İNSAN HAKLARI DERNEĞİ DİYARBAKIR ŞUBESİ
DİYARBAKIR BRANCH OF HUMAN RIGHTS ASSOCIATION

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01.03.2012


An die Presse und Öffentlichkeit

2011 – Ein Jahr der Bevormundung der Menschen in der Türkei


Sehr geehrte Pressemitglieder,
hiermit wollen wir, als Menschenrechts-Verein, den Bericht der Menschenrechte in Ost- und Süd-Ost-Anatolien erläutern. Bei jedem Bericht über Menschenrechtsverletzungen treten wir ihnen mit sehr düsteren Details gegenüber. Trotzdem übertrifft das Jahr 2011 im Punkto Menschenrechtsverletzungen die Jahre zuvor. Die Lage hat sich mittlerweile so weit zugespitzt, dass wir uns sehr schwer tun, um all diese Verletzungen zu verfolgen und zu dokumentieren.

Am Beginn des Jahres 2011 hatten wir sehr große Hoffnungen, dass die Probleme gelöst werden und der Frieden in das Land einkehrt. 2010 hat uns die mehrmals verlängerte Waffenruhe seitens der PKK ermutigt daran zu glauben, dass das Ende der Todesfälle kommt und der Frieden endlich Einkehr findet. Schließlich gab es offensichtliche Gespräche zwischen dem türkischen Staat und der PKK, die von einer breiten Schicht begrüßt wurden.

Auch haben die Parlamentswahlen 2011 und die positiven Ergebnisse dieser Wahlen uns dem Frieden näher gebracht als je zuvor. Bedauerlicherweise wurde das Jahr 2011 nicht das Jahr des „Frieden und der Lösung”, sondern ein Jahr in dem ein großer Krieg geführt wurde. Die AKP-Regierung hat alle Wege für einen Dialog und für Reformen verschlossen und auf eine Sicherheitspolitik zurückgegriffen, die im Punkto Menschenrechte sogar die 90er Jahre übertroffen hat.

Obwohl die Ergebnisse der Parlamentswahlen am 12. Juni 2011 eine ideale Gelegenheit für eine friedliche Lösung geboten haben, haben die Rechtslosigkeit, Ungerechtigkeit und die Missachtung der gewählten VertreterInnen alle Hoffnungen vernichtet. Dem durch 80.000 Stimmen gewählten Hatip Dicle wurde sein Mandat wegen einer Haftstrafe entzogen. Die sich in Haft befindenden Abgeordneten wurden noch immer nicht freigelassen.
Als würde das alles nicht reichen, wurden nach den Wahlen die unter dem Namen „KCK“ laufenden politischen Verhaftungen noch mehr beschleunigt und es wurden weitere tausende Menschen verhaftet. Diese Verhaftungswelle hat so eine Dynamik angenommen, dass vor allem in Ost- und Süd-Ost-Anatolien fast alle Einrichtungen und Institutionen durchsucht wurden und fast alle VertreterInnen dieser Institutionen verhaftet wurden. Wenn wir uns die Zahlen anschauen, können wir sehen welches schreckliche Ausmaß die Festnahmen und Verhaftungen genommen haben. Auch unser Verein, der IHD blieb von diesen politischen Razzien nicht unverschont. Nach 2009 wurde die IHD zum zweiten Mal zum Opfer der Polizei-Untersuchung und die technischen Geräte wurden beschlagnahmt.

Diese politischen Operationen sind so dreist geführt worden, dass nicht nur PoliterInnen davon betroffen waren, sondern auch JournalistInnen, SchriftstellerInnen, AkademikerInnen, MenschenrechtsverteidigerInnen, AnwältInnen, GewerkschafterInnen und StudentInnen, ähnlich wie bei Sammellagern, in Gefängnisse gesteckt wurden. Die gegen Ende des Jahres noch stärker geführten Operationen, haben alle oppositionellen Personen an jedem Ort in der Türkei erreicht und als Politik zur Unterdrückung der gesamten Gesellschaft genützt.

Sehr geehrte Pressemitglieder,
die AKP-Regierung hat mit der Zusammenarbeit aller staatlichen Einrichtungen auf der einen Seite eine Sicherheitspolitik vorangebracht und auf der anderen Seite stieg auch die Häufigkeit militärischer Operationen an. In der Region häufen sich Militäroperationen und auch die Zahl der Opfer steigt auf beiden Seiten immer weiter. Auch die Zahl der zivilen Opfer ist im Vergleich zu den vorigen Jahren leider sehr gestiegen. Wenn wir uns die Ergebnisse des Berichtes für das Jahr 2011 anschauen, sehen wir, dass sowohl die Anzahl der Opfer bei militärischen Auseinandersetzungen, als auch die Zahl der zivilen Opfer immer weiter ansteigt.

All diese politischen Spannungen in unserem Land, die in jedem Lebensbereich zu spüren waren, schafften nicht nur die Grundlage für politische und militärische Operationen, sondern für die Vermehrung der Rechtverletzungen überhaupt. Besonders die Zahl der Eingriffe gegen Haft, Folter, Versammlung- und Demonstrationsrechte wuchs im Vergleich zum Vorjahr zu hundert Prozent.
Egal ob in der Untersuchungshaft, außerhalb oder auf öffentlichen Versammlungen, 2011 überschritt das Ausmaß der Folter und der unmenschlichen Behandlung jede mögliche Grenze. Ganz besonders ist hier der gewaltige Eingriff der Sicherheitskräfte gegen DemonstrantInnen oder bei Verhaftungen von ZivilistInnen zu nennen. Da wird die Folter offensichtlich auf die Straße übertragen. Der Einsatz von Tränengas hat auch einen unvorstellbaren Höhepunkt erreicht. Denn jedes Mal folgen diesem Einsatz Tote oder Verletzte, weil die Polizisten mit der Unterstützung des Regimes und der Justiz eine unverhältnismäßige Gewalt mit offener Tötungsabsicht einsetzt, die keinesfalls ultima ratio sein kann. Diese Rechtsbrecher, die im Namen der Sicherheit unsere Jugendliche und Kinder mitten auf der Straße erschießen, werden nicht zur Rechenschaft gezogen und laufen frei herum.
Die AKP-Regierung und die Justiz, welche zu all diesen Gräueltaten und Folter lediglich schweigen, nehmen eine verurteilende, drohende Haltung gegenüber den oppositionellen Menschen, die diese Situation versuchen aufzudecken. Die Gerichtsbarkeit, die im Falle der (un)rechtlichen Verfolgung gegenüber MenschenrechtsverteidigerInnen und kurdischen PolitikerInnen großzügig handelt, ignoriert auf der anderen Seite die gewalttätigen Polizisten, die die ZivilistInnen bei jeder Gelegenheit schlagen, foltern und in ihrer Menschenwürde erniedrigen. Folglich ist der politische und justizielle Schutz der Verantwortlichen die Gewährleistung für dieser Folterfälle und ihrer weiteren Verbreitung.
Eines der wichtigsten Menschenrechtsverletzungen des Jahres 2011 stellen die Haftumstände dar. Als IHD haben wir viele Haftanstalten besucht und versucht die Probleme der Häftlinge vor Ort festzustellen. Wie es auch aus der Bilanz hervorgeht, gibt es viele Probleme und Rechtsverletzungen in den Gefängnissen. Nicht nur aus unseren Besichtigungen vor Ort sondern auch aus den Anträgen, die bei uns eingelangt wurden, ist eine Häufung der Rechtverletzungen zu vermerken.
Wie ja auch der Zustand der todkranken Häftlinge, Verlegungen, Exil und die anschließende Folter und unmenschliche Behandlungen uns die schwere Dimension der Situation vor Augen führen, entstand 2011 eine große Forderung nach der Umstrukturierung der Haftanstalten. In den letzten drei Jahren vervielfachte sich die Zahl der Häftlinge aufgrund der Verhaftung tausender Menschen und dies machte das Leben in diesen Anstalten zu einer zusätzlichen Folter. Zuletzt die Ausschreitungen im Pozanti-Gefängnis, wo die Kinder der Folter und sexueller Misshandlungen ausgesetzt waren, zeigt uns das erschütternde Ergebnis der permanent ignorierten Rechtsverletzungen. Wenn das Justizministerium in diesem Fall keinen Ton von sich gibt, sollten wir uns der Gefährlichkeit und dem Ernst der Lage bewusst werden.
Parallel zu der schweren Situation in den Gefängnissen verschlechtert sicht der Zustand von Abdullah Öcalan, der seit Monaten im Imrali-Gefängnis schwerster Isolation ausgesetzt ist, von Tag zu Tag immer mehr. Abgesehen davon, dass dieser Fall menschenrechtswidrig ist, verstößt er auch gegen internationale Abkommen und der Rechtsordnung im Allgemeinen. Da er [Abdullah Öcalan] als Repräsentant des kurdischen Volkes in dieser Frage eine bedeutende Rolle spielt, wird die Situation durch diese Isolationspolitik weiterhin in die Unmöglichkeit getrieben. Der größte Teil der kurdischen Bevölkerung ist sehr besorgt über diese Unrechtslage. Trotz der großen Ignoranz der Medien und der Öffentlichkeit gibt es seit Tagen in diesem Land Hunderte von Menschen, die gegen diese Rechtslosigkeit mit Hungerstreik protestieren. Diese Isolationspolitik gegenüber Öcalan ist sinnlos und muss unverzüglich aufhören.
Die Probleme können nur durch ernstgemeinte Präventionsarbeit und aktiven Kampf der Frauen gegen das patriarchale System überwunden werden. Die gegenwärtige visionslose Frauenpolitik der Regierung ist ein Geständnis dafür, dass die Regierung Frauen nur in bestimmten Bereichen des Lebens duldet. Wir müssen aktiver vorgehen gegen dieses Gedankengut, welches die Familie als einzigen Lebensbereich der Frau sieht.
Im Oktober 2011 kam es in der Region zu einem großen Erdbeben in Van. In unserem Bericht haben wir ausführlich über das Erdbeben in Van und die Rechtsverletzungen welche danach stattgefunden haben. Leider kann man zusammenfassend sagen, dass der Staat bei diesem Unglück, bei dem hunderte Menschen umgekommen und tausende verletzt und obdachlos geworden sind, versagt hat.
Sowohl die sehr verspäteten Bergungsteams als auch die Arbeiten zur Lösung des Wohnproblems der Bevölkerung nach dem Erdbeben ließen zu wünschen übrig. In Van hat der Staat die Bevölkerung in die Verzweiflung getrieben.
Die verzweifelten Versuche der AKP-Regierung ihre groben Rechtsverletzungen und Mängel zu verdecken waren ein weiterer Grund für viel Leid. Auch die harten Temperaturbedingungen im Winter hat Van für die Menschen unbewohnbar gemacht. Monate nach dem Erdbeben haben viele Menschen vor Ort noch immer kein Dach über dem Kopf. Diese Tatsachen zeigen noch mal deutlich, wie der Staat in Van agiert hat und weiter agiert.

Sehr geehrte PressemitarbeiterInnen,
im Jahre 2011 haben wir zwei wichtige Berichte veröffentlicht, einer behandelte das Thema der Massengräber, der andere den Einsatz von Chemie-Waffen des türkischen Staates. Beide betrafen sehr wichtige Themen. Der zweite Bericht, welcher vom Einsatz von chemischen Waffen handelte, brachte das Thema „Kriegsverbrechen“ auf unsere Tagesordnung. Dieser Bericht zeigt, dass der jahrelange schmutzige Krieg eine neue Dimension angenommen hat. Unsere Berichte zeigen, in welchem Ausmaß Menschenrechtsverletzungen in unserem Land begangen werden. Trotz diesen ganz offensichtlichen und horrenden Menschenrechtsverletzungen ist der Staat in keinster Weise dazu bereit, eine Geschichtsaufarbeitung zu betreiben. Dies ist ein weiterer Grund dafür, dass die kurdische Frage noch immer weit entfernt von einer Lösung ist.
Das Bild, welches wir durch die ausführlichen Bilanzen in unserem Report erhalten haben, kann man als „Schandbild“ dieser Nation bezeichnen. Die Tatsache, dass sich unsere Nation in diesem Jahrhundert in solch einem Zustand befindet, steigert das Schamgefühl. Wir, als Menschenrechtsverteidiger, glauben nicht, dass sich die nationalen Probleme durch Sicherheitspolitik, Kriegskonzepte, Operationen und durch verbreitete Rechtsverletzungen lösen lassen. Schaut her, Menschen hungern nun ihre Körper in den Tod. In den Gefängnissen protestieren Hunderte von Menschen durch Hungerstreiks gegen anhaltende Ungerechtigkeiten. Dies demonstriert, dass die Politik der Ausweglosigkeit seine Bedeutung verloren hat. In diesem Land wehklagen Mütter, dass sie nicht mehr den Leichnamen ihrer Kinder begegnen wollen. Alle Schichten und Teile der Bevölkerung schreien nach Frieden. Deshalb erachten wir es als wichtig zu wiederholen, dass die Politik(losigkeit) beendet werden muss. Wenn eine Lösung für das „kurdische Problem“ anstrebt werden soll, dann muss [der Staat] zuerst das selbst erzeugte Angstimperium auflösen und sich für das Ziel einer freieren, demokratischeren und rechtsstaatlichen Lage einsetzten. Um dieses Ziel zu erreichen, muss [der Staat] die Türen für Dialoge und Verhandlungen mit den jeweiligen Vertretern der kurdischen Frage offen halten.
Während wir den Bericht veröffentlichen, möchten wir bei dieser Gelegenheit nochmal verlauten, dass wir alle Rechtsverletzungen verfolgen werden. Wir möchten nochmals erwähnen, dass wir in unseren Bericht alle Menschenrechtsverletzungen aufgenommen haben von denen wir erfahren haben. Wir verbleiben in Hoffnung darauf in einem Land zu leben in dem keine Menschenrechtsverletzungen mehr stattfinden.

IHD-Diyarbakir

 
- Bilanz des Menschenrechtsvereins der Türkei für 2011 – PDF-Datei
- IHD-Bilanz 2006 bis 2011 – PDF-Datei
- Menschenrechtsverein (IHD): 1453 Rechtsverletzungen in Gefängnissen der kurdischen
Provinzen – PDF-Datei

- 2011 – Ein Jahr der Bevormundung der Menschen in der Türkei – PDF-Datei