Die Lösung der kurdischen Frage durch eine demokratischen Verfassung

Bei den Gesprächen Öcalans mit seinen AnwältInnen am 15. Juni 2011 auf der Gefängnisinsel Imralı nahm Abdullah Öcalan auf die neue Situation in der Türkei nach den Parlamentswahlen Stellung:
„Aus diesen Gründen sehen wir den revolutionären Volkskrieg oder den Krieg mittlerer Intensität als nicht geeignet an. Wir nehmen stattdessen die Lösung der kurdischen Frage in der Türkei im Rahmen einer demokratischen Verfassung wahr.“ Außerdem fordert er: „Das Parlament muss sich auf der Stelle versammeln. Damit ich meine Rolle in diesen Lösungsprozessen wahrnehmen kann, muss mich das Parlament einbeziehen. Wenn dies geschieht, kann ich mich dafür einsetzen, dass sich die bewaffneten Kräfte in kampffreie Gebiete zurückziehen. Ich werde mich auch in Bezug auf andere Punkte zur Verfügung stellen können. Das Parlament muss mir dafür die Kompetenzen einräumen.“

Der Vorstand des Exekutivrats der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistan (KCK) erläuterte darauf am 20. Juni 2011 in folgender Erklärung ihre Position:


An unser Volk und die Öffentlichkeit!
Die Ergebnisse der Wahlen in der Türkei vom 12. Juni haben der Lösung der kurdischen Frage auf politisch-demokratischem Wege Türen geöffnet. Die Tatsache, dass der „Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit“ trotz aller Hindernisse einen Erfolg feiern konnte, die AKP fast 50 % der Stimmen erhalten hat und die CHP in der Wahlkampfphase einige positive Signale abgegeben hat, stärken die Hoffnung, dass diese Phase einen Neuanfang in Richtung der verfassungsrechtlichen Lösung der dringenden Fragen der Türkei darstellen könnte.
Verbreitet hieß es, dass dem neu zusammengesetzten türkischen Parlament die Rolle eines Gründungsparlamentes zukomme, welches die Aufgabe der Demokratisierung der Türkei durch eine neue zivile Verfassung habe. Damit diese Phase einer verfassungsrechtlichen Lösung positiv ablaufen kann, müssen sowohl die Militäroperationen ein Ende finden als auch die Grundlage dafür geschaffen werden, dass alle Kreise sich in einen demokratischen Diskussionsprozess über die neue Verfassung einbringen können.
Unser Vorsitzender Abdullah Öcalan hat über seine Anwälte am 15. Juni verlautbaren lassen, dass die Gegebenheiten für eine demokratische verfassungsrechtliche Lösung besser denn je seien. Allerdings hat er zusätzlich erklärt, dass die militärischen Auseinandersetzungen hierfür ein Ende finden müssten. Außerdem könne das türkische Parlament für einen fortdauernden Frieden einen Aufruf an seine Person tätigen, um die Bedingungen zu schaffen, damit er seiner Rolle gerecht werden kann.
Die Bewertungen unseres Vorsitzenden sind richtig und seine Forderungen passend. Wir als Bewegung werden diese Aufrufe bewerten und unserer Verantwortung gerecht werden. Allerdings wissen unser Volk und die Öffentlichkeit, dass wir seit 1993 vielfach durch einseitige Waffenstillstände versucht haben, friedliche Initiativen zu ergreifen, diese allerdings keinen beständigen Erfolg gebracht haben. Zuletzt haben wir unsere Phase der Aktionslosigkeit am 13. August 2010 erklärt und diese bis zum 15. Juni 2011 aufrechterhalten. Allerdings haben weder unsere einseitigen Bemühungen noch die Bemühungen unseres Vorsitzenden, der trotz seiner Isolierung fortwährend Lösungsprojekte entwirft und der Öffentlichkeit mitteilt, den demokratischen Lösungsprozess zu einem Erfolg führen können.
Dadurch, dass Regierung und Militär nicht die notwendige Haltung eingenommen haben, sind die einseitigen Waffenruhen und die Lösungsinitiativen unterschiedlicher Kreise erfolglos geblieben. Wenn auch dieses Mal die türkische Öffentlichkeit die Augen verschließen und der türkische Staat an seiner bisherigen Politik festhalten sollte und wenn Militär und Polizei ihre Operationen fortsetzen sollten, dann werden unsere einseitigen Bemühungen für eine demokratische Lösung kaum zu einem Erfolg führen können.

Aufgrund dessen müssen für die Stärkung der Phase einer demokratischen verfassungsrechtlichen Lösung ohne parallele militärische Auseinandersetzungen folgende zwei Punkte ohne Verzögerung umgesetzt werden:
1. Das türkische Parlament muss in seiner neuen Legislaturperiode für die Lösung des grundlegendsten Problems des Landes, der kurdischen Frage, einen Aufruf an Abdullah Öcalan richten und seine Lebensumstände derart verbessern, dass er seiner Rolle gerecht werden kann.
2. Der Regierungschef der Türkei oder eine andere Person in ähnlicher Position muss erklären, für die Lösung der kurdischen Frage nicht Zerstörung und Mord zur Grundlage zu nehmen, sondern den Dialog und friedliche Mittel. Auf dieser Basis muss der Öffentlichkeit mitgeteilt werden, dass zur Stärkung des Lösungsprozesses alle Operationen des Militärs und der Polizei ein Ende finden.
Wenn der Staat und die neue Regierung einen solchen Vertrauen schaffenden Schritt tun, wird der Weg zu einem andauernden Frieden und einer demokratischen Lösung auf Grundlage einer neuen Verfassung an Bedeutung gewinnen. Im gegenteiligen Fall, wenn uns also die Militäroperationen und unsere Eliminierung weiterhin aufgedrängt werden, wird es wenig Sinn machen, die einseitige Waffenruhe aufrechtzuerhalten. Für die Entwicklung einer ernsthaften und fortdauernden friedlichen Phase ist ein beidseitiger Waffenstillstand unabdingbar. Wenn in dieser Phase keine Lösungen erzielt werden, ist es nicht gerechtfertigt, von unserer Seite in Zukunft ein weiteres Mal eine solche einseitige Opferbereitschaft zu erwarten. Auch wird es fortan nicht mehr möglich sein, einen Zustand der Ungewissheit und Lösungslosigkeit langfristig aufrechtzuerhalten. Die Konsequenzen daraus, dass das kurdische Volk trotz seines unter Beweis gestellten guten Willens hingehalten und eliminiert werden soll, werden Regierung und Staat tragen müssen. Denn das kurdische Volk ist in unserer heutigen Zeit auch dazu in der Lage, seine eigene Lösung auf Grundlage seines eigenen Willens zu entwickeln. Aus dieser Sicht des Staates ist es für die Zukunft der Türkei elementar, diese Phase richtig zu analysieren und den Willen zu einer demokratischen Lösung an den Tag zu legen. Dass die Verleugnungs- und Vernichtungspolitik gegenüber Kurdistan versagt hat, ist augenscheinlich. Daher macht es keinen Sinn, diese Politik mit anderen Mitteln fortführen zu wollen.
Die Ergebnisse der Wahlen vom 12. Juni sind gleichbedeutend damit, dass das Volk Kurdistans für eine friedliche demokratische Lösung und die Demokratische Autonomie steht. Diese Tatsache muss jeder respektieren und auf dieser Grundlage Lösungsperspektiven entwickeln. Das kurdische Volk hat erstmals in seiner Geschichte solch eine tiefgreifende Einheit in seinen Reihen entwickelt. Gleichzeitig hat es die gegenseitige Solidarität mit weiteren linken, sozialistischen und demokratischen Kreisen der Türkei bedeutend gestärkt.
Auch wenn das nicht ausreichend ist, so hat der „Block für Arbeit, Demokratie und Freiheit“, mit der Wahlbestätigung der kurdischen Bevölkerung, mit dem Ziel einer demokratischen Nation, doch eine wichtige Perspektive für eine demokratische Republik und Autonomie erarbeiten können. Dies ist eine neue und wichtige Situation, die den Horizont der Türkei öffnen wird.
Diese Tatsache ist ein ernsthafter Punkt bei der Entwicklung der Lösungsprozesse in Anbetracht der demokratischen Gesellschaft und des Staates. Die brenzligen Entwicklungen im Mittleren Osten drängen nach einer demokratischen Nation und einer demokratischen Republik in der Türkei. Mit diesem Ansatz können die türkische Wirtschaft und Politik erkennbar zu einem Fortschritt bewegt werden. Mit der gemeinsamen Beteiligung der Bevölkerung, in Solidarität und Geschwisterlichkeit, mit der Partizipation aller sozialen Schichten, der Entwicklung eines zukunftsorientierten demokratischen Zentrums in der Region und einer gefestigten Legitimation in der Verfassung wird eine neue, fortschrittliche Türkei entstehen. Die demokratischen Kräfte und das kurdische Volk haben mit ihren vereinten Bemühungen die Bedingungen dafür bereits geschaffen.
Als Bewegung möchten wir unsere Entschlossenheit bekunden, dass wir die Wege zu einem kampflosen und historischen Friedensprozess und der Öffnung zu einer Lösung im Rahmen einer demokratischen Verfassung, auf Basis der Friedens- und Demokratiebestrebungen unseres Volkes, unterstützen werden, sofern auch Staat und Regierung die nötigen Schritte unternehmen sollten.
Wir rufen unser Volk und alle demokratischen Kräfte, die auf der Seite des Friedens stehen, auf, sich ihrer bedeutenden Rolle in dieser kritischen und historischen Phase für einen bleibenden Frieden bewusst zu sein und den Fortschritt zu einer demokratischen Lösung mitzutragen als auch zu stärken.

20.06.2011
Der Vorstand des Exekutivrats der KCK