4. Bericht der Delegation

Einschüchterungsversuch

In der Nacht auf den 21.09.2011 zwangen Zivilpolizisten die beiden Mitglieder unserer erweiterten Menschenrechtsdelegation Martin Glasenapp (medico international) und Martin Dolzer (Soziologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der MdB Heidrun Dittrich) zu einem Verhör auf die Hauptpolizeiwache (Emniyet) in Van. Am 20.09.2011 hatten sich die Betroffenen bei einer Pressekonferenz für einen Friedensdialog unter Einbeziehung sämtlicher Akteure einschließlich A. Öcalan und der PKK in der Türkei ausgesprochen und die erneut zunehmenden Menschenrechtsverletzungen sowie Kriegsverbrechen in der Türkei thematisiert.

Ihre menschenrechtliche Arbeit und freie Meinungsäußerungen wurden als vermeintliche Propaganda für eine terroristische Vereinigung kriminalisiert. Dies zeigt, dass die Türkei ein starkes Demokratieproblem hat. Friedens- und menschenrechtliches Engagement in die Nähe von Terror zu rücken, verhindert die kurdische Frage politisch zu lösen. Die Terrorzuschreibung wird benötigt um eine funktionierende, sozialistische Bewegung und die demokratische Organisierung der KurdInnen in einer ressourcenreichen Region zu verhindern. Aufgrund ökonomischer Interessen - es geht um die Absicherung von Öl, Gas und u.a. der Nabuccopipeline sowie die Öffnung neuer Märkte - soll der türkisch-kurdische Konflikt nicht als das gewertet werden können was er völkerrechtlich betrachtet ist - ein bewaffneter internationaler Konflikt - ein Krieg. Zudem geht es um die Neuordnung des Mittleren Ostens.

In diesem Zusammenhang ist es völlig unerträglich, dass von regierungsnahen Medien immer wieder eine 'tamilische Lösung' ins Spiel gebracht wird.

Wir verurteilen die Festnahme und die Verhöre von MenschenrechtlerInnen und PolitikerInnen in der Türkei scharf. Seit Beginn unserer Delegation wurden erneut mehr als 360 AktivistInnen aus den Reihen der Demokratischen Friedenspartei BDP festgenommen.

Das davon nun, wenn auch in einer weitaus weniger existenziellen Form, internationale MenschenrechtlerInnen betroffen sind, verdeutlicht dass jedes Benennen von menschenrechtswidrigen Praktiken des türkischen Staates verhindert werden soll.

Ein sofortiger Waffenstillstand und ein Dialog mit sämtlichen beteiligten Akteuren ist die einzige Möglichkeit, eine friedliche Lösung der kurdischen Frage anzustoßen.

Die Festnahmesituation

In der Nacht vom 20.09.2011 auf den 21.09.2011 kamen zehn Zivilpolizisten um ca. 1 Uhr in unser Hotel in Van. Wir hatten Recherchearbeiten in der Provinz Van und in Hakkari/Semdinli betrieben und eine Anzeige im Fall der 1998 gefolterten und ermordeten deutschen Guerilla Andrea Wolf / Ronahi bei der Staatsanwaltschaft in Catak eingereicht.

Die Polizisten zwangen die beiden Mitglieder der Delegation Martin Glasenapp (medico international) und Martin Dolzer (Soziologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der MdB Heidrun Dittrich) zu einem Verhör auf die Hauptpolizeiwache (Emniyet) in Van. Bereits im Hotel wurden sämtliche Beteiligten gefilmt und teilweise beschimpft. Die Verhöre dauerten bis 7 Uhr Morgens. Die Staatsanwaltschaft Van hatte diese Maßnahme mit der Begründung der „Propaganda für eine terroristische Vereinigung“ angeordnet.

Den betroffenen wurde angedroht, mindestens weitere 24 Stunden in Haft bleiben zu müssen, wenn sie von Ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen und Ihre Aussage nicht unterschreiben würden. Sie wurden von den Polizisten als sie Unterschriften verweigern wollten und die Telefonnummer der Polizeiwache zur Weitergabe an die Botschaft einforderten angeschrieen. Die Verhöre fanden unter Schlafentzug statt.

Bei Festnahmen von kurdischen Aktivisten kommt es dagegen oft zu Folter und monatelanger, unbegründeter U-Haft – mehr als 3900 Menschen sind derzeit in Zusammenhang mit den KCK Verfahren inhaftiert. Auch ihnen wird wegen freien Meinungsäußerungen „Propaganda oder Unterstützung einer Terroristischen Vereinigung vorgeworfen. Das ist unerträglich und wirkt jeder möglichen friedlichen Lösung der kurdischen Frage entgegen.

Besuch von Sammelgräbern in Bitlis Mutki

Am 21.09. besuchten wir drei Sammelgräber in der Nähe der Stadt Mutki in der Provinz Bitlis. In einem der Gräber liegen 9 StudentInnen, die 1999 extralegal hingerichtet wurden.

Wenige Meter entfernt davon befindet sich auf einer Müllkippe ein Sammelgrab von mindestens 6 Guerillas, darunter zwei Frauen, die im Jahr 1993 nach ihrer Festnahme ermordet wurden. Selbst nach dem bekannt werden des Leichenfundes wird weiterhin Müll auf diese Stelle gekippt. Das ist zynisch. Eine derartig unwürdige Praxis muss sofort beendet werden.

In einem weiteren Sammelgrab, etwa 400 Meter von dieser Stelle entfernt ist ein weiteres Sammelgrab in dem sich mindestens zwölf Guerillas befinden, die zum Teil ebenfalls erst nach ihrer Festnahme ermordet wurden. Für diese Vorkommnisse gibt es Augenzeugen.

In der Provinz Bitlis sind mittlerweile 300 Sammelgräber aus den 1990er Jahren bekannt. Es ist dringend notwendig eine Wahrheitskommission zur Aufklärung sämtlicher Kriegsverbrechen einzurichten.

Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass Kriegsverbrechen durch das türkische Militär seit 2009 wieder stark zunehmen. Dazu gehören Folter und Verstümmelungen von Toten Guerillas, extralegale Hinrichtungen von ZivilistInnen und gefangen genommenen Guerillas sowie Chemiewaffeneinsätze.


Diyarbakir ab dem 21.09.2011

In Diyarbakir fand ab dem 21.09.2011 das Mezopotamische Sozialforum (MSF) statt. Wir beteiligten uns daran. In Seminaren und Workshops wurde über eine große Anzahl von Themen diskutiert. Darunter das Projekt der Demokratischen Autonomie, die neue Türkische Sicherheitspolitik, Ökologische Aspekte, das neue kurdische Kino, neue Strategien sozialer und politischer Auseinandersetzungen, den „Arabische Frühling“, Traumaarbeit, Frauenprojekte, Jugendprojekte, Assimilationspolitik, Sprachkurse in kurdisch, die Arbeit des Demokratischen Gesellschaftskongresses, Alternative Lebensformen, Wasser und Staudämme, Lösungswege der kurdischen Frage und viele Themen mehr. Die Stimmung ist sehr gut – es nehmen viel Menschen aus der ganzen Welt an dem Forum Teil.

Eine Auftaktdemonstration und ein Friedensmarsch der Frauen der Beteiligten des MSF wurden von martialischen Polizeiaufgeboten mit Wasserwerfern, Panzerfahrzeugen und von mit Gasmasken und Gasgranatenwerfern ausgerüsteten Polizisten nach wenigen Metern gestoppt.

In Diyarbakir kam es am 22.09 zu einem Anschlag der HPG (Guerilla der PKK) auf Polizisten. 1 Polizist wurde getötet, 2 weitere verletzt


Weitere Festnahmen

Am 22.09 wurden die Bürgermeister der Städte Sirnak, Idil und Silope, 5 BDP Mitglieder in Diyarbakir sowie Stadträte und AktivistInnen der BDP in weiteren Städten, u.a. in Istanbul und Izmir festgenommen. Insgesamt waren von der erneuten Repressionswelle in den letzten 10 Tagen mehr als 360 Menschen betroffen.

Die AKP Regierung die weiterhin von der Bundesregierung unterstützt wird, hat sich für eine hemmungslose Eskalation der Situation in Bezug auf die kurdische Frage entschieden. Berechtigte Proteste, Friedensdemonstrationen, politisches Engagement und menschenrechtliche Arbeit sollen so verhindert werden.

Während des Sozialforums flogen ständig F 16 Bomber in Richtung Kandilgebirge um völkerrechtswidrig vermeintliche Stellungen der PKK jenseits der irakischen Grenze zu bombardieren. Jeglicher Dialogversuch der kurdischen Seite wird derzeit geblockt.

Britta Eder – Rechtsanwältin
Gül Güzel – Journalistin und Gesundheitsmediatorin
Martin Dolzer – Soziologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der MdB Heidrun Dittrich (Die Linke)