12. März 2012

Pressemitteilung der Kampagne „Demokratie hinter Gittern“ zur Verleihung des Steiger Awards 2012 an den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan
am 17. März in der Bochumer Jahrhunderthalle
– PDF-Datei

Der Steiger Award ehrt Menschen, die sich durch Offenheit, Menschlichkeit und Toleranz auszeichnen. In der Ankündigung 2012 heißt es: "Wieder einmal werden Menschen ausgezeichnet, die geradlinig ihren Weg verfolgen". In der Begründung für die Wahl Erdogans betonen die Verantwortlichen: "Seit Jahren bemüht sich S.E. Premierminister Recep Tayyip Erdogan um einen demokratischen Wandel in seinem Land.“ Aber auch: „In diesen Tagen wird deutlich, dass die Türkei eine Schlüsselrolle im Nahen Osten übernimmt. Die Türkei ist dabei von entscheidender strategischer Bedeutung. Das wirtschaftliche Potenzial der Türkei und ihre Funktion sind nicht zu unterschätzen (...).“ In Letzterem liegt vermutlich der eigentliche Grund für die Wahl Erdogans. Anders können wir sie uns nicht erklären. Denn:

Recep Tayyip Erdogan hat den Steiger Award nicht verdient!

Wir halten die Jury-Entscheidung für einen Skandal: In Erdogans Regierungszeit hat sich die politische Situation in der Türkei vor allem in Bezug auf demokratische Standards dramatisch verschlechtert. Human Rights Watch hat im Januar einen erschütternden Bericht über die Mißachtung der Menschenrechte in der Türkei vorgelegt und spricht darin von einer Eliminierung der Meinungsfreiheit, Gewalt gegen Frauen, Massenverhaftungen, Folter, Ermordung von Gefangenen, und fordert, das Vorgehen gegen Journalistinnen, Regierungskritiker und kurdische Aktivistinnen zu beenden.

Die Zahl der politischen Gefangenen hat sich unter Erdogan vervielfacht!

Seit den Kommunlwahlen 2009 wurden 6300 Personen, die meisten von ihnen KurdInnen, aus politschen Gründen inhaftiert, mehr als jemals seit dem Militärputsch von 1980. Unter diesen Gefangenen befinden sich sechs ParlamentarierInnen, 17 BürgermeisterInnen, 42 Rechtsanwälte, 110 JournalistInnen und 1023 Minderjährige. Betroffen sind in erheblichem Maße auch GewerkschafterInnen.
Unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung wird mit den sogenannten KCK-Operationen versucht, jegliche kritische Meinungsäußerung und zivilgesellschaftliches Engagement unter Generalverdacht zu stellen. Laut Nachrichtenagentur AP erfolgten weltweit die meisten Verurteilungen wegen Terrorvorwürfe nach 9/11 in der Türkei, auf Platz 2 folgt China. Was Erdogan heute lautstark dementiert, hat der türkische Innenminister Beşir Atalay in einem Fernsehinterview vom 18. Dezember 2011 offen zugegeben: bei den Massenverhaftungen im Zuge der KCK-Operationen handelt sich um eine politische Operation der AKP-Regierung.

In keinem Land der Erde sitzen so viele Journalisten und Schriftsteller hinter Gittern wie in der Türkei

Anders als Erdogan, der behauptet, kein einziger Journalist sei wegen seiner journalistischen Tätigkeit in Haft, befinden internationale Organisationen: Die Pressefreiheit wird in der Türkei mit Füßen getreten.
Zurzeit befinden sich in der Türkei nach Angaben des internationalen PEN-Clubs über 110 Journalistinnen und Journalisten sowie Schriftsteller in Haft – mehr als in jedem anderen Land der Erde. Die Internationale Gesellschaft für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat die Türkei deswegen scharf kritisiert. Auch Thomas Hammarberg, Menschenrechtskommissar des Europarats, sagte, die Türkei führe die Rangliste „inhaftierte Journalisten“ europaweit, mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar weltweit an: „In keinem Land der Erde sitzen so viele Journalisten und Schriftsteller hinter Gittern wie in der Türkei.“
Eines der letzten Beispiele ist die Inhaftierung der Reporterin Özlem Ağuş. Wie vielen anderen wird ihr vorgeworfen, Mitglied einer verbotenen Organisation zu sein. Ihr eigentliches Verbrechen: Sie hat einen der schlimmsten Fälle von Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, die Vergewaltigung von kurdischen Kindern und Jugendlichen im Pozanti-Gefängnis, aufgedeckt. Die Behörden wussten seit Juli 2011 von den schrecklichen Vorgängen, blieben aber untätig.

Es gibt zahlreiche Persönlichkeiten in der Türkei, die eine Auszeichnung für ihr mutiges Engangement für Demokratie und Meinungsfreiheit mehr als verdient hätten

Stellvertretend seien hier genannt:
Hacire Özdemir, Frauenaktivistin
Fatma Kurtulan, Co-Vorsitzende der BDP
Ragıp Zarakoglu, Verleger
Prof. Dr. Büşra Ersanlı, Professorin
Hatip Dicle, Parlamentsabgeordneter
Selami Özyaşar, Gewerkschafter bei Egitim Sen
Hadice Korkut, Rechtsanwältin
Reyhan Çomak, Frauenaktivistin
Hamdiye Çiftçi, Journalistin

Sie alle sind derzeit in türkischen Gefängnissen inhaftiert. Ihre Portraits finden Sie in unserem Presseheft.

Nicht nur die Entscheidung der Jury, Erdogan mit dem Steiger Award auszuzeichnen, wirft Fragen bezüglich ihres eigenen Demokratieverständnisses auf. Auch ihre Entscheidung, Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder die Laudatio auf Erdogan halten zu lassen, ist zu kritisieren: 2004 hatte Schröder den russischen Präsidenten Vladimir Putin als "lupenreinen Demokraten" bezeichnet, und selbst nach den russischen Präsidentschaftswahlen vom 4. März 2012 wiederholte er dieses Urteil:
„Ich habe nichts daran abzustreichen. Ich glaube, dass er ernsthaft sein Land auf eine wirkliche Demokratie hin orientiert“.
Dasselbe würde er in seiner Laudatio wohl auch Erdogan attestieren.

Wir fordern die Jury auf, Ihre Entscheidung zurückzunehmen und den Preis an eine Persönlichkeit zu verleihen, die sich wirklich um die Demokratiesierung der Türkei verdient gemacht hat.

Bruno Zaccaron

Kampagne „Demokratie hinter Gittern“
c/o Informationsstelle Kurdistan e.V. (ISKU)
Stahltwiete 10
22761 Hamburg

Email: demokratiehintergittern@riseup.net
http://demokratiehintergittern.blogsport.de/