ein Modell,
das von den Kurden in ihrer Heimat Kurdistan ebenso angewandt wird, wie
es in der Gesamttürkei Anwendung finden kann, um eine direkte Demokratie
zu realisieren.
Innerhalb der bestehenden Grenzen und staatlichen Strukturen steht die
demokratische Autonomie für die Freiheit der Kurden. Die in Kurdistan
und anderen Regionen der Türkei lebenden Kurden regeln ihre Beziehung
zum Staat der Republik Türkei auf der Grundlage des Status der demokratischen
Autonomie.
Im demokratischen autonomen Kurdistan sowie in der gesamten Türkei gilt
die Anwendung der Menschenrechte, die Ausdruck für die Freiheit aller
Menschen von Geburt an ohne Unterscheidung in Klasse, Herkunft, Religion,
Geschlecht, Ethnie und Rasse sind; der grundlegenden individuellen Rechte
wie Meinungs-, Glaubens-, Organisierungs- und Versammlungsfreiheit; der
wirtschaftlichen und sozialen Rechte sowie des Rechts der Völker, die
eigene kulturelle Existenz frei zu leben und zu entwickeln und sich selbst
zu regieren. Diese Rechte müssen von der Republik Türkei verfassungsrechtlich
und vom Rechtssystem des demokratischen autonomen Kurdistans garantiert
werden. Als internationale Vorbilder sehen wir die über einen Autonomiestatus
geregelten aktuellen Lösungen nationaler Fragen in Irland, Schottland,
dem Baskenland, Katalonien sowie die entsprechenden UN-Abkommen.
Als wesentliche Grundlagen gelten das von Abdullah Öcalan vorgelegte,
auf Geschlechterbefreiung, Demokratie und Ökologie basierende Paradigma,
die Tradition von Autonomie in der Menschheitsgeschichte, die über einen
Autonomiestatus geregelten aktuellen Lösungen nationaler Fragen in Irland,
Schottland, dem Baskenland, Katalonien u. a., die Verfassung der Türkei
von 1921, das am 10. Februar 1922 vom damaligen Parlament der Türkei verabschiedete
Autonomiegesetz in Bezug auf die Kurden, die Ansprachen Mustafa Kemals
1924 in Izmit sowie die entsprechenden UN-Abkommen.
Das Rechtssystem des demokratischen autonomen Kurdistans betrachtet es
als nicht richtig und nicht möglich, eine Gesellschaft ausschließlich
rechtlich zu verwalten, und setzt deshalb, ohne dem Dilemma „entweder
Ethik oder Jura“ zu verfallen, auf den Schutz und die Regierung der Gemeinschaft
im Einklang von Ethik und Recht. In der Überzeugung, dass eine Gesellschaft
ohne Gewissen eine verlorene Gesellschaft ist, wird neben dem Recht die
Ethik als Gewissen und Herz der Selbstverwaltung der Gesellschaft betrachtet.
Ein gesellschaftliches System der Gerechtigkeit kann unter Berücksichtigung
des Paradigmas von Geschlechterbefreiung, Demokratie und Ökologie aufgebaut
werden.
3.3- Die Dimension
der Selbstverteidigung
In der Natur gibt es kein Lebewesen, das sich nicht selbst verteidigt.
Jedes Lebewesen verfügt neben dem Reflex, die eigene Existenz zu verteidigen,
über eigene Selbstverteidigungsmaßnahmen. Es ist der Mensch, der seine
Selbstverteidigung am bewusstesten entwickelt. In dieser Hinsicht ist
die Menschheitsgeschichte gleichzeitig die Geschichte der Weiterentwicklung
der Selbstverteidigung. So hat auch im Verlauf der Geschichte immer das
Bedürfnis gesellschaftlicher Gruppen (Stämme, Nationen, religiöse Gemeinschaften,
Dörfer, Städte etc.) nach Selbstverteidigung bestanden. Selbstverteidigung
ist so lebenswichtig wie Luft und Wasser, um sowohl Angriffe von außen
auf die eigene Existenz abzuwehren als auch von innen heraus entstehende
Gefahren gegen die ethischen und politischen Werte der Gesellschaft abzuwenden.
Selbstverteidigung ist die Sicherheitspolitik der ethischen und politischen
Gesellschaft. Die Dimension der Selbstverteidigung stellt nicht nur ein
Phänomen der militärischen Verteidigung dar, sondern steht in enger Verbindung
mit dem Schutz der Identität, der Gewährleistung der Politisierung und
der Umsetzung der Demokratisierung. Selbstverteidigung basiert auf einer
organisierten Gesellschaft. Eine organisierte Gesellschaft kann sich am
besten verteidigen. In allen Gesellschaften ist die Selbstverteidigung
unabdingbar für den Schutz der Existenz.
Das Volk Kurdistans hat im Verlauf der Geschichte kontinuierlich Kämpfe
zum Schutz gegen Angriffe von außen geführt. Seit den ersten Invasionen
bis heute haben sich die Kurden gegen jede Form von Besatzung und Angriffen
zum Schutz der eigenen Existenz selbst verteidigt. Auch in der jüngeren
Geschichte waren die Aufstände des 19. und 20. Jahrhunderts trotz schlechter
Bedingungen und ihres unorganisierten Charakters Maßnahmen der Selbstverteidigung.
Wenn der Status der demokratischen Autonomie anerkannt wird, kann die
Selbstverteidigung nicht als militärisches Monopol, sondern entsprechend
dem inneren und äußeren Sicherheitsbedürfnis der Gesellschaft unter der
Kontrolle demokratischer Organe aufgebaut werden. Die Menschen in den
Städten, Kleinstädten, Stadtteilen und Dörfern verhalten sich bewusst
und sensibel gegen faschistische, reaktionäre und tödliche Angriffe. Selbstverteidigung
ist somit Ausdruck eines gesellschaftlichen Widerstands gegen solche Angriffe.
Selbstverteidigung ist ein Recht, das in internationalen Abkommen und
von den UN definiert ist.
3.4- Kulturelle
Dimension
Der Nationalstaat ging innerhalb seiner Grenzen mit einer genozidalen
Politik gegen alle Sprachen und Kulturen vor. In ihrer härtesten Ausprägung
hat diese Politik die kurdische Sprache und Kultur getroffen. Die kurdische
Sprache war im Alltagsleben ebenso verboten wie der muttersprachliche
Unterricht in allen staatlichen Bildungseinrichtungen. Es wurde die Erschaffung
einer von ihrer Muttersprache und Kultur entfremdeten Gesellschaft angestrebt
und deren mentale und geistige Assimilation. Es war so weit gekommen,
dass in Kurdistan schließlich ein Prozess der Autoassimilation eingesetzt
hatte.
Dabei betrachten UN-Abkommen und die demokratischen Normen der Europäischen
Union das Verbot von Muttersprache und Kultur eines Volkes sowie die Verhinderung
des freien Gebrauchs derselben als Verbrechen gegen die Menschlichkeit
und definieren dieses Vorgehen als „kulturellen Genozid“. Aber dieses
Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird vor den Augen der Weltöffentlichkeit
weiterhin begangen.
Da das kurdische Volk nicht über das Recht verfügt, in demokratischer
Atmosphäre frei zu leben und sich weiterzuentwickeln, konnten die in der
kurdischen Gesellschaft durch die nationalistische Verbots- und Assimilationspolitik
entstandenen schweren Schäden noch nicht vollständig behoben werden. In
gewisser Hinsicht ist beim Individuum und in der Gesellschaft fast der
Hirntod eingetreten. Aus diesem Grund können sich weder Individuum noch
Gesellschaft stabil entwickeln. Ohne muttersprachliche Bildung kann es
nicht ausreichend kurdische Intellektuelle geben. Damit sich die kurdische
Gesellschaft seelisch und geistig befreien und gesunde Individuen hervorbringen
kann, muss in den Bereichen Sprache und Kultur tief greifend gearbeitet
werden.
Die Kunst, die Gesellschaft und Individuum gegen jede Art von Verbreitung
imperialistischer Kultur, Kolonisation und Abstumpfung verteidigt und
sie mit ihrer Geschichte, ihrem Land, ihrer Kultur und Sprache vertraut
macht, muss ihre eigentliche Rolle spielen. Es muss eine Kultur- und Kunstbewegung
entstehen, die auf der Basis aufbaut und auch die kleinsten Siedlungen
mit einschließt. Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, damit Kultur und
Kunst nicht als Ware und Objekt von Einkauf und Verkauf verkommen.
„Für ein Volk ist es die größte Katastrophe, wenn seine Geschichte von
anderen geschrieben wird“ – diese Worte sind für die Kurden eine noch
immer gültige Wahrheit. Die Geschichte Kurdistans wurde größtenteils von
anderen im Dienste des Machtapparats geschrieben und so ist ein falsches
Geschichtsbewusstsein entstanden, das für Identität, Existenz und Zukunft
unseres Volkes eine große Gefahr bedeutet.
Der Gebrauch der kurdischen Sprache im öffentlichen Bereich darf nicht
weiter behindert werden; von der Grundschule bis zur Universität muss
Kurdisch zur Ausbildungssprache gemacht werden. Es müssen gesetzliche
und verfassungsrechtliche Neuregelungen getroffen werden, um den Kurden
in den Metropolen der Türkei und im Ausland die Möglichkeit zu muttersprachlichem
Unterricht zu bieten und um eine kulturelle Auflösung zu verhindern.
Im demokratischen autonomen Kurdistan sind die offiziellen Sprachen Kurdisch
und Türkisch. Darüber hinaus müssen der Gebrauch und die Förderung aller
in der Region gesprochen Sprachen (assyrisch, arabisch, armenisch etc.)
und Dialekte verfassungsrechtlich und gesetzlich garantiert werden. Die
Dienstleistungssprache ist Kurdisch; alle Ortschaften müssen ihre Originalnamen
zurückerhalten.
3.5- Soziale
Dimension
Mit Assimilation sollte die kurdische Gesellschaft von ihren Werten, ihrer
Geschichte und Kultur entfremdet werden. Mit Vertreibung, Arbeitslosigkeit
und Armut wurde versucht, Kurdistan zu entvölkern, die gesellschaftliche
und demographische Struktur zu verändern, und mit einem physischen und
kulturellen Genozid sollte die gesamte kurdische Existenz vernichtet werden.
Als eine Form spezieller Kriegsführung wurden insbesondere Frauen und
Jugendliche mit Sport-, Kunst- und sozialen Aktivitäten vom gesellschaftlichen
Kampf abzuhalten versucht. Durch die Verbreitung von Prostitution und
Drogen wurde der moralische Verfall gefördert. Um das kurdische Volk in
einem willenlosen, unorganisierten und kampflosen Zustand zu halten, wird
für jede soziale Gruppe eine eigene Politik verfolgt.
Die kurdischen Frauen sind nicht nur dem Staatsterror ausgesetzt, sondern
auch der auf Herrschaft basierenden Mentalität des gesellschaftlichen
Sexismus. Die Familie in einer sexistischen Gesellschaft entspricht in
ihrem Aufbau einem kleinen Staat des Mannes. Bei der Verurteilung der
Frau zur Sklaverei spielen diese Familienstrukturen eine wirksame Rolle.
In der bestehenden gesellschaftlichen Realität ist die Familie jedoch
keine gesellschaftliche Institution, die es zu überwinden gilt, sondern
die entsprechend unserer Sozialpolitik transformiert werden muss. Dafür
ist es notwendig, das aus der Hierarchie resultierende Besitzdenken in
Bezug auf Frauen und Kinder und die dieses Denken stützenden Gesetze zu
ändern. Der Bewusstseins- und Organisierungsgrad von Frauen spielt eine
Schlüsselrolle bei der Transformation von Familie und Gesellschaft in
Bereiche eines freien, gleichberechtigten und demokratischen Zusammenlebens.
Eine demokratische Gesellschaft bedarf einer von Sexismus befreiten Mentalität
und des freien Willens von Frauen; dieses wird im demokratischen autonomen
freien Kurdistan möglich sein.
Seit den ersten hierarchischen Strukturen wird bis heute eine Politik
fortgesetzt, mit der die Jugend in Abhängigkeit gehalten wird. Dabei geht
es um den Zusammenhang zwischen ideologischer Propaganda, dem Ersticken
in starren Dogmen und der Abhängigkeit von sexuellen Trieben; es geht
darum zu verhindern, dass sich die jugendliche Energie gegen das System
richtet, und die bestehende Ordnung aufrechtzuerhalten. Eine Organisierung
der Jugend dagegen gemäß den Prinzipien der Freiheit spielt beim Aufbau
einer demokratischen Gesellschaft eine grundlegende Rolle. Eine Jugend,
die nach Freiheit strebt, ist schwer aufzuhalten. Ebenso wie die Jugend
als gesellschaftliche Gruppierung dem herrschenden System die meisten
Probleme bereitet, spielt sie gleichzeitig eine Vorreiterrolle beim Neuaufbau
und der Verteidigung der Gesellschaft.
In keiner Klassengesellschaft kann es freie Arbeiter von privaten oder
kollektiven Eigentümern geben. Aus diesem Grund müssen sich Arbeiter,
Bauern, Beamte, Händler und andere Berufsgruppen organisieren und aktiv
am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.
Trotz der Bemühungen, sie der Unterdrückung oder der Vernichtung zu unterwerfen,
bilden die unterdrückten, ausgebeuteten Volksgruppen, Frauen, Jugendlichen,
Dorfbewohner und Landarbeiter, Arbeitslosen, Migranten, die vielen religiösen
Gemeinschaften und Konfessionen, kleinen Gruppen und Gemeinschaften, die
von ihrer Arbeit leben, die Hauptpfeiler der historischen Gesellschaft
und die Mehrheit der Gesellschaft. All diese gesellschaftlichen Gruppen
sind Teil der sozialen Dimension und sie haben die Besonderheit, das gesellschaftliche
Leben auf freier und demokratischer Grundlage anzuführen. In der demokratischen
Gesellschaft, die in moderner Form die ethische und politische Gesellschaft
darstellt, finden alle Unterschiedlichkeiten ihren Platz. Jede gesellschaftliche
Gruppe muss ihre eigene Kultur, Identität und Organisiertheit innerhalb
dieser Vielfalt ausleben können.
Im demokratischen autonomen Kurdistan wird sich die Neugründung der Gesellschaft
mit der freien Organisierung und Ausdrucksmöglichkeit jeder gesellschaftlichen
Gruppierung, insbesondere der Frauen und der Jugend, außerdem Arbeits-,
Bildungs-, Gesundheits- und Hilfsorganisationen in jedem Siedlungsgebiet
verwirklichen. Die soziale Dimension des demokratischen autonomen Kurdistans
hat, als Grundlage für die Realisierung der anderen Dimensionen, das Potential
für Diskussionen, Beschlussfassungen, Neustrukturierung und Aktivierung.
Im demokratischen autonomen Kurdistan sind Frauen und Jugend die Führungskraft
in der demokratischen konföderalen Organisierungsform. In allen Organisierungsbereichen
und im gesellschaftlichen Leben spielen Frauen eine Vorreiterrolle. Einhergehend
mit dem Kampf gegen den gesellschaftlichen Sexismus müssen Beziehungen
zwischen Familie, Gesellschaft und Individuum entsprechend den Prinzipien
eines gleichen, freien und demokratischen Lebens aufgebaut werden. Die
Jugend wird mit ihrer Dynamik, ihrer Energie und ihrer Führungsfunktion
bei der Veränderung der Gesellschaft eine grundlegende Rolle beim Neuaufbau
der Gesellschaft und ihrer Verteidigung spielen. Für Kinder müssen Bedingungen
geschaffen werden, unter denen ihre geistige und physische Erziehung erfolgen
kann und sie sich frei entwickeln können. Im Rahmen der universellen Kinderrechte
müssen die Ausbeutung von Kindern auf dem Arbeitsmarkt und ihr sexueller
Missbrauch als Straftat gelten und bekämpft werden.
3.6- Wirtschaftliche
Dimension
Kurdistan, die Region der historisch ersten Gesellschaftsformationen,
der neolithischen Dorfrevolution, ist heute zu einem Landstrich geworden,
dessen Bewohner aufgrund von Hunger und Armut in alle Welt zerstreut wurden.
Kurdistan, in den heiligen Büchern als reiches Paradies bezeichnet, ist
aufgrund militärischer Besatzung, politischer und wirtschaftlicher Kolonialisierung
durch äußere Mächte in diesen Zustand geraten.
Die über die Kurden Herrschenden haben deren Wirtschaftsleben über bloße
koloniale Ausbeutung hinaus auf genozidalem Niveau zerstört. Daraus resultieren
Armut und Hunger in dieser Gesellschaft; die Menschen sind zu Bedürftigen
geworden, die mit hingeworfenen Brocken abhängig gemacht werden. Es ist
einfach, die Herrschaft über Menschen aufrechtzuerhalten, deren Willen
auf diese Weise gebrochen worden ist. Menschen, die von anderen abhängig
gemacht worden sind, nur um ihren Hunger zu stillen, können nicht für
den Aufbau eines wirklich freien und demokratischen Lebens kämpfen.
Da der Aufbau einer Ökonomie die wichtigste Dimension der ethisch-politischen
Gesellschaft ist, ist es beim Aufbau der demokratischen Autonomie der
ökonomische Bereich, in dem zuerst Bewegung entsteht und auf der Grundlage
der Schaffung einer Wirtschaft der Gemeinschaften Arbeitslosigkeit und
Armut beseitigt werden.
Keine Gesellschaft und kein politisches und soziales System können ohne
die Realisierung eines eigenen Wirtschaftsmodells existieren. Auch die
demokratische Autonomie muss ihr eigenes Wirtschaftsmodell entwickeln
und somit ein freies und demokratisches Lebenssystem der Kurden in bleibender
Form institutionalisieren. Wenn die demokratische Autonomie der Körper
der demokratischen Nation ist, muss zunächst ein Wirtschaftssystem geschaffen
werden.
Die ökonomischen Probleme sind entstanden, als die Gesellschaft aufgehört
hat, eine Gesellschaft zu sein. Beweis dafür ist, dass die schwersten
Wirtschaftskrisen aus dem Kapitalismus resultieren, einem Krebsgeschwür
für die Gesellschaft. Abdullah Öcalan sagt dazu: „Kapitalismus ist nicht
gleich Wirtschaft, sondern steht in Gegnerschaft zur Ökonomie.“ Im heutigen
kapitalistischen System ist der Sektor am wichtigsten geworden, in dem
ohne jegliche Produktion Geld aus Geld gemacht wird.
Im Verlauf der Geschichte entstanden soziale und ökonomische Probleme
mit der Herrschaft des Mannes über die Frau. Einhergehend mit der Entstehung
von Klassen, der Urbanisierung und den ersten Staatsgründungen wurde die
Gesellschaft mit schweren Problemen konfrontiert. Ökonomie erfordert Gesellschaftlichkeit
und Demokratie. Eine Ökonomie, die die Bedürfnisse einer Gesellschaft
befriedigt, ist nur mit einer demokratischen Gesellschaft möglich. In
dieser Hinsicht ist eine demokratische Gesellschaft gleichzeitig eine
ökonomische. Wirtschaft ist kein technisches Problem des Unterbaus, sondern
eine Aktivität, die über die Meinung, Diskussion, Entscheidung und organisierte
Aktion der Gesamtgesellschaft funktioniert. Die Loslösung des Menschen
von der Ökonomie ist die Basis jeglicher Entfremdung. Das muss verhindert
werden und der einzige Weg dahin führt über die Aneignung der Ökonomie
durch alle Gemeinschaften.
Während eigentlich ein gesellschaftlicher Zustand höchstmöglicher wirtschaftlicher
und sozialer Entwicklung erreicht werden müsste, zeigt der große ökonomische
Zusammenbruch und die Konfrontation mit einem ökonomischen Genozid, wie
lebenswichtig es ist, dass die Gesellschaft Kurdistans auf der Grundlage
einer demokratischen Autonomie ein freies und demokratisches Leben realisiert
und somit zu einer ökonomischen Gesellschaft wird. Wenn auf der Basis
einer antimonopolistischen Ökonomie der Gemeinschaften eine neue ökonomische
Gesellschaft entsteht, wird damit gewährleistet werden, dass der Reichtum
Kurdistans nicht nur dem kurdischen Volk, sondern allen Völkern der Region
zugutekommt.
Es muss ein antimonopolistisches, gleichberechtigtes Wirtschaftssystem
geschaffen werden, in dem jeder seine eigene Arbeit macht, der Beschäftigung
von Frauen Vorrang gegeben wird, nicht auf den höchsten Profit, sondern
auf den Gebrauchswert geachtet wird und das Prinzip der Solidarität gilt.
Das Recht auf Nutzung und Verbrauch der wirtschaftlichen Ressourcen muss
dem demokratischen autonomen Kurdistan zustehen.
3.7- Ökologische
Dimension
Wie auch bei der Krise des gesellschaftlichen Systems müssen die Wurzeln
der sich zunehmend verschärfenden ökologischen Krise am Beginn der Zivilisation
gesucht werden. Die Ignoranz der hierarchischen und staatlichen Kräfte
gegenüber der kommunalen Bindung, die eine Gesellschaft ausmacht, sowie
die anstelle dieser Bindung als Perversion entstandene Mentalität haben
dazu geführt, dass die Verbindung zwischen Natur und Leben vergessen und
unwichtig wurde. Jeder zivilisatorische Aufschwung auf dieser Grundlage
führte zu einer weiteren Entfremdung von der Natur, zur Umweltzerstörung
und zunehmend zu einer Welt, in der das Leben unmöglich gemacht wird.
In der heutigen Zeit sind die gesellschaftliche und die ökologische Krise
nicht voneinander zu trennen. Die Entwicklung zeigt ein Streben nach höchstem
Profit, wobei eine Kalkulation, wie viel Städte, Menschen, Fabriken, Verkehrsmittel,
synthetische Stoffe, verschmutzte Luft und Wasser unser Planet ertragen
kann, nicht angestellt wird. Städte, die wachsen wie Krebsgeschwüre, verschmutzte
Luft, Ozonloch, Aussterben von Tier- und Pflanzenarten, Abholzung der
Wälder, Verschmutzung fließender Gewässer, Müllberge, Bevölkerungsexplosion
etc. führen in der Natur zu irreparablen Katastrophen.
Ein nicht mit der Natur harmonierendes Gesellschaftssystem kann auch nicht
Ethik und Demokratie verteidigen. Der Zusammenhang zwischen dem Chaos
des kapitalistischen Gesellschaftssystems und der Umweltkatastrophe ist
dialektisch. Die Bilanz des auf Extremprofiten und antiökologischem Industrialismus
basierenden Profit- und Kapitalsystems weist nicht nur eine allgemeine
gesellschaftliche Degeneration auf (fehlende Ethik und Politik, Arbeitslosigkeit,
Inflation, Prostitution etc.), sondern ebenso auf die Gefahr hin, in der
die Umwelt mit allen Lebewesen schwebt. Angesichts dieser Realität zeigt
sich noch eindeutiger, wie sehr der Monopolismus sich gegen die Gesellschaft
richtet. Eine ökologische Gesellschaft erfordert auch einen ethischen
Wandel. Das Fehlen einer Ethik des Kapitalismus kann nur mit einer ökologischen
Herangehensweise überwunden werden. Eine solche ist allerdings nur von
Wert, wenn sie mit einer vollständigen ökologischen Ausstattung Bedeutung
erlangt. Es liegt in der Natur der Sache, dass ausschließliche Umweltbewegungen
nicht viel zu einer Lösung beitragen können.
Die praktischen Fragen eines ökologischen Lebens sind weltweit und auch
in unserem Land brandaktuell. Die aus militärischen, politischen und wirtschaftlichen
Motiven in Kurdistan stattfindende ökologische Zerstörung hat dem Land
und den gesellschaftlichen Strukturen ernsthafte Schäden zugefügt. Dörfer
und Wälder wurden niedergebrannt, Siedlungen zerstört, historische Kulturgüter
und fruchtbare Böden aufgrund von Bebauungsplänen und durch Staudammprojekte
überflutet. Anderen fruchtbaren Landstrichen wiederum wurde die Wasserzufuhr
abgeschnitten und sie sind zu Wüsten geworden. Tausende Hektar landwirtschaftlicher
Flächen wurden vermint und damit unzugänglich gemacht. Hochalmen wurden
zu militärischem Sperrgebiet erklärt und damit die Viehzucht zum Erliegen
gebracht. In Kurdistan gibt es auch Giftmülldeponien. All diese Maßnahmen
haben zu einer Veränderung des Klimas und der Flora und Fauna in Kurdistan
geführt. Diesen Angriffen kann nur mit einer ökologischen Revolution begegnet
werden. Die ökologische Zerstörung bleibt auch nicht auf eine bestimmte
Gegend beschränkt, sondern wirkt sich auf die gesamte Welt aus.
Ökologisches Bewusstsein ist von der Liebe zur Heimat und zur gesamten
Welt geprägt. Für eine gesunde Umwelt und ein gesundes soziales Leben
muss in der Gesellschaft ein Bewusstsein entstehen und müssen Eilmaßnahmen
getroffen werden; dafür ist ein aktiver Kampf erforderlich – gegen die
das ökologische Gleichgewicht zerstörende Urbanisierung und den Bau von
Staudämmen, mit denen Flora und Fauna verändert und historische Stätten
unter Wasser gesetzt werden und somit auch das kollektive Gedächtnis der
kurdischen Gesellschaft verschwindet.
3.8- Diplomatische
Dimension
Diplomatie bezeichnet im Allgemeinen Aktivitäten von Völkern, Gemeinschaften,
Gruppen und Staaten entsprechend ihrer Interessen. Die Diplomatie gemäß
der Mentalität der Moderne und des Nationalstaates baut vollständig auf
Stärke auf. Die Diplomatie des Nationalstaates bildet mit anderen Staaten,
die über Außenmonopole verfügen, eine Koordination, um die Angelegenheiten
des weltweiten Systems der Nationalstaaten zu verfolgen. Ohne die externe
Anerkennung von Nationalstaaten kann kein Nationalstaat bestehen. Das
liegt in der Logik dieses weltweiten Systems. Ohne das Einverständnis
der Völker kann kein Nationalstaat dauerhaft existieren.
Das Paradigma der demokratischen Moderne hingegen versteht die diplomatische
Dimension des demokratischen autonomen freien Kurdistans als gegenseitige
Solidarität und basierend auf gemeinsamen Interessen der Völker, Gruppen
und Gemeinschaften.
Bei der Betrachtung der historischen und gesellschaftlichen Besonderheiten
der Kurdistan-Frage einhergehend mit der territorialen Vierteilung wird
deutlich, welche wichtigen Resultate eine noch zu entwickelnde Diplomatie
für die Nachbarländer und -gemeinschaften sowie für die anderen kurdischen
Landesteile bringen wird.
Die Diplomatie des demokratischen autonomen Kurdistans muss Frieden, Geschwisterlichkeit,
ökonomischen Aufschwung und steigenden Lebensstandard fördern. Sie muss
in gegenseitiger Solidarität und im Vertrauen mit Völkern ohne auf den
Staat zu setzen handeln, mit Völkern, Gruppen und Gemeinschaften, die
für Demokratie und Freiheit kämpfen. Sie muss die Interessen des kurdischen
Volkes verfolgen und die Rechte der in der Diaspora und den Metropolen
lebenden Kurden.
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