Rechtshilfefonds
Azadî e.V.
Hansaring 82 * 50670 Köln *
11. September 2012
OLG Stuttgart:
Verfahrenseröffnung nach § 129b StGB gegen Ridvan Ö. und Mehmet A.
Am 13. September beginnt vor
dem 6. Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart das Hauptverfahren
gegen die kurdischen Aktivisten Ridvan Ö. und Mehmet A.
Die Bundesanwaltschaft beschuldigt Beide der Mitgliedschaft in der „terroristischen“
ausländischen Vereinigung PKK (§ 129b Abs. 1 und § 129a Abs. 1 Strafgesetzbuch).
Sie sollen sich im Zeitraum von März 2010 bis Juli 2011 bzw. von Oktober
2009 bis Juli 2011 im Bundesgebiet bzw. in Frankreich als Führungskader
der Jugendorganisation „Komalen Ciwan“ (KC) betätigt haben. Diese wiederum
unterstehe dem von der PKK ins Leben gerufenen System der „Vereinigten
Gemeinschaften Kurdistans“ (KCK) und sei der Europaorganisation gegenüber
rechenschaftspflichtig.
Darüber hinaus vertritt die BAW die These, dass die seit 2004 bestehende
Stadtguerilla „Freiheitsfalken Kurdistans“ (TAK) der PKK zuzurechnen sei,
obwohl es seitdem gegenseitig eindeutige Distanzierungserklärungen gibt,
die wiederum von den deutschen – wie türkischen – Behörden als taktisches
Vorgehen uminterpretiert werden.
Den angeklagten Kurden wird
vorgeworfen, Spendengelder für die Organisation gesammelt, Nachwuchs für
die Guerilla und den Funktionärsapparat rekrutiert, öffentlichkeitswirksame
Demonstrationen, Schulungsveranstaltungen und Aktionen durchgeführt sowie
Reisen von Kadern organisiert zu haben.
Beschuldigungen, wonach Ridvan Ö. und Mehmet A. als mutmaßliche Mitglieder
einer Vereinigung im Ausland dort möglicherweise Straftaten begangen hätten,
gibt es nicht. Muss es im Sinne des § 129b auch nicht, weil jedes tatsächliche
oder mutmaßliche Mitglied einer als terroristisch eingestuften Organisation
automatisch für deren gesamten Aktivitäten mitverantwortlich gemacht wird.
Der 1982 in Bingöl geborene
Ridvan Ö. ist, nachdem die politische Verfolgungssituation gegen die kurdische
Bevölkerung in der Türkei eskalierte, im September 2001 nach Italien geflüchtet
und dort als politischer Flüchtling anerkannt worden. Im Juni 2011 hat
er Rom verlassen und ist dann nach Basel gereist und später nach Hamburg.
Ridvan Ö. wurde am 17. Juli
2011 am Flughafen Düsseldorf festgenommen; seit dem 18. Juli befindet
er sich in Untersuchungshaft.
Die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung nach § 129b StGB erteilte
das Bundesjustizministerium am 1. April 2011.
Mehmet A. reiste im November
2000 mit seinen Eltern und zwei Schwestern aus der Türkei in die BRD ein.
Sein Asylantrag wurde ein Jahr später abgelehnt. Nach einem Klageverfahren
hat das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge
Ende 2001 die Voraussetzungen für ein Abschiebeverbot aus Gründen der
politischen Verfolgung anerkannt und Anfang 2002 erhielt Mehmet A. Reiseausweis
und Aufenthaltsbefugnis.
Im Juni 2006 dann widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
seinen Asylstatus wegen Unterstützung der PKK und weil ihm in der Türkei
angeblich keine politische Verfolgung mehr drohe. Klagen hiergegen blieben
erfolglos, eine Zulassung auf Berufung für einen erneuten Antrag auf Flüchtlingszuerkennung
wurde abgelehnt und im August 2010 die sofort vollziehbare Ausweisung
durch das zuständige Regierungspräsidium verfügt. Auch hiergegen ist Klage
erhoben worden.
Mehmet A. wurde am 17. Juli
2011 in Freiburg festgenommen und befindet sich seit dem 18. Juli in Untersuchungshaft.
In seinem Fall hat das Bundesjustizministerium die Ermächtigung zur Strafverfolgung
nach § 129b am 12. Mai 2011 erteilt.
Die historischen Fakten und
politischen Hintergründe des türkisch-kurdischen Konflikts werden vonseiten
der Anklage völlig ausgeblendet. Sie sind jedoch die Grundlagen, um zu
einer realistischen Einschätzung und Bewertung der kurdischen Bewegung
und der in ihr organisierten Aktivistinnen und Aktivisten zu gelangen.
Das Gericht wird nicht umhin können, sich mit zentralen Fragen des (Kriegs)Völkerrechts
und dem Recht auf Sezession im Sinne einer neueren völkerrechtlichen Entwicklung
auseinanderzusetzen. Hierbei muss die über Jahrzehnte durch massive Repression
geprägte Menschenrechtslage der kurdischen Bevölkerung innerhalb und außerhalb
der türkischen Institutionen aufgeklärt und beurteilt werden. Deshalb
ist davon auszugehen, dass die Verteidigung auch die Verfassungsmäßigkeit
der Verfolgungsermächtigung durch das Bundesjustizministerium nach § 129b
StGB in Frage stellen und prüfen lassen wird.
Donnerstag,
13. September 2012, Beginn: 9.15 Uhr im Mehrzweckgebäude des OLG, Asperger
Straße 49, Stuttgart-Stammheim
Verhandelt wird jeweils
donnerstags und freitags: Verhandlungstermine sind bis Ende des Jahres
geplant.
Hintergrund
Seit 2007 hat die türkische Regierung die Repression gegen die kurdische
Bewegung in der Türkei auf allen Ebenen verstärkt. Folter und extralegale
Hinrichtungen gegen Zivilpersonen haben besonders in den letzten drei
Jahren zugenommen (1555 angezeigte Fälle von Folter im Jahr 2011); fast
jeden Tag finden Militäroperationen in der Türkei und sogar völkerrechtswidrig
im Nordirak statt. Seit den Kommunalwahlen 2009 ließ die Regierungspartei
AKP mehr als 8000 kurdische PolitikerInnen und AktivistInnen im Rahmen
der „KCK-Verfahren“ inhaftieren. Darunter 6 ParlamentarierInnen der pro-kurdischen
Demokratischen Friedenspartei BDP, 33 BürgermeisterInnen, über 1000 Frauenaktivistinnen
und mehr als 100 JournalistInnen. Gleichzeitig kam es zu Massakern an
der Zivilbevölkerung: Im Jahr 2010 wurden bei Hakkari Gecitli 9 Menschen
bei einem Anschlag von Sondereinheiten des Militärs getötet - 2011 starben
bei einem in vollem Bewusstsein auf Zivilisten durchgeführten Bombarde
ment 34 Menschen in Uludere/Roboskî. Weitere Kriegsverbrechen seitens
der türkischen Armee aus der Zeit zwischen 2002 und 2011, brachten im
November 2011 Angehörige von Opfern und AnwältInnen in der Bundesrepublik,
gemäß Völkerstrafgesetzbuch in einer Anzeige gegen Ministerpräsident Erdogan
und die letzten drei Generalstabschefs vor Gericht.
Bis 2011 hatte es zwar Gespräche von Regierungsvertretern mit VertreterInnen
der PKK in Oslo und mit Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali
(der eine Roadmap für den Frieden vorgelegt hatte) mit konkreten Ergebnissen
gegeben. Diese wurden jedoch abgebrochen. Die AKP-Regierung wollte letztlich
nicht hinnehmen, dass sie die Kontrolle über die kurdischen Provinzen
des Landes auf politischem Weg nicht erlangen kann. Die kurdische Bewegung
ist dort sehr gut in der Bevölkerung verankert. Mit dem Konzept der Demokratischen
Autonomie wurden große Teile der Menschen politisiert und von der BDP
in die Gestaltung der Gesellschaft einbezogen. Seit 2007, als der AKP
bewusst wurde, dass diese Entwicklung nicht mehr umkehrbar ist, begann
sie schrittweise mit der gewalttätigen Eskalation des Konflikts.
Der politische Hintergrund der Kriminalisierung mehrerer Kurdinnen gemäß
§ 129 b in der Bundesrepublik ist deutlich. Es geht im gesamten Mittleren
Osten um den Zugang zu Öl und Gasressourcen und die Absicherung der Transportwege.
Die Türkei - mit der zweitgrößten NATO-Armee - wird als Bündnispartner
und zukünftige Energiedrehscheibe gesehen, die islamisch-autoritäre AKP-Regierung
unter Erdogan als demokratisch orientiert verklärt und als bestes Rollenmodell
für die gesamte Region definiert. Emanzipatorische und vor allem gut organisierte
basisdemokratische Kräfte, die in der Bevölkerung verankert sind, wie
die kurdische Bewegung und die PKK, sollen in einer strategisch wichtigen
Region gerade im Hinblick auf die neokoloniale Neuaufteilung des Mittleren
Ostens offenbar nicht geduldet werden.
Weil die Bundesregierung eine hauptsächlich auf Profit orientierte Außen-
und Sicherheitspolitik betreibt, wird auch in der Bundesrepublik erneut
mit erweiterter Repression gegen kurdische Aktivistinnen und Aktivisten
vorgegangen. In diesem Rahmen wird der kurdischen Bewegung und der kurdischen
Bevölkerung das Widerstandsrecht - gegen lang anhaltendes Unrecht, dokumentierte
permanente Menschenrechtsverletzungen und den staatlichen Versuch der
Vernichtung selbstbestimmter Kultur - aberkannt. Obwohl die PKK seit mehr
als 10 Jahren auf einen Friedensprozess orientiert, wird ihr Widerstand
im Gegensatz zu den o.g. Beispielen aus rein geostrategischen Motiven
als terroristisch definiert.
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