Angriff
auf Zivilbevölkerung
Delegation
aus Berlin, Hamburg und Stuttgart 30.09.2011 20:09
Am 26.09.11 eröffneten
in der kurdischen Stadt Elih (Batman) gegen 23.00 Uhr Augenzeugenaussagen
zufolge Spezialeinheiten der türkischen Polizei das Feuer auf das Fahrzeug
einer Familie. Dabei starben die im 8. Monat schwangere 32-jährige Mizgin
Doğrul und ihre dreijährige Tochter Sultan. Auch das ungeborene Baby konnte
nicht mehr gerettet werden. Bei einem Gefecht etwa zwei Stunden später,
töteten diese Spezialeinheiten zwei Guerillas der HPG und einen Bauarbeiter.
Während dieser Zeit zogen Spezialeinheiten durch das Stadtviertel, beschossen
Wohnungen willkürlich und warfen Handgranaten, die Krater in die Straßen
rissen. Die türkischen Medien behaupteten sofort, die kurdische Guerilla
HPG hätte die ZivilistInnen, getötet. Diese Version wurde ebenfalls vom
Gouverneur verbreitet und von der türkischen Presse mit großem Eifer aufgenommen
obwohl die Aussagen von Opfern und AugenzeugInnen dem deutlich widersprechen.
Die Situation in Elih
Aufgrund dieser Information entschloss sich ein Teil unserer Delegation
am 27.09.11 nach Elih zu reisen um die Lage aus erster Hand zu untersuchen.
Bei einem Besuch im Rathaus der von der linken, prokurdischen Friedens-
und Demokratiepartei regierten Stadt, wurde sofort der hohe Druck auf
die Bevölkerung und ihre RepräsentantInnen deutlich. Der Bürgermeister
befindet sich im Rahmen eines sog. Antiterrorverfahrens in Haft, es gibt
nach Aussage seines Stellvertreters niemanden in der Stadtverwaltung der
nicht wenigstens ein ähnliches Verfahren laufen hätte. Der Kreisvorsitzende
der BDP erklärte, gegen ihn wurden wegen Teilnahme an Kundgebungen im
Moment 25 Verfahren eröffnet, was ihm nach dem Antiterrorgesetz mit großer
Wahrscheinlichkeit eine Verurteilung von 8 Jahren aufwärts einbringen
wird.
Das Dorf der Ermordeten
unter militärischer Besatzung
Die Delegation besuchte unter anderem die Trauerfeier für die Gestorbenen
im wenige Kilometer von Elih (Batman) entfernten Heimatdorf der Getöteten
Örmegöze. Auf dem Weg waren in der Nähe des Tatorts die zerschossenen
Scheiben eines Kaffees und viele Panzerfahrzeuge von Polizei und Militär.
Am Dorfeingang standen zwei Panzerfahrzeuge vom Typ Akrep und auch ansonsten
machte das Dorf den Eindruck eines Ortes unter militärischer Besatzung.
Am Hang oberhalb des Dorfes hatte die Armee eine Stellung besetzt, sie
richteten ihre Waffen in Richtung Trauergäste - und auch im Dorf befanden
sich auf den Hausdächern und in den Gassen des Dorfes Dutzende bewaffnete
Soldaten und zivil gekleidete staatliche Kräfte. Jeder der vielen Hundert
BesucherInnen der Trauerfeier wurde per Video vom Militär erfasst. Während
der Staat die Bevölkerung des Dorfes zu „Opfern des Terrors“ erklärt müssen
sie ihre Toten unter den Läufen von dutzenden Soldaten betrauern. Keiner
unserer GesprächspartnerInnen im Dorf hielt es für möglich, dass die kurdische
Guerilla hinter dem Massaker steckt.
Der mutmaßliche Tathergang
Das Auto der Familie Doğrul wurde am 26.09.11 gegen 23:00, als die Familie
von einer Feier aus dem Dorf Örmegöze zurückkehrte, von Kugeln durchsiebt.
Augenzeugen berichteten gegenüber Angehörigen und den Medien DIHA, ANF
und Roj TV dass die ZivilistInnen von der Polizei getötet worden sind.
Nach Augenzeugenangaben und Angaben von Opfern wurde das Auto entgegen
Behauptungen des Gouverneurs und türkischer Medien von Spezialeinheiten
der türkischen Polizei beschossen. Sie hatten einen Hinterhalt für zwei
mit dem Auto in der Stadt reisende Guerillas gelegt. Die Polizei eröffnete
willkürlich das Feuer auf die Zivilbevölkerung, wobei die im 8. Monat
schwangere 32-jährige Mizgin Doğrul und ihre dreijährige Tochter Sultan
getötet wurden.
Selbst auf den Aufnahmen, welche der Gouverneur als angebliche Beweise
für ein Massaker durch die Guerilla anführt, ist nichts zu sehen das dies
belegen könnte, im Gegenteil, es wird sichtbar, dass auf ein wegfahrendes
Weißes Auto in dem die Guerillas gesessen haben sollen von Seiten der
Polizei geschossen wird. Erst zwei Stunden später kam es auf einer 563m
entfernten Baustelle zu dem Gefecht bei dem zwei Guerillas und ein Polizist
getötet wurden und ein Bauarbeiter mit großer Wahrscheinlichkeit hingerichtet
worden ist.
Polizist: „Schieß
ihm in den Kopf.“
In einem mittlerweile im Internet verbreiteten Handyfilm ist weiterhin
zu sehen und zu hören wie zwei Polizisten von der Baustelle eine offensichtlich
noch lebende Person wegschleifen, die vermutlich der getötete Bauarbeiter
war. Ein Polizist sagt auf dem Video: „Schieß ihm in den Kopf.“ Der Gouverneur
hat bis jetzt nicht auf diese vom kurdischen Fernsehsender Roj TV verbreiteten
Bilder reagiert, die belegen, dass der Bauarbeiter und Vater von drei
Kindern, lebend gefangen genommen und anschließend extralegal hingerichtet
worden ist.
Polizei terrorisiert
Stadtviertel
Die BewohnerInnen der umliegenden Stadtviertel beschreiben unabhängig
voneinander, dass die Spezialeinheiten der Polizei durch die Straßen gezogen
sind, um sich geschossen haben, u.a. auf zivile Häuser. Außerdem setzte
die Polizei Handgranaten ein, deren Krater nach Angaben unserer GesprächspartnerInnen
auf den Straßen noch zu sehen sind. Die EinwohnerInnen versteckten sich
in Todesangst in ihren Häusern.
Türkische Medien als
Teil der Kriegsführung
Während sich die Hinweise auf ein staatliches Massaker verdichten, wiederholen
die türkischen Medien immer wieder von Neuem es handele sich um einen
Mord durch die kurdische Guerilla HPG. In aggressiven Bildern wird das
Leid der Betroffenen benutzt um Stimmung für eine weitere Eskalation des
Krieges zu machen. Die Stimmen der Opfer werden von den Medien ignoriert
und kritische Stimmen in den Medien zum Angriffsziel gemacht. So wurde
eine Erklärung von TeilnehmerInnen unserer Delegation zu dem Massaker
von Elih in den türkischen Medien mit Hetze überzogen, dem Vortragenden
wurde sogar in vielen türkischen Medien unterstellt sich wie ein Sprecher
der PKK zu verhalten.
Diese Medienpraxis schürt den Krieg und hetzt die türkische Bevölkerung
gegen die kurdische Bevölkerung auf. Sie trägt nicht zur Lösung bei, sondern
führt zur Vertiefung des Konflikts und zu weiterem Leid.
Die Nachrichten von
Angriffen auf die Zivilbevölkerung reißen nicht ab
Während wir diesen Artikel schreiben hören wir von einem neuen Angriff
auf die Zivilbevölkerung in Karliova. Polizisten der Polizeidirektion
von Karliova eröffneten das Feuer auf eine 30jährige Frau, weil sie sich
„verdächtig“ verhalten habe. Sie saß auf einer Bank gegenüber der Polizeidirektion
als die Polizei ihr einen Haltebefehl gab. Da sie kein Türkisch verstand
reagierte sie nicht. Dies reichte aus das Feuer auf sie zu eröffnen. Als
sie daraufhin wegrannte schossen Polizisten ihr in den Rücken. Die Mutter
von 7 Kindern befindet sich im Moment in Lebensgefahr im Krankenhaus.
Eine bewusste Strategie
gegen die Zivilbevölkerung ist nicht auszuschließen
Der türkische Staat hat auch nach Beobachtungen unserer Delegation keine
realistische Basis mehr in den kurdischen Gebieten. Auch militärisch ist
er nicht in der Lage, auch mit hohem logistischem Aufwand, die Guerillakräfte
zu schlagen. Nachdem schon am 11.09.11 in der kurdischen Stadt Şemzinan/Semdinli
nach einer Guerillaaktion willkürlich um sich geschossen wurde und 4 Zivilisten
von staatlichen Kräften getötet worden sind, reiht sich nun das Ereignis
von Elih in systematische Reihe von Angriffen auf die Zivilbevölkerung
ein. Sie scheinen das Ziel zu haben die Bevölkerung einzuschüchtern und
zu demoralisieren. Es ist jedoch offensichtlich dass die Bevölkerung sich
nicht mehr einschüchtern lässt und selbst im Schatten von Maschinengewehren
nicht bereit ist zu schweigen.
Anbei die Videolinks
zu den Aufnahmen der extralegalen Hinrichtung:
İşte Roj TV'de yayınlanan
infazın görüntüleri: http://www.youtube.com/watch?v=0BxN4sJ0rSs.
Hier die Videos des
Gouverneurs mit suggestiver Animation:
http://video.cnnturk.com/2011/haber/9/29/batman-saldirisinin-goruntuleri-ortaya-cikti
|