Erster Bericht der Menschenrechtsdelegation aus Hamburg und Stuttgart Gentrifizierung und Vertreibungspolitik in Istanbul Seit der Wiederwahl der AKP Regierung im Juni 2011 hat sich die Stimmung in der Türkei und in den kurdischen Provinzen des Landes negativ verändert. In Istanbul erzählen uns Menschen von einem rabiaten Gentrifizierungsprogramm in den Stadteilen rund um den Taksimplatz. Die kurdische Bevölkerung sowie Sinti und Roma werden hier seit gut drei Jahren systematisch vertrieben. Mafiaähnliche Methoden sind dabei an der Tagesordnung. Baulöwen schicken Schlägertrupps, die Menschen bedrohen, wenn sie sich weigern ohne oder gegen geringe Entschädigung ihre Wohnungen zu verlassen. Das Recht, nach der Sanierung zurückzukehren, erhalten die Betroffenen nicht. Seit der Wahl dürfen auch die unzähligen Straßencafes und Musikkneipen in Taksim und Beyoglu ihre Stühle und Tische nach zehn Uhr nicht mehr auf die Straße stellen. In Wildwestmanier ziehen Horden von Polizeibeamten, in zivil und sichtbar bewaffnet sowie in Uniform durch die Straßen und versuchen, das Geschehen zu kontrollieren. Das freie und unbeschwerte Nachtleben der Gegend rund um den Taksim, mit seiner ausgeprägten emanzipatorischen und subkulturellen Musik-, Kunst- und Theaterkultur scheint der AKP ein Dorn im Auge zu sein. Wir erfahren, dass die Polizisten die CafebesitzerInnen oft bedrohen und die Lokalitäten zudem immer öfter selbst in Uniform besuchen. Überall, selbst in den Nebenstraßen der Hauptstraße Istiklar Caddesi wurden Videokameras installiert. Eine Gruppe von kurdischen StudentInnen, die Straßenmusik macht, hat eine große und positive Resonanz. Nach kurzer Zeit tauchen Zivilpolizisten auf und machen Portraitaufnahmen sämtlicher ZuschauerInnen und den MusikerInnen. Gemeinsam werden sie geoutet und entfernen sich nach einer Diskussion. Menschen die eine etwas dunklere Haut haben oder kurdisch aussehen sind darüber hinaus häufig mit rassistischen Polizeiübergriffen bei beliebigen Personalkontrollen konfrontiert. Die „Sicherheitskräfte“ beschimpfen sie dabei wegen ihrer kurdischen oder armenischen Herkunft. Sie „sollten nach Hause gehen“ wird verlangt. Wenn die Menschen kurdische Insignien tragen kommt es öfter vor, dass sie von Polizisten misshandelt werden. Dadurch entstand in den letzten drei Monaten bei vielen Menschen eine Atmosphäre der Angst und der Wut gegen die Unterdrückungspraxis. Es wird mittlerweile nicht mehr „lediglich“ gegen tausende AktivistInnen - 3500 KurdInnen wurden im Rahmen der KCK Prozesse inhaftiert - sondern gegen die gesamte kurdische Bevölkerung repressiv vorgegangen. Das die AKP ihre Repression vom militärischen zunehmend ins polizeistaatliche verlagert ist unübersehbar. In Zusammenhang mit der Drohung aus AKP Kreisen, eine tamilische Lösung der kurdischen Frage anzustreben, und den vermehrten Lynchversuchen durch Nationalisten im Westen der Türkei haben viele Kurdinnen berechtigte Befürchtungen vor systematischen Progromen und der Vertreibung aus ihrer Inlandsmigration. Auch die völkerrechtswidrigen Militäroperationen im Nordirak durch die türkische und iranische Armee sind Teil dieser zunehmend rücksichtslosen Vertreibungs- und Vernichtungspolitik der AKP gegen die kurdische Bevölkerung. Trauer und Hoffnung in Van In der Metropole Van hat sich die Atmosphäre seit den Parlamentswahlen deutlich verändert. Auf den Straßen ist eine ruhige, sehr vorsichtige und angespannte Stimmung wahrzunehmen. Vor einer Woche wurde der Stadtrat von Van Yildirim Ayhan (BDP) von Soldaten ermordet. Er hatte an einer Friedenskundgebung der hauptsächlich von den Friedensmüttern getragenen „Lebenden Schutzschilde“ in Hakkari/Cukurca teilgenommen. Soldaten schossen in deren Verlauf gezielt mit Tränengasgranaten und scharfer Munition auf die friedlich in einer Sitzblockade verharrenden KundgebungsteilnehmerInnen. Sie zielten auf eine Gruppe, in der sich die Parlamentarierin der BDP Aysel Tugluk und mehrere Mitglieder der Kommunalverwaltung der BDP befanden. Eines der unzähligen Geschosse traf Yildirim Ayhan in der Brust und durchbohrte ihn bis zur Wirbelsäule. Nach wenigen Minuten starb er an seinen Verletzungen. Bereits seit 2009 schießen „Sicherheitskräfte“ immer wieder gezielt mit Tränengasgranaten auf Protestierende. Mehrere Menschen starben dabei, viele wurden verletzt. Erst kurz nach den Wahlen 2011 verbrachten zwei neu gewählte BDP Abgeordnete aus Istanbul aufgrund einer derartigen Verletzung eine Nacht im Krankenhaus. In Sirnak wurde zur gleichen Zeit eine 54 jährige auf diese Art umgebracht. Die Angehörigen, die Stadtverwaltung und die Bevölkerung trauern um Yildirim Ayhan, einen Menschen der sich mit all seiner Kraft für den Frieden und eine an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Kommunalpolitik eingesetzt hat. Yildirim Ayhan war von mehr als 25000 WählerInnen in den Stadtrat gewählt worden. Die gezielten Angriffe auf die kurdischen VetreterInnen sind nicht hinnehmbar und ein Aspekt einer menschenverachtenden Besatzungspolitik. Der Gouverneur von Van beschuldigte wahrheitswidrig die „Lebenden Schutzschilde“ Steine geworfen zu haben, anstatt sich bei den Verwandten zu entschuldigen und die Praxis des Tränengasgranatenschießens auf Menschen zu ändern. Ein solches Verhalten ist menschenverachtend und zynisch. R.T. Erdogan hatte angekündigt nach dem Ramadanfest hart gegen die kurdische Bewegung vorzugehen. Dabei wird auch vor politisch motiviertem Mord und ausgedehnten und systematischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung nicht zurückgeschreckt. Selbstorganisierung und Autonomie Das Projekt der demokratischen
Autonomie wird von der kurdischen Bewegung immer weitergehend umgesetzt.
Im Rahmen der Organisierung in Stadtteilräten wird u.a die konkrete Politikgestaltung
anhand der Bedürfnisse der Menschen diskutiert und entwickelt. Durch eine
derart basisdemokratische Rückbindung nimmt die Bevölkerung direkt an
der Entwicklung Die Verantwortlichen, die wir treffen, sind in der Mehrzahl Frauen. Das Gespräch ist dynamisch und kraftvoll. Unsere GesprächspartnerInnen sind neben der Beschreibung ihrer Arbeit sehr interessiert an den Entwicklungen in Europa. Uns wird jedoch auch erzählt, dass in Van in letzter Zeit ein großes Problem ist, dass nicht organisierte Frauen aufgrund ihrer auswegslosen Situation durch Armut und feudalistische Unterdrückung immer häufiger Selbstmord begehen. Insgesamt wird deutlich, dass der sich hier entwickelnde sozialistische und basisorientierte Ansatz eine große Schönheit und Kraft besitzt, realistische Problem- und Konfliktlösungsansätze voranbringt und in der Bevölkerung flächendeckend verwurzelt ist. Das ist auch einer der Gründe, warum die Herrschenden in der Türkei und Europa die kurdische Bewegung als Bedrohung wahrnehmen und ihre politischen VertreterInnen kriminalisieren. Die Mainstreammedien sind zurzeit wieder gleichgeschaltet. Gegenüber der kurdischen Bewegung wird eine bewusste Diffamierung inszeniert. Festgeschieben werden soll so, dass jegliches Engagement für Selbstbestimmung, Menschenrechte und einen dialogischen Friedensprozess terroristisch ist. Wir erfahren, dass Diejenigen die sich kritisch äußern oder Unrecht publik machen erneut immer häufiger verhaftet werden. Eine selbstbewusste, gut organisierte Bewegung könnte ein Motivationsbeispiel für die Aufständischen im umkämpften Mittleren Osten oder auch für Widerstand in Europa sein. Das ist nicht gewollt. Die Politik der Regierungen in der Türkei und Europa ist hauptsächlich an geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen orientiert. Es geht es um die Sicherung der eigenen Machtpositionen sowie der Ressourcen Öl, Gas und Erze. Auch die ungehemmte Öffnung neuer Märkte ist beabsichtigt. Die Praktiken des schmutzigen Krieges nehmen in diesem Rahmen, ähnlich wie in den neunziger Jahren erneut zu. Trotz der Repression und zunehmender Menschenrechts- und Völkerrechtsverletzungen bishin zur angestrebten Vernichtung, lassen sich die KurdInnen nicht davon abbringen, weiterhin gegen systematisches Unrecht und Tyrannei zu kämpfen. Kultur, Kunst und politische Aktion werden genutzt um Traumata aufzuarbeiten und die durch die Regierungspolitik angestrebte Ohnmacht nicht entstehen zu lassen. Britta Eder, Rechtsanwältin
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