Die
Revolution in Westkurdistan – Teil 5
‚Mala Gel‘ (deutsch: Volkshaus), so heißen in den westkurdischen Städten
die Zentren, in denen das gesellschaftliche Leben neuaufgebaut werden
soll. Lange Zeit war der kollektive Zusammenhalt und das gesellschaftliche
Bewusstsein der Kurdinnen und Kurden Angriffsziel des Regimes. Nun soll
es im Zuge der Revolution das freies und kollektives Leben wieder aufgebaut
werden. Und so wurden kurz nachdem die KurdInnen die Kontrolle über ihre
Städte erlangten die Volkshäuser aufgebaut. In ihnen arbeiten die gewählten
VertreterInnen der Volksräte Westkurdistans und kümmern sich um die Anliegen
der Bevölkerung. Hazal Peker sprach in Qamişlo mit Remziye Muhammed, einer
jungen Frau, die mit deutlichem Abstand zur Vorsitzenden des Volksrates
von Qamişlo gewählt worden ist.
Mit der Revolution soll auch ein alternatives Justizsystem in Westkurdistan
aufgebaut werden. Die sogenannten Volksgerichte stecken noch in den Kinderschuhen,
werden allerdings von einer Vielzahl von Menschen aufgesucht, die eine
gerechte Lösung für ihre Probleme erwarten. Die alten Gerichte des Baath
Regimes wurden von der Bevölkerung kaum noch mehr aufgesucht, weil die
Menschen sich von diesen ohnehin keine Gerechtigkeit mehr erhofften. Doch
seitdem die Volksgerichte aufgebaut werden, erhoffen sich die Menschen
von diesen auch Lösungen für ihre alten bisher ungelösten Probleme. Peker
sprach auch mit drei Mitgliedern des „Freiheitsgerichts von Kobanî“ über
ihre Arbeit.
Die Arbeit
der Volkshäuser
Remziye Muhammed: Ich wurde bei den Wahlen des Volksrats von
Qamişlo zur Vorsitzenden gewählt. Das ist natürlich eine ganz besondere
Ehre für mich, vor allem als eine kurdische Frau. Auch für die Bevölkerung
von Qamişlo ist es eine besondere Erfahrung endlich mit ihren eigenen
Stimmen ihre Repräsentanten bestimmen zu dürfen. Dann befinden wir uns
auch in einer Phase, in welcher wir als Kurdinnen und Kurden Schritt für
Schritt unsere Rechte wiedererlangen. Das entfacht eine zusätzliche Begeisterung
in uns. Wir verwirklichen in dieser revolutionären Phase sehr wichtige
Projekte. So werden in allen Stadtteilen Rätestrukturen aufgebaut. Das
Volk erhält die Möglichkeit nach seinen eigenen Bedürfnissen und Wünschen
selber Projekte in Gang zu setzen.
Wir wollen nicht, dass die Gefechte von außen in unsere Regionen überschwappen.
Wir wollen auch nicht mehr, dass die Bevölkerung bei Problemen den Staat
um Hilfe anbettelt. Der Staat hat ohnehin nicht mehr die Kraft gesellschaftliche
Probleme zu lösen. Es kommt sogar vor, dass die staatlichen Stellen die
Bevölkerung zu uns verweist, weil sie einfach nicht mit den Problemen
der Bevölkerung klarkommen. Für die Bevölkerung ist das Ganze natürlich
auch etwas ganz Neues. Jahrzehntelang waren sie nur den autoritären Umgang
der Institutionen des Baath-Regimes gewohnt. Und nun gibt es Anlaufstellen,
die selbst aus der Mitte der Bevölkerung entstanden sind und die versuchen
sich der Probleme der Bevölkerung anzunehmen.
Ein Schwerpunkt unserer Arbeit liegt auch auf der Jugend. Bei der Jugendarbeit
setzen wir vor allen Dingen auf Bildung. Insgesamt kann man sagen, dass
die Schwerpunkte unserer Arbeit als Volkshäuser auf familiären Angelegenheiten,
Jugend- und Bildungsarbeit sowie wirtschaftlichen Angelegenheiten liegen.
Wir versuchen quasi Lösungen für die Probleme zu finden, die durch das
Baath-Regime ungelöst gelassen worden sind.
Natürlich haben wir auch unsere Schwächen und diese sind leider nicht
wenig. Vor allem, wenn es um Wasser- und Stromversorgung geht, haben wir
oft Schwierigkeiten. Wir versuchen an diesen Problemen zu arbeiten. Aber
es gibt in den genannten Punkten die Schwierigkeit, dass wir nicht losgelöst
vom Staat handeln können. Das heißt wir können noch keine eigene Wasser-
und Stromversorgung für die Städte bereitstellen. Zudem gibt es aufgrund
des Krieges wirtschaftliche Probleme in der Bevölkerung. Das sind Probleme,
die wir unbedingt angehen wollen. Aber unter den gegeben Umstände fällt
uns das nicht einfach. Aber ich bin guter Dinge, dass wir auch diese Probleme
lösen werden. Wir befinden uns inmitten einer revolutionären Phase und
wir arbeiten wirklich Tag und Nacht, um die Probleme des Volks zu lösen.
Dass die Bevölkerung sehr solidarisch miteinander umgeht und sich gegenseitig
unterstützt, ist natürlich sehr hilfreich für uns alle. Zwar haben manche
Menschen noch gewisse Berührungsängste mit unseren neuen Strukturen, das
sind vor allem einige Männer, die mit den Frauenkomitees und Frauenratsstrukturen
Schwierigkeiten haben. Aber diese werden wir auch noch davon überzeugen,
dass die Befreiung der Frau und die Befreiung der Gesellschaft nur Hand
in Hand vonstattengehen kann.
Das Freiheitsgericht von Kobanî: 300 Fälle in einem Monat
Ahmet Kobanî: Wir sind hier im Freiheitsgericht von Kobanî und
wir sind Mitglieder dieses Gerichts. Zurzeit bestehen wir aus sieben Männern
und drei Frauen. Das hier ist das erste Volksgericht, welches es in Kobanî
je gegeben hat. Als wir uns gegründet hatten, war der Staat noch nicht
so sehr aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt worden. Daher glaubten
wir auch nicht, dass sich dieses Gericht binnen so kurzer Zeit so immens
entwickeln würde. Wir dachten, dass wir es vielleicht mit zwei oder drei
Fällen am Tag zu tun haben würden. Aber es kam anders. Am Ende des Monats
hatten wir uns um ganze 300 Fälle gekümmert. Es gibt viele ungelöste Probleme
innerhalb unseres Volkes und der Staat hat sich diesen nie ernsthaft angenommen.
Dem Staat ging es nur darum, wie er noch mehr Geld aus den Menschen hier
herauspressen kann. Wir haben dem mit unserer Kontrollübernahme direkt
Einhalt geboten. Während zuvor hier in der Gegend Kreditwucherei weit
verbreitet war, haben wir dies direkt verboten. Nun ahndet unser Gericht
diese Fälle. Insgesamt gibt es neun weitere Zweigstellen der Volksgerichte
in den verschiedenen Stadtteilen. Die Fälle werden zunächst dort behandelt.
Wenn sie dort nicht gelöst werden können, kümmern wir uns hier darum.
Muhammed Halit:
Unsere Aufgabe hier ist es nicht die Interessen des Staates zu vertreten.
Wir sind keine Sklaven des Staates. Wir sind Teil der Volksgerichte und
wir versuchen mit aller Kraft die Probleme im Sinne der Bevölkerung zu
lösen. Unsere Rechtsprechung beruht auf den ethischen und moralischen
Grundsätzen der Gesellschaft. Früher war es so, dass hier in den staatlichen
Gerichten das Recht auf der Seite des Mächtigeren war. Uns geht es mit
unserer Tätigkeit darum, dieses Verständnis dem Boden gleich zu machen.
Deshalb haben wir hier auch unsere eigenen Gerichte aufgebaut.
Osman Kobanî: Eines der wichtigsten Probleme in unserer Stadt
ist die Geschlechterfrage. Es gibt Männer, die mehrere Frauen haben. Oft
wertschätzen diese Männer dann auch die Frauen mehr, die Söhne und keine
Töchter gebären. Das ist eine tragische Situation, denn die Frau wird
wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt. Wir als Volksgerichte tragen
auch eine Verantwortung, um dieses Verständnis zu durchbrechen. Die meisten
Fälle, die an uns herangetragen werden und bei denen auch Frauen beteiligt
sind, sind Scheidungsklagen. Wir versuchen für diese Fälle gerechte Lösungen
zu finden. Wenn beide beteiligte eines Falles Frauen sind, leiten wir
den Fall an Yekitiya Star (die Frauenbewegung Westkurdistans) weiter,
weil wir denken, dass Frauen sich der Probleme von Frauen am besten annehmen
können. Unter den ArbeiterInnen unseres Gerichts befinden sich aktuell
auch drei Frauen. Ich hoffe, dass diese Zahl in Zukunft weiter steigen
wird.
Civaka Azad
– Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.
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