Trauerfeier in einem besetzten Land Nicht, um Silvester zu feiern, bin ich am 31.12.11 nach Diyarbakir geflogen, sondern, um zusammen mit drei kurdischstämmigen Landtags- bzw. Bürgerschaftsabgeordneten in ein Dorf an der irakischen Grenze der Türkei zu reisen. Genauer gesagt, nach Robotski bei Uludere in der Provinz Sirnak, wo zwei Tage zuvor 35 Zivilisten durch einen Angriff türkischer Kampfjets um's Leben gekommen waren. Angeblich aus Versehen. In der deutschen Presse wurde der türkische Ministerpräsident Erdogan zitiert, der gesagt hatte, es sei unmöglich gewesen, genau zu klären, ob es sich bei den Grenzgängern um Schmuggler oder PKK-Guerillas gehandelt habe. Deshalb sei es zu dem in seinem Ausgang bedauerlichen Vorfall gekommen. Wir verbringen die Silvester-Nacht in einem mitten in Diyarbakir gelegenen Hotel. Trotz der zentralen Lage ist auf den Straßen kaum ein Auto zu sehen. Die BDP (Friedens- und Demokratiepartei), die in den meisten kurdischen Städten die BürgermeisterInnen und somit die Kommunalverwaltung stellt und im türkischen Parlament 36 Abgeordnete hat, von denen allerdings sechs im Gefängnis sitzen, hat zu einer dreitägigen landesweiten Trauer aufgerufen. Keine Silvesterrakete erleuchtet den Himmel über Diyarbakir, kein Hupkonzert in der sonst so wenig geräuscharmen kurdischen Millionen-Metropole. Im Fernsehen in der Hotel-Lounge werden Silvester-Feiern aus Istanbul gezeigt. Es geht zu wie in einer Show von RTL. Um 0 Uhr wird ein gewaltiges Feuerwerk über dem Goldenen Horn gezeigt, danach Bilder vom Brandenburger Tor. Ein unglaublicher Kontrast zwischen dieser fast völlig verstummten Stadt und dem ausgelassen-rauschhaften Treiben der Menschen in Istanbul und Berlin. Der Kellner schaltet den Fernseher um auf das in der Türkei eigentlich verbotene, von Brüssel bzw. Kopenhagen ausgestrahlte kurdische Roj-TV. Es werden Bilder von einer brutal aufgelösten spontanen Demonstration vom Vormittag aus Diyarbakir gezeigt. Anlass war der Tod zweier junger Männer, die angeblich PKK-Kämpfer gewesen sein sollen. Sie sind in der Nacht durch zivile Sicherheitskräfte per Kopfschuss regelrecht hingerichtet worden. Mitten in Diyarbakir. 300 km östlich fahren wir in einem PKW von der Provinzhauptstadt Sirnak in Richtung des Dorfes, in dem der Angriff der Kampfjets erfolgt ist. Aufgrund des zuvor den Behörden angekündigten Besuchs einer Parlamentarier-Delegation aus Deutschland werden wir an mehreren Militärsperren nach kurzer Inaugenscheinnahme unserer Pässe bzw. Abgeordnetenausweise durchgewunken. Das hört sich für mich beim Nachlesen so an, als spräche ich von einer Verkehrskontrolle in Hamburg. Deshalb ein paar erklärende Worte hierzu. Eine Militärsperre in den kurdischen Gebieten der Türkei ist eine dauerhafte Einrichtung an einer wichtigen Straße. Am Straßenrand Wachttürme mit aufgestapelten Sandsäcken. Aus den Schießscharten sind Gewehrläufe auf die Straße und das Umfeld gerichtet. Das oberhalb davon gelegene Areal ist mit Rollen von NATO-Stacheldraht und Mauern umgeben. Überall sind Scheinwerfermasten errichtet. Oben auf dem Hügel befindet sich die Kommandantur. Auf der Straße im Hintergrund zwei Schützenpanzer, davor Halt-Schilder ('Dur!') und bewegliche Sperrgitter mit Stacheldraht umwickelt. Dazwischen junge Soldaten mit Maschinenpistolen. Nicht anders als einst an der innerdeutschen Grenze, von deren Unmenschlichkeit den Schulkindern ja heute noch gerne berichtet wird. Auf der Straße zwischen Sirnak und Uludere/Robotski alle 20 Kilometer eine solche Grenze mit Todesstreifen im eigenen Land. Oder ist es gar nicht das eigene, sondern ein besetztes fremdes Land? Wir treffen in Robotski ein. Das große, weit auseinander liegende Dorf wird von allen Seiten von hohen, zum Teil schneebedeckten Berggipfeln umgeben. Vor einem riesigen Zelt, das mich von der Form her an ein winterliches Tenniszelt in Deutschland erinnert, stehen viele Menschen zwischen geparkten Pick-ups, PKWs und Kleinbussen. Wir werden erwartet, da wir in Begleitung von Anwälten aus Sirnak gekommen sind, die die näheren Umstände des Kampfjet-Einsatzes untersuchen. Man geleitet uns in das Zelt. An der Stirnseite sitzen in einer Reihe sehr viele alte Männer auf Plastikstühlen. Ihnen gegenüber, ebenfalls auf solchen Stühlen, sitzen gestaffelt in langen Reihen dicht an dicht sehr viele weitere Männer, deren Augen stumm auf uns gerichtet sind. Wir gehen die Formation an der Stirnseite des Zeltes ab, während durch einen Lautsprecher gesagt wird, dass wir eine Parlamentarier-Delegation aus Deutschland seien. Die alten Männer erheben sich der Reihe nach und schütteln jedem von uns die Hand. Es sind die 35 Familienvorstände der Getöteten. Sie sitzen nun schon den fünften Tag hier und nehmen die Kondolenzbesuche von täglich zwischen 300 und 500 Besuchern entgegen. In stummer, aber gefasster Trauer. Wir setzen uns eine Weile ihnen gegenüber zu den anderen Trauergästen und trinken Tee. Ein paar Fotos werden gemacht. Ein paar Dutzend weitere Hände geschüttelt. Dann verlassen wir das Zelt und werden in ein daneben liegendes Gebäude geführt. Vermutlich das Dorf-Gemeinschaftshaus, wo es Toiletten, eine Küche und einen kahlen Versammlungsraum mit einem Schreibtisch und ein paar Stühlen gibt. Wir nehmen hinter dem Schreibtisch Platz. Uns gegenüber stehen eine Reihe Männer, für die nach und nach hinzutretenden Frauen werden Stühle durchgereicht.Es beginnen die Schwester und die Verlobte eines der Getöten zu berichten. Es folgen weitere Frauen. Mütter, Schwestern, Ehefrauen. Sie alle tragen Fotos ihrer getöteten Angehörigen in ihren Händen. Alle Getöteten waren junge Männer zwischen 16 und 23 Jahren. Die Frauen haben immer wieder mit den Tränen zu kämpfen. Ich verstehe sprachlich nur wenig. Sie reden Kurdisch, und es ist unmöglich, ihre von Trauer und Zorn erfüllten Anklagen gegen den Staat, den Mörder Erdogan und seine ausländischen Helfer durch Übersetzungen zu unterbrechen. Mir werden von meinen Mitreisenden nur ein paar grob erläuternde Worte ins Ohr geraunt, aber das reicht, um zu verstehen. Später erfahre ich, dass sie zusätzlich empört waren über die knapp 10.000 €, die die Regierung ihnen allen zusammen als Entschädigung angeboten hat. Sie betonen immer wieder, dass sie kein Geld wollten, sondern ein Ende des Krieges gegen ihr Volk. Am Tag zuvor war der Provinzgouverneur als Überbringer des Entschädigungs-Angebotes mitsamt seiner Bodyguard von den aufgebrachten Dorfbewohnern unter Hochrufen auf den seit 12 Jahren inhaftierten PKK-Vorsitzenden Öcalan ('Biji serok Apo!') vertrieben worden, was übrigens auf allen Nachrichten-Kanälen wie CNN oder NTV landesweit übertragen wurde. Wir begeben uns zusammen mit Dutzenden Frauen zu den mit Papierblumen geschmückten frischen Gräbern auf dem oberhalb des Dorfes gelegenen Friedhof. Unterwegs erfahre ich. Die jungen Männer waren wie gewohnt unter den Augen des nahegelegenen Militärstützpunktes in zwei Gruppen über die irgendwo fiktiv im Berg liegende Grenze in ein auf der anderen Seite im Irak liegendes Dorf gegangen, um günstigen Diesel-Treibstoff für ihre Traktoren und zollfreie Zigaretten zum Weiterverkauf zu besorgen. Andere Erwerbsmöglichkeiten gibt es in dieser Gegend zumal im Winter nicht. Von der ersten Gruppe wurden alle getötet. Als die Dorfältesten daraufhin bei der Kommandantur anriefen und sagten, dass es sich um ihre Leute und keine Guerillas handele, wurde ihnen geantwortet, das wisse man, man wolle ihnen – in freier Übersetzung - nur ein bisschen Feuer unter dem Arsch machen. Von der zweiten Gruppe überlebten drei junge Männer und ein Pferd mit schwersten Verletzungen. Die Haltung des türkischen Staates zu diesem Vorfall wurde bei der Parlamentsdebatte dazu am klarsten von dem Fraktionsvorsitzenden der faschistischen MHP zum Ausdruck gebracht, als er sagte, dass jegliche Militäreinsätze gerechtfertigt seien, wenn auch nur 1% Möglichkeit bestünde, dass man damit die PKK träfe, egal, ob es sich dabei um Zivilisten oder Guerillakämpfer handele. So offen wird es von Erdogan und seiner alleinregierenden AKP-Partei zwar nicht formuliert, aber die Praxis seiner Politik sieht nicht anders aus. Robert Jarowoy, Diyarbakir, den 3.1.2012
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