Pressemitteilung
der Kampagne Demokratie hinter Gittern zum Verhalten der EU-Institutionen
gegenüber dem Hungerstreik der kurdischen Gefangenen in der Türkei, 18.11.2012
Hungerstreik
beendet, Haltung der EU-Institutionen beschämend - PDF-Datei
Der unbefristete Hungerstreik
der kurdischen politischen Gefangenen in der Türkei ist heute am 68. Tag
beendet worden. Dies ist nicht dem besonderen Engagement europäischer
Institutionen zu verdanken. Was im Verlauf dieser und vorangegangener
Hungerstreiks von ihren VertreterInnen geäußert und unternommen wurde,
muss aus Menschenrechtsperspektive sehr kritisch bewertet werden.
"Ein Hungerstreik ist in einer Demokratie kein akzeptables Mittel.
Wenn ihr ein Ziel habt, solltet ihr euch politisch engagieren und versuchen,
Menschen zu überzeugen." Ria Oomen-Ruijten, Berichterstatterin des
Europäischen Parlaments für die Türkei, Mitglied im Unterausschuss Menschenrechte
[1]
"Ein Hungerstreik ist in einer Demokratie kein angemessenes Mittel,
um seine Forderungen vorzubringen." An die BDP gerichtet: "(...)
sie sollten ihre Forderungen im Parlament vortragen“. Recep Tayyip Erdoğan,
türkischer Ministerpräsident [2]
Oomen-Ruijten, die sich nicht zum ersten Mal zum Sprachrohr der türkischen
Regierung gemacht hat, erklärte weiter an die Adresse der Gefangenen:
„Wenn ihr heute wegen einer Sache in Hungerstreik tretet, tut ihr morgen
das gleiche wegen einer anderen. Das ist inakzeptabel. In Demokratien
ist kein Platz für Unterdrückung und Zwang.“
Angesichts dieser unverantwortlichen Verdrehung der Tatsachen und der
Schuldverlagerung auf die sterbenden Hungerstreikenden, muss ganz offensichtlich
noch einmal daran erinnert werden, dass in der Türkei seit 2009 über 8000
Menschen wegen ihres politischen und gesellschaftlichen Engagements inhaftiert
wurden, darunter 6 kurdische Parlamentsabgeordnete.
In einer Demokratie sollten elementare Menschenrechte wie das Recht auf
Bildung und Verteidigung in der Muttersprache garantiert sein; in einer
Demokratie hat ein Gefangener das Recht, seine Anwälte zu sehen; er genießt
den Schutz vor Folter und anderer grausamer,unmenschlicher oder erniedrigender
Behandlung oder Strafe; in einer Demokratie gilt das Recht auf freie Meinungsäußerung
und politische Organisierung und Betätigung; eine Demokratie respektiert
die Minderheitenrechte; und nicht zuletzt ist eine Demokratie gehalten,
das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu achten.
Die Hungerstreikenden fordern nicht mehr als die Gewährung demokratischer
Grundrechte und die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen
zwischen der kurdischen Freiheitsbewegung und der türkischen Regierung,
also die Aufhebung von Öcalans Isolation.
Dass Gefangene sich gezwungen sahen, zum Hungerstreik als letztem Mittel
zu greifen, ist -neben anderen Versäumnissen- auch der Untätigkeit der
internationalen Gemeinschaft, der Institutionen wie dem Europarat und
seines Committee for the Prevention of Torture (CPT) geschuldet, die zwar
stets beteuern, sie würden die Menschenrechtslage in der Türkei "mit
Sorge verfolgen“, aber keinen wirksamen Druck auf die türkische Regierung
ausüben wollen oder können.
Seit über einem Jahr weiß das CPT von der rechtswidrigen Isolation Abdullah
Öcalans. Bereits im Januar dieses Jahres hatte der Menschenrechtsverein
(IHD) das CPT aufgefordert, Öcalan im Gefängnis zu besuchen, dem zu diesem
Zeitpunkt bereits seit 6 Monaten jeder Kontakt zu seinen Anwälten verweigert
wurde. Um darauf aufmerksam zu machen, waren im Februar dieses Jahres
Gefangene in der Türkei und AktivistInnen in Straßburg in Hungerstreik
getreten.
Nach 7 Wochen beschwor sie der Generalsekretär des Europaparats Thorbjørn
Jagland, „ihr Anliegen ist gehört worden. Wir verfolgen die Angelegenheit
(gemeint ist die Isolation von Abdullah Öcalan) genauestens“, er sei „in
großer Sorge um die Frauen und Männer, die ihre Gesundheit und ihr Leben
riskieren“. Er forderte alle dazu auf, die Hungerstreikenden zur Aufgabe
zu bewegen. Ihre Aktion sei kontraproduktiv, sie „stelle eine Behinderung
der Arbeit der entscheidenden Gremien des Europarates, insbesondere des
CPT dar“, die nur erfolgreich sein würden, „wenn sie ihr Mandat ohne jeden
ungebührlichen Einfluss oder Druck“ ausüben könnten.[3]
Nach damals fast achtmonatiger Isolation Öcalans, eindrucksvollen Protesten,
unzähligen Appellen und Petitionen und gleichzeitiger Untätigkeit des
CPT, stellte die Initiative der KurdInnen in seinen Augen also eine „ungebührliche
Einflussnahme“ dar. Jaglands Äußerung erinnert zudem an die weniger diplomatische
Formulierung Erdogans „Wir lassen uns nicht erpressen“. (Jagland war übrigens
derjenige, der im April nach einwöchigem Hungerstreik der ukrainischen
Oppositionspolitikerin Timoschenko auf deren Gesundheitszustand und Haftbedingungen
aufmerksam machte.)
Die Hungerstreikenden vertrauten damals den Versprechungen und brachen
ihre Aktion nach 8 Wochen ab. Ihre Hoffnungen richteten sich darauf, dass
das CPT während seines einwöchigen Türkei-Aufenthalts im Juni auch Öcalan
besuchen würde.
Das CPT ist das einzige Gremium, das uneingeschränkten Zugang zu allen
Gefängnissen hat. Diese besondere Befugnis hat das CPT nicht dazu genutzt,
den Gesundheitszustand und die Haft- und Besuchsbedingungen von Abdullah
Öcalan im Gefängnis von Imrali zu untersuchen. Nach über einem Jahr fortdauernder
Isolation Öcalans, und nachdem sich die Versprechungen des CPT als inhaltsleer
erwiesen hatten, ergriffen am 12. September erneut kurdische politische
Gefangene die Initiative und traten in einen unbefristeten Hungerstreik,
der heute nach 68 Tagen beendet wurde. Die landesweite und internationale
Unterstützung des Streiks war überwältigend. Doch die türkische Regierung
bewegte sich keinen Millimeter auf die Gefangenen zu, kein Tag verging
ohne Beleidigung und Beschimpfung der Hungerstreikend durch Erdogan und
die türkischen Medien, man nahm ihren Tod billigend in Kauf. Als Reaktion
auf die massiven Proteste kündigte die AKP schließlich eine Neuregelung
des juristischen Verteidigungsrechts in kurdischer Sprache an, die sich
beim genaueren Hinsehen aber als Blendwerk entpuppte. [4] Trotzdem wurde
dieses Täuschungsmanöver von vielen als konstruktiver Beitrag der türkischen
Regierung gepriesen und man machte im gleichen Atemzug die Gefangenen
und ihre Unterstützer für einen möglichen tödlichen Ausgang des Streiks
verantwortlich .
Die letzten Statements und Appelle von Europarat und CPT, mit denen die
Gefangenen zur Aufgabe bewegt werden sollten, glichen denen vom April
bis aufs Wort: „wir verfolgen die Angelegenheit genau, wir betrachten
den Protest mit großer Sorge, ihr Anliegen ist gehört worden, beenden
sie ihre Aktion...“. Dies kann im Rückblick nur als Hinhaltetaktik verstanden
werden.
Den Hungersteikenden nicht nur eine umfassende Unterstützung zu versagen,
sondern ihnen auch noch implizit die Schuld für die Zuspitzung des Konflikts
mit unabsehbarem Ausgang anzulasten, ist infam. Es ist der Versuch europäischer
Institutionen, ihre doppelten Standards, die eigene Untätigkeit und das
eigene Versagen zu verschleiern. Sie sollten sich ernsthaft darum bemühen,
das verloren gegangene Vertrauen der KurdInnen zurück zu gewinnen, da
eine Demokratisierung der Türkei untrennbar mit einer Verhandlungslösung
der kurdischen Frage verbunden ist.
Kampagne Demokratie
hinter Gittern, 18.11.2012
http://demokratiehintergittern.blogsport.de/
[1] http://www.hurriyetdailynews.com/-hunger-strikes-unacceptable-in-democracies-turkey-rapporteur.aspx?pageID=238&nID=34820&NewsCatID=338
[2] http://www.hurriyetdailynews.com/hunger-strikes-are-not-acceptable-in-democracy-turkish-pm-says.aspx?pageID=238&nID=34875&NewsCatID=338
[3] http://hub.coe.int/web/coe-portal/press/newsroom?pager.offset=0&p_p_id=newsroom&_newsroom_groupId=10226&_newsroom_articleId=923189&_newsroom_tabs=newsroom-topnews
[4] http://civakaazad.com/index.php/startseite/195-recht-auf-juristische-verteidigung-in-kurdischer-sprache-ein-entgegenkommen-a-la-akp
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