Offener Brief an den Ministerpräsidenten der Türkischen Republik R. T. Erdogan und Staatspräsident A. Gül sowie die ParlamentarierInnen der Türkischen Nationalversammlung Sehr geehrter Herr
Ministerpräsident R. T. Erdogan, mit Entsetzen haben wir erfahren, dass der Oberbürgermeister von Van, weitere BürgermeisterInnen der Provinz Van und seit 2009 insgesamt 32 BürgermeisterInnen in den kurdischen Provinzen der Türkei verhaftet wurden. Van ist eine Provinz, die noch stark an den Folgen des schrecklichen Erdbebens vom Oktober 2011 leidet. Stadt und Provinz benötigen gerade jetzt eine gut funktionierende Stadtverwaltung. Es stellt sich die berechtigte Frage, ob mit den Verhaftungen diese Aufbauarbeit erschwert und/oder die Kommunalwahlen 2013 beeinflusst werden sollen. Stadträtin Marion Padua konnte sich im April im Rahmen ihres Engagements in der Initiative „Nürnberg hilft Wan“ vor Ort über die Situation nach dem Erdbeben informieren. Im persönlichen Gespräch mit Herrn Bekir Kaya wurde die Tragik des Erdbebens, aber auch das große Engagement der Stadtverwaltung zur Linderung der Folgen deutlich. Zehntausende Menschen leben nach wie vor in Zelten und Containern, da die Hilfe von staatlicher Seite unzureichend ist. Niemand weiß, wo die zahlreichen internationalen Hilfslieferungen abgeblieben sind. In der Stadt Van kam davon fast nichts an. Die Vorwürfe gegen Herrn Kaya sind unser Ansicht nach ein politisch motiviertes Konstrukt und in keinster Weise nachvollziehbar. Wie kann es sein, dass derart vielen demokratisch gewählten BürgermeisterInnen ihr Mandat staatlicherseits entzogen wird? Die Bundestagsabgeordneten Harald Weinberg, Andrej Hunko, Heidrun Dittrich sowie Ingrid Remmers, der Abgeordnete des Europäischen Parlaments Jürgen Klute und die Stadträtin Marion Padua waren im letzten Jahr WahlbeobachterInnen bei den Parlamentswahlen am 12. Juni 2011, in den kurdischen Gebieten. Es wurde uns immer wieder beteuert, dass es sich um demokratische Wahlen handele. Aufgrund der Wahlbeobachtung kamen wir jedoch zu einem anderen Ergebnis. Die Wahlen entsprachen aufgrund vielfacher Verstöße und massiver Präsenz bewaffneter Sicherheitskräfte in den Wahllokalen und direkt an den Wahlurnen nicht demokratischen Standards. Besonders betroffen waren MdB Harald Weinberg und die Stadträtin Marion Padua als Augenzeugen eines Bombenanschlages auf die feiernde kurdische Bevölkerung in Sirnak. Wir bitten Sie in diesem Rahmen um die Beantwortung folgender Fragen: 1. Warum wurde Herr Kaya verhaftet? 2. Wie kann einem demokratisch gewählten Bürgermeister sein Mandat entzogen werden? Lässt die türkische Rechtsprechung das zu? Führt eine derartige Praxis nicht zu einer Eskalation des Konflikts? 3. Warum wurden weitere BürgermeisterInnen in einer Erdbebenregion verhaftet? 4. Warum befinden sich noch immer acht 2011 gewählte ParlamentarierInnen in Haft? 5. In welchem Zusammenhang stehen die Inhaftierungen mit den ca. 7000 seit den Kommunalwahlen 2009 inhaftierten JournalistInnen, RechtsanwältInnen und unzähligen KurdInnen, die sich für Frieden und Demokratie engagieren? 6. Wie gestaltet sich die Erdbebenhilfe der türkischen Regierung in der Stadt und Provinz Van? 7. Welche Hilfslieferungen gab es bisher? 8. Ist der dafür zuständige Gouverneur verpflichtet, die Hilfslieferungen zu verteilen? 9. Wenn ja, warum geschieht das bisher nicht? 10. Ist es zutreffend, dass es für die derzeit erstellten Neubauten in der Provinz Van zwei Preissysteme gibt, die an der politischen Orientierung der Betroffenen bei den Wahlen ausgerichtet sind ? Auf bundesweiter Ebene werden die Verhaftungen in den Medien sehr kritisch gesehen. Da die Solidaritätsarbeit der Initiative „Nürnberg hilft Wan“ im öffentlichen Interesse in Nürnberg, der Stadt des Friedens und der Menschenrechte, steht, wird das derzeitige Geschehen von der örtlichen Presse ebenfalls intensiv begleitet. Wir erwarten die sofortige Freilassung des Bürgermeisters, damit er sein Amt in dem Erdbebengebiet ausfüllen und weiter für Frieden und Demokratisierungen wirken kann. Wir erwarten, dass sämtliche MandatsträgerInnen und die seit 2009 inhaftierten politischen Gefangenen freigelassen werden. Unserer Meinung nach kann nur ein Friedensdialog unter Einbeziehung aller beteiligten Personengruppen eine demokratische und friedliche Lösung der kurdischen Frage voran bringen. Negativ wirken sich hingegen die Massenverhaftungen von AmtsträgerInnen aus, die sich für die Anerkennung der kurdischen Identität und die Einhaltung von Menschenrechten einsetzen. In Erwartung einer zeitnahen Beantwortung unserer Fragen verbleiben wir Mit freundlichen Grüßen Andrej Hunko, Mitglied
des Bundestages, Mitglied Parlamentarische Versamml. Europarat |