Mitteilung der BDP-Europa-Vertretung zur Rede von Selahattin Demirtaş zu den jüngsten Ereignissen in Kurdistan und der Türkei. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, die politische Debatte hat sich in Folge der jüngsten Ereignisse ausgeweitet. Am letzten Wochenende reisten die Co-Vorsitzende Frau Gültan Kisanak und weitere Parlamentsabgeordnete der Partei für Demokratie und Frieden BDP nach Şemdinli, in der Provinz Hakkari. Dort hat sich in den vergangenen Wochen der Konflikt zwischen dem türkischen Militär und der Guerilla der PKK zugespitzt. Die Abgeordneten reisten aus humanitären Gründen und um die Situation vor Ort zu recherchieren und zu begutachten. Dort wurden sie im Rahmen einer Guerillakontrolle angehalten. Die PolitikerInnen und weiteren TeilnehmerInnen der Delegation stiegen aus ihren Fahrzeugen, begrüßten die Guerillas und begannen sich mit ihnen über Friedensperspektiven zu unterhalten. Das Ereignis wurde von der Presse und den visuellen Medien aufgezeichnet und verbreitet. Das löste eine beispiellose hysterische Lynchkampagne gegen die Abgeordneten der BDP und die Partei insgesamt aus. Eine weitere Lynchkampagne wurde nach dem Bombenanschlag in Antep inszeniert, bei dem neun Menschen getötet und 66 verletzt wurden. Die BDP hatte den Anschlag direkt nach der Tat scharf verurteilt. In der folgenden Zeit wurden auf acht BDP-Büros Brandanschläge verübt, die BDP insgesamt rigoros verurteilt – als ob sie verantwortlich für den Anschlag gewesen sei. Bis heute ist nicht bekannt, wer den Anschlag verübt hat. Die türkischen Massenmedien und die Regierung haben allerdings sofort die PKK, die sich ebenfalls sofort von dem Anschlag distanziert hat, vorverurteilt. Der BDP-Co-Vorsitzende Selahattin Demirtaş nahm im Rahmen einer Rede in Diyarbakir wie folgt Stellung zu den anhaltenden Verleumdungs- und Lynchkampagnen: „Wenn eine Organisation
etwas erklärt, ist das für sie selbst und andere verbindlich. Wir haben
dieses Massaker verurteilt. PolitikerInnen der BDP waren zudem diejenigen
Abgeordneten, die sich zuerst bereit erklärten, an der Beerdigung der
Opfer des Anschlags von Antep teilzunehmen. Eine solche Teilnahme wurde
allerdings dadurch verhindert, dass die BDP Ziel von gezielter Diffamierung
und Provokation wurde. Diejenigen Verantwortlichen, die sich an der Beerdigung in Antep beteiligten, gedachten dort zu Recht der Opfer. Aber genau dieselben Verantwortlichen hatten sich zuvor zum Beispiel nicht an der Trauerfeier für die Opfer des Massakers von Roboskî beteiligt, bei dem durch ein Bombardement 34 ZivilistInnen starben. Auch diese Menschen waren Teil der Bevölkerung. Der Vorsitzende der MHP hat niemals sein Bedauern über dieses Massaker bekundet. Präsident Abdullah Gül äußerte sich einen Tag nach dem Massaker. Die BDP hat sich jedoch in jedem Fall, ohne Unterschied, gegen unnötiges Blutvergießen gewandt. Es gibt Menschen mit unterschiedlichen Herangehensweisen in der Türkei. Die einen sind diejenigen Kriegstreiber, die sich lediglich medienwirksam in Antep an der Beerdigung beteiligten – und die anderen sind die AnhängerInnen und PolitikerInnen der BDP, die sich seit langem für Frieden und demokratische Freiheiten einsetzen – egal welchen Preis sie dafür bezahlen müssen. Niemand hat jedoch das Recht, eine eigene kriegsfördernde Politik zu rechtfertigen, indem die BDP zum Ziel eines Lynchmobs erklärt wird. Die Umgehensweise unserer Abgeordneten mit der Guerilla in Şemdinli war humanistisch. Ich kann nicht nachvollziehen, wie jemand darauf, dass Menschen sich gegenüber Guerillas freundlich und respektvoll verhalten, so hasserfüllt reagieren kann. Unsere Abgeordneten haben sich nicht für Gewalt ausgesprochen, sie haben sich mit der Guerilla über Frieden und eine politische Lösung der kurdischen Frage unterhalten. Kein/e PolitikerIn kann jemals Frieden schaffen, wenn er/sie nicht beide, die Guerillas und die Soldaten umarmen und respektieren kann. Das Problem der türkischen Regierung ist nicht dieses Ereignis, sondern viel eher die Unfähigkeit, ihre militaristische Herangehensweise zu überwinden, die sich dadurch auch in der öffentlichen Meinung widerspiegelt. Die Regierung benutzt bis heute eine ‚Wir werden sie überall töten, wo wir sie treffen‘ Rhetorik. Um Frieden zu ermöglichen bedürfte es allerdings einer ‚Wir werden sie überall grüßen, wo wir sie treffen‘ Rhetorik. Meine FreundInnen haben die Guerilla bei der Straßenkontrolle in Şemdinli zufällig getroffen und verantwortlich und humanistisch gehandelt. Niemand kann und sollte die BDP in Folge dieses Ereignisses beschuldigen, Krieg zu wollen – niemand sollte die Bevölkerung deshalb gegen die BDP aufhetzen. Sämtliche Parteien in der Türkei sollten sich beruhigen. Insbesondere einige der Sprecher der Wahrheits- und Gerechtigkeitspartei AKP, die scheinbar vergessen haben, dass wir alle Menschen sind. Sie hetzen jedoch stattdessen die Bevölkerung gegen die KurdInnen auf. Es ist nicht die BDP, die ein friedliches Zusammenleben verhindert – sondern die Attitüde der AKP. Wir haben niemals Propaganda für Nationalismus, Diskriminierung, Provokation und Hass gemacht. Wenn wir je eine provozierende Rhetorik genutzt hätten, gäbe es einen ausgeweiteten ethnischen Konflikt im Land. Dass dies nicht der Fall ist, liegt daran, dass wir eine verantwortliche und humanistische Politik betreiben. Diejenigen, die unsere Parteibüros in Brand stecken, sollten sich bewusst sein, wie sich dieses Land ohne BDP-Büros entwickeln würde; es gäbe niemandem mehr, der oder die sich für Frieden einsetzen würde. Wenn die Polizei unsere Büros nicht verteidigt, müssen wir das selbst tun. Wir können unsere Bevölkerung schützen. Wenn die AKP-Sprecher unsere Partei weiterhin zum Ziel von Brandstiftungen erklären, haben wir das Recht uns selbst zu verteidigen. Momentan ist es so, dass jedes Mal, wenn sich auch nur drei BDP-Mitglieder treffen, 30 Polizeibeamte alles mit der Kamera aufzeichnen – die Polizei jedoch nur zusieht, wenn unsere Büros angezündet werden. Das kann so nicht weitergehen. Unsere Parteimitglieder können sich auch selbst verteidigen – und wir können nicht für alles verantwortlich gemacht werden. Solange wir über Frieden und Geschwisterlichkeit sprechen, sind wir Ziel von Angriffen und unsere Büros Ziel von Brandanschlägen geworden. Wir können in Anbetracht dieser Situation nicht tatenlos zusehen und schweigen. 24.08.2012
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