İNSAN
HAKLARI DERNEĞİ DİYARBAKIR ŞUBESİ
DİYARBAKIR BRANCH OF HUMAN RIGHTS ASSOCIATION
Ali Emiri 1.Sok. Yılmaz 2004 Apt. No: 1/3 Yenişehir/ DİYARBAKIR Tel :
0.412. 223 30 33- 229 58 66
Faks: 0.412. 223 57 37 E-mail: diyarbakir@ihd.org.tr
___________________________________________________________________________
01.03.2012
An die Presse und Öffentlichkeit
2011 – Ein
Jahr der Bevormundung der Menschen in der Türkei
Sehr geehrte Pressemitglieder,
hiermit wollen wir, als Menschenrechts-Verein, den Bericht der Menschenrechte
in Ost- und Süd-Ost-Anatolien erläutern. Bei jedem Bericht über Menschenrechtsverletzungen
treten wir ihnen mit sehr düsteren Details gegenüber. Trotzdem übertrifft
das Jahr 2011 im Punkto Menschenrechtsverletzungen die Jahre zuvor. Die
Lage hat sich mittlerweile so weit zugespitzt, dass wir uns sehr schwer
tun, um all diese Verletzungen zu verfolgen und zu dokumentieren.
Am Beginn des Jahres
2011 hatten wir sehr große Hoffnungen, dass die Probleme gelöst werden
und der Frieden in das Land einkehrt. 2010 hat uns die mehrmals verlängerte
Waffenruhe seitens der PKK ermutigt daran zu glauben, dass das Ende der
Todesfälle kommt und der Frieden endlich Einkehr findet. Schließlich gab
es offensichtliche Gespräche zwischen dem türkischen Staat und der PKK,
die von einer breiten Schicht begrüßt wurden.
Auch haben die Parlamentswahlen
2011 und die positiven Ergebnisse dieser Wahlen uns dem Frieden näher
gebracht als je zuvor. Bedauerlicherweise wurde das Jahr 2011 nicht das
Jahr des „Frieden und der Lösung”, sondern ein Jahr in dem ein großer
Krieg geführt wurde. Die AKP-Regierung hat alle Wege für einen Dialog
und für Reformen verschlossen und auf eine Sicherheitspolitik zurückgegriffen,
die im Punkto Menschenrechte sogar die 90er Jahre übertroffen hat.
Obwohl die Ergebnisse
der Parlamentswahlen am 12. Juni 2011 eine ideale Gelegenheit für eine
friedliche Lösung geboten haben, haben die Rechtslosigkeit, Ungerechtigkeit
und die Missachtung der gewählten VertreterInnen alle Hoffnungen vernichtet.
Dem durch 80.000 Stimmen gewählten Hatip Dicle wurde sein Mandat wegen
einer Haftstrafe entzogen. Die sich in Haft befindenden Abgeordneten wurden
noch immer nicht freigelassen.
Als würde das alles nicht reichen, wurden nach den Wahlen die unter dem
Namen „KCK“ laufenden politischen Verhaftungen noch mehr beschleunigt
und es wurden weitere tausende Menschen verhaftet. Diese Verhaftungswelle
hat so eine Dynamik angenommen, dass vor allem in Ost- und Süd-Ost-Anatolien
fast alle Einrichtungen und Institutionen durchsucht wurden und fast alle
VertreterInnen dieser Institutionen verhaftet wurden. Wenn wir uns die
Zahlen anschauen, können wir sehen welches schreckliche Ausmaß die Festnahmen
und Verhaftungen genommen haben. Auch unser Verein, der IHD blieb von
diesen politischen Razzien nicht unverschont. Nach 2009 wurde die IHD
zum zweiten Mal zum Opfer der Polizei-Untersuchung und die technischen
Geräte wurden beschlagnahmt.
Diese politischen
Operationen sind so dreist geführt worden, dass nicht nur PoliterInnen
davon betroffen waren, sondern auch JournalistInnen, SchriftstellerInnen,
AkademikerInnen, MenschenrechtsverteidigerInnen, AnwältInnen, GewerkschafterInnen
und StudentInnen, ähnlich wie bei Sammellagern, in Gefängnisse gesteckt
wurden. Die gegen Ende des Jahres noch stärker geführten Operationen,
haben alle oppositionellen Personen an jedem Ort in der Türkei erreicht
und als Politik zur Unterdrückung der gesamten Gesellschaft genützt.
Sehr geehrte Pressemitglieder,
die AKP-Regierung hat mit der Zusammenarbeit aller staatlichen Einrichtungen
auf der einen Seite eine Sicherheitspolitik vorangebracht und auf der
anderen Seite stieg auch die Häufigkeit militärischer Operationen an.
In der Region häufen sich Militäroperationen und auch die Zahl der Opfer
steigt auf beiden Seiten immer weiter. Auch die Zahl der zivilen Opfer
ist im Vergleich zu den vorigen Jahren leider sehr gestiegen. Wenn wir
uns die Ergebnisse des Berichtes für das Jahr 2011 anschauen, sehen wir,
dass sowohl die Anzahl der Opfer bei militärischen Auseinandersetzungen,
als auch die Zahl der zivilen Opfer immer weiter ansteigt.
All diese politischen
Spannungen in unserem Land, die in jedem Lebensbereich zu spüren waren,
schafften nicht nur die Grundlage für politische und militärische Operationen,
sondern für die Vermehrung der Rechtverletzungen überhaupt. Besonders
die Zahl der Eingriffe gegen Haft, Folter, Versammlung- und Demonstrationsrechte
wuchs im Vergleich zum Vorjahr zu hundert Prozent.
Egal ob in der Untersuchungshaft, außerhalb oder auf öffentlichen Versammlungen,
2011 überschritt das Ausmaß der Folter und der unmenschlichen Behandlung
jede mögliche Grenze. Ganz besonders ist hier der gewaltige Eingriff der
Sicherheitskräfte gegen DemonstrantInnen oder bei Verhaftungen von ZivilistInnen
zu nennen. Da wird die Folter offensichtlich auf die Straße übertragen.
Der Einsatz von Tränengas hat auch einen unvorstellbaren Höhepunkt erreicht.
Denn jedes Mal folgen diesem Einsatz Tote oder Verletzte, weil die Polizisten
mit der Unterstützung des Regimes und der Justiz eine unverhältnismäßige
Gewalt mit offener Tötungsabsicht einsetzt, die keinesfalls ultima ratio
sein kann. Diese Rechtsbrecher, die im Namen der Sicherheit unsere Jugendliche
und Kinder mitten auf der Straße erschießen, werden nicht zur Rechenschaft
gezogen und laufen frei herum.
Die AKP-Regierung und die Justiz, welche zu all diesen Gräueltaten und
Folter lediglich schweigen, nehmen eine verurteilende, drohende Haltung
gegenüber den oppositionellen Menschen, die diese Situation versuchen
aufzudecken. Die Gerichtsbarkeit, die im Falle der (un)rechtlichen Verfolgung
gegenüber MenschenrechtsverteidigerInnen und kurdischen PolitikerInnen
großzügig handelt, ignoriert auf der anderen Seite die gewalttätigen Polizisten,
die die ZivilistInnen bei jeder Gelegenheit schlagen, foltern und in ihrer
Menschenwürde erniedrigen. Folglich ist der politische und justizielle
Schutz der Verantwortlichen die Gewährleistung für dieser Folterfälle
und ihrer weiteren Verbreitung.
Eines der wichtigsten Menschenrechtsverletzungen des Jahres 2011 stellen
die Haftumstände dar. Als IHD haben wir viele Haftanstalten besucht und
versucht die Probleme der Häftlinge vor Ort festzustellen. Wie es auch
aus der Bilanz hervorgeht, gibt es viele Probleme und Rechtsverletzungen
in den Gefängnissen. Nicht nur aus unseren Besichtigungen vor Ort sondern
auch aus den Anträgen, die bei uns eingelangt wurden, ist eine Häufung
der Rechtverletzungen zu vermerken.
Wie ja auch der Zustand der todkranken Häftlinge, Verlegungen, Exil und
die anschließende Folter und unmenschliche Behandlungen uns die schwere
Dimension der Situation vor Augen führen, entstand 2011 eine große Forderung
nach der Umstrukturierung der Haftanstalten. In den letzten drei Jahren
vervielfachte sich die Zahl der Häftlinge aufgrund der Verhaftung tausender
Menschen und dies machte das Leben in diesen Anstalten zu einer zusätzlichen
Folter. Zuletzt die Ausschreitungen im Pozanti-Gefängnis, wo die Kinder
der Folter und sexueller Misshandlungen ausgesetzt waren, zeigt uns das
erschütternde Ergebnis der permanent ignorierten Rechtsverletzungen. Wenn
das Justizministerium in diesem Fall keinen Ton von sich gibt, sollten
wir uns der Gefährlichkeit und dem Ernst der Lage bewusst werden.
Parallel zu der schweren Situation in den Gefängnissen verschlechtert
sicht der Zustand von Abdullah Öcalan, der seit Monaten im Imrali-Gefängnis
schwerster Isolation ausgesetzt ist, von Tag zu Tag immer mehr. Abgesehen
davon, dass dieser Fall menschenrechtswidrig ist, verstößt er auch gegen
internationale Abkommen und der Rechtsordnung im Allgemeinen. Da er [Abdullah
Öcalan] als Repräsentant des kurdischen Volkes in dieser Frage eine bedeutende
Rolle spielt, wird die Situation durch diese Isolationspolitik weiterhin
in die Unmöglichkeit getrieben. Der größte Teil der kurdischen Bevölkerung
ist sehr besorgt über diese Unrechtslage. Trotz der großen Ignoranz der
Medien und der Öffentlichkeit gibt es seit Tagen in diesem Land Hunderte
von Menschen, die gegen diese Rechtslosigkeit mit Hungerstreik protestieren.
Diese Isolationspolitik gegenüber Öcalan ist sinnlos und muss unverzüglich
aufhören.
Die Probleme können nur durch ernstgemeinte Präventionsarbeit und aktiven
Kampf der Frauen gegen das patriarchale System überwunden werden. Die
gegenwärtige visionslose Frauenpolitik der Regierung ist ein Geständnis
dafür, dass die Regierung Frauen nur in bestimmten Bereichen des Lebens
duldet. Wir müssen aktiver vorgehen gegen dieses Gedankengut, welches
die Familie als einzigen Lebensbereich der Frau sieht.
Im Oktober 2011 kam es in der Region zu einem großen Erdbeben in Van.
In unserem Bericht haben wir ausführlich über das Erdbeben in Van und
die Rechtsverletzungen welche danach stattgefunden haben. Leider kann
man zusammenfassend sagen, dass der Staat bei diesem Unglück, bei dem
hunderte Menschen umgekommen und tausende verletzt und obdachlos geworden
sind, versagt hat.
Sowohl die sehr verspäteten Bergungsteams als auch die Arbeiten zur Lösung
des Wohnproblems der Bevölkerung nach dem Erdbeben ließen zu wünschen
übrig. In Van hat der Staat die Bevölkerung in die Verzweiflung getrieben.
Die verzweifelten Versuche der AKP-Regierung ihre groben Rechtsverletzungen
und Mängel zu verdecken waren ein weiterer Grund für viel Leid. Auch die
harten Temperaturbedingungen im Winter hat Van für die Menschen unbewohnbar
gemacht. Monate nach dem Erdbeben haben viele Menschen vor Ort noch immer
kein Dach über dem Kopf. Diese Tatsachen zeigen noch mal deutlich, wie
der Staat in Van agiert hat und weiter agiert.
Sehr geehrte PressemitarbeiterInnen,
im Jahre 2011 haben wir zwei wichtige Berichte veröffentlicht, einer behandelte
das Thema der Massengräber, der andere den Einsatz von Chemie-Waffen des
türkischen Staates. Beide betrafen sehr wichtige Themen. Der zweite Bericht,
welcher vom Einsatz von chemischen Waffen handelte, brachte das Thema
„Kriegsverbrechen“ auf unsere Tagesordnung. Dieser Bericht zeigt, dass
der jahrelange schmutzige Krieg eine neue Dimension angenommen hat. Unsere
Berichte zeigen, in welchem Ausmaß Menschenrechtsverletzungen in unserem
Land begangen werden. Trotz diesen ganz offensichtlichen und horrenden
Menschenrechtsverletzungen ist der Staat in keinster Weise dazu bereit,
eine Geschichtsaufarbeitung zu betreiben. Dies ist ein weiterer Grund
dafür, dass die kurdische Frage noch immer weit entfernt von einer Lösung
ist.
Das Bild, welches wir durch die ausführlichen Bilanzen in unserem Report
erhalten haben, kann man als „Schandbild“ dieser Nation bezeichnen. Die
Tatsache, dass sich unsere Nation in diesem Jahrhundert in solch einem
Zustand befindet, steigert das Schamgefühl. Wir, als Menschenrechtsverteidiger,
glauben nicht, dass sich die nationalen Probleme durch Sicherheitspolitik,
Kriegskonzepte, Operationen und durch verbreitete Rechtsverletzungen lösen
lassen. Schaut her, Menschen hungern nun ihre Körper in den Tod. In den
Gefängnissen protestieren Hunderte von Menschen durch Hungerstreiks gegen
anhaltende Ungerechtigkeiten. Dies demonstriert, dass die Politik der
Ausweglosigkeit seine Bedeutung verloren hat. In diesem Land wehklagen
Mütter, dass sie nicht mehr den Leichnamen ihrer Kinder begegnen wollen.
Alle Schichten und Teile der Bevölkerung schreien nach Frieden. Deshalb
erachten wir es als wichtig zu wiederholen, dass die Politik(losigkeit)
beendet werden muss. Wenn eine Lösung für das „kurdische Problem“ anstrebt
werden soll, dann muss [der Staat] zuerst das selbst erzeugte Angstimperium
auflösen und sich für das Ziel einer freieren, demokratischeren und rechtsstaatlichen
Lage einsetzten. Um dieses Ziel zu erreichen, muss [der Staat] die Türen
für Dialoge und Verhandlungen mit den jeweiligen Vertretern der kurdischen
Frage offen halten.
Während wir den Bericht veröffentlichen, möchten wir bei dieser Gelegenheit
nochmal verlauten, dass wir alle Rechtsverletzungen verfolgen werden.
Wir möchten nochmals erwähnen, dass wir in unseren Bericht alle Menschenrechtsverletzungen
aufgenommen haben von denen wir erfahren haben. Wir verbleiben in Hoffnung
darauf in einem Land zu leben in dem keine Menschenrechtsverletzungen
mehr stattfinden.
IHD-Diyarbakir
|