Analyse
von Martin Dolzer, Soziologe und Journalist zum Artikel in der New York
Times vom 24. April 2012 über Fethullah Gülen
Eine fundierte
Kritik der Gülen Bewegung in der New York Times
In der New York Times vom 24.
April 2012 veröffentlichte Dan Bilefsky einen Artikel über den in den
USA lebenden Prediger Fethullah Gülen und die Tätigkeit der Gülen Bewegung
in der Türkei sowie weiteren Staaten. Der Journalist kommt zu dem Ergebnis,
dass die Bewegung des Predigers derzeit in der Türkei weite Teile der
Eliten durchsetzt und auf repressive wie auch autoritäre Weise versucht,
jegliche Kritik repressiv zu unterbinden.
Bilefsky zitiert den Autor Ahmet Sik, der in der Türkei ein Jahr lang
inhaftiert war, weil er ein kritisches Buch über die Vorgehensweise der
Gülen-Bewegung veröffentlichen wollte: „Jeder, der derzeit wagt, Gülen
zu kritisieren, egal ob als Journalist, Intellektueller oder Menschenrechtler,
wird als Drogendealer oder Terrorist kriminalisiert“, so Sik. In seinem
Buch „Die Armee des Imam“ hatte der Autor die Vorgehensweise der Anhänger
Gülens analysiert und verdeutlicht, auf welche Weise sie die Polizei und
das Justizsystem Stück für Stück unterwanderten, um zur mächtigsten politischen
Kraft der Türkei zu werden. Die Behörden konfiszierten das Buch, FreundInnen
des Autors haben es mittlerweile im Internet veröffentlicht.
Die Staatsanwaltschaft wirft Sik die Unterstützung des Ergenekon-Netzwerks
vor. Selbst dem Autor kritisch gesonnene halten das jedoch für einen völlig
herbeigeholten Vorwand. Ahmet Sik ist mittlerweile aus der Haft entlassen,
der Prozess wird jedoch fortgesetzt. Die Ergenkon-Prozesse werden seitens
der Regierung Erdogan und der Gülen-Bewegung genutzt, um alte Rivalitäten
auszutragen und unliebsame JournalistInnen, Intellektuelle und Militärs
kaltzustellen, so Bilefsky. „Hardcore Aktivisten innerhalb der Gülenbewegung
betreiben die Verhaftungen im Ergenekon-Verfahren” sagt Gareth Jenkins,
Experte für die Türkei des Zentralasien und des Kauaksus Instituts der
John Hopkins Universität. „Es handelt sich um Rache für die 1990er Jahre,
als das Militär islamische Konservative unterdrückte.“
Der 70-jährige Gülen lebt „zurückgezogen“ in den USA und ist der Führer
einer der mittlerweile weltweit einflussreichsten islamischen Bewegungen
mit Millionen AnhängerInnen und Schulen in 140 Ländern. Lange Zeit habe
Gülen eine in der sufistischen Tradition stehende moderate Form des Islam
propagiert. Mittlerweile sei jedoch deutlich geworden, dass mit der Machtexpansion
die Anhänger Gülens ihren Einfluss innerhalb der türkischen Polizei, der
Geheimdienste und der Justiz dazu benutzen, um Oppositionelle zu verfolgen
und das Land in Richtung eines konservativen Islam zu bewegen, so Bilefsky.
Ein erfahrener amerikanischer Politiker kritisierte jüngst: „Wir sind
besorgt, dass die Gülen-Bewegung eine versteckte Agenda umsetzt, die säkulare
Türkei zu islamisieren.“
Die Bewegung des Predigers hat entscheidenden Einfluss auf die türkischen
Medien, unter anderem die auflagenstärkste Zeitung Zaman und stellt unzählige
Parlamentarier. Ministerpräsident Erdogan müsse sich mittlerweile den
Machtansprüchen der Gülen-Bewegung erwehren, so Bilefsky. Es habe sich
eine Kultur der Angst entwickelt. Niemand traue sich mehr offen am Telefon
zu sprechen, da befürchtet werde, die Anhänger der Gülen-Bewegung im Sicherheitsapparat
könnten Gespräche zur Verfolgung verwenden. Ayse Bohurler, ein Gründungsmitglied
er AKP, kritisiert die Intransparenz der Bewegung. „Sie können überall
und nirgends auftauchen und sind unberechenbar,“ so die Politikerin. Gülen
selbst betrachtet es dagegen als Menschenrechtsverletzung, seine Anhänger
zu beschuldigen den Staat zu unterwandern, da sie diesem dienen würden.
Die Bewegung sei bekannt dafür ein weltweites Netzwerk von Schulen zu
betreiben, auch in den USA. Der Prediger selbst kommuniziert über auf
Videotape aufgezeichnete Predigten, die in den Medien des Gülen-Netzwerks
veröffentlicht werden und Anweisungen geben, beschreibt Bilefsky deren
Hierarchie und Vorgehensweise. „Der Prediger erzieht eine goldene Generation
eines wissenschaftlichen Islam, die der Türkei diene,“ beteuern die Anhänger
des Predigers. Der Autor der New York Times entlarvt diesen Schein und
analysiert, dass unter dem Deckmantel der Wissenschaft streng religiöse
Werte vermittelt und unter Ausschaltung jeglicher Kritik die Ausbreitung
der eigenen Auslegung des Islam in der Türkei vorangetrieben wird.
Seit 1999 lebe der Prediger im selbst auferlegten Exil. In einer Videobotschaft
von 1999 forderte er seine Anhänger auf, dass sie sich unauffällig innerhalb
des Systems zu bewegen hätten, bis man die Macht erlangt habe, um dann
eigene Ziele durchzusetzen“, beschreibt Bilefsky die Anweisungen Gülens.
Nach dem 11. September wurde Gülen in den USA als Vertreter eines moderaten
Islam mit offenen Armen empfangen. Die Ausstellung seiner Green Card wurde
von einem früheren CIA-Agenten vorangetrieben, skizziert der New Yor Times
Journalist. U. a. Madeleine K. Albright und Kofi Annan besuchten Events
der Gülen-Bewegung in den USA.
Der amerikanische Botschafter James F. Jeffrey bestätigt in einer von
Wikileaks veröffentlichten Note, dass die Gülenbewegung die türkische
Polizei kontrolliert. In der Note beschreibt Jeffrey, dass die Gülen-Medien
die Ergenekon-Untersuchungen beeinflussen und dazu beigetragen haben,
Oppositionspolitiker zu inhaftieren.
Die Verhaftungswelle habe sich mittlerweile ausgeweitet, so der New York
Times Autor. Im Februar wurde Geheimdienstchef Hakan Fidan, ein Verbündeter
Erdogans vorgeladen, weil er Friedensgespräche mit der PKK geführt habe.
Die Regierung habe jedoch eine weitere Untersuchung verhindert, der zuständige
Haftrichter wurde entlassen. Im September 2010, ließen die Behörden Polizeichef
Hanefi Avci, einen früheren Anhänger Gülens als vermeintliches Mitglied
von Ergenekon inhaftieren, nachdem er ein Buch veröffentlichte, in dem
er dem Gülen-Netzwerk nachwies, dass dessen Anhänger im Polizeiapparat
regelmäßig justizielle Abläufe und Prozesse manipulieren.
Bilefsky analysiert in der New York Times die Vorgehensweise und Ausrichtung
des Predigers Fethullah Gülen und seiner Bewegung sehr genau. Der Journalist
hat lediglich nicht herausgearbeitet, dass von ähnlich unsinnigen und
ebenfalls konstruierten Vorwürfen und der dazugehörigen Kriminalisierung
wie im Fall Ahmet Sik momentan 6500 kurdische PolitikerInnen, MenschenrechtlerInnen,
AnwältInnen und JournalistInnen, sowie 2300 Kinder im Rahmen der KCK-Prozesse
betroffen sind und sich in Haft befinden. Auch die Videobotschaft vom
Oktober 2011, in der Fethullah Gülen zur Vernichtung der politisch Tätigen
KurdInnen aufruft, wäre sicherlich erwähnenswert.
Es ist jedoch sehr positiv, dass auch JournalistInnen der New York Times
sich mit der autoritären und feudalistischen „Politik des Predigers und
seiner Anhänger, die vorgeben keine Politik zu betreiben“, wie Bilefsky
es beschreibt, beschäftigen. Deutlich zeigt der Journalist in seinem Artikel
„Turkey Feels Sway of Reclusive Cleric in the U.S“ wie Fethullah Gülen
und seine Anhänger unter dem Deckmantel des moderaten Islam eine intolerante,
rücksichtslose und ausgrenzende Auslegung der Religion betreiben.
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