Die
Doppelstrategie Europas vor dem Hintergrund eines möglichen Friedensprozesses
in Kurdistan
„ […] verfolgt
die PKK weiterhin ihre lang¬jährige Doppelstrategie: bewaffnete Auseinandersetzungen
im Kampfgebiet und ein weitgehend friedliches […] Vorgehen in Europa.“
Jahr für Jahr begegnen
uns diese Worte im deutschen Verfassungsschutzbericht. Zu erwähnen, dass
die PKK seit 1993 insgesamt acht Mal einen einseitigen Waffenstillstand
verkündet hat, diese Friedeninitiativen aber allesamt auf geschlossene
Türen der Türkei gestoßen sind, macht für die Herrschaften des VS in diesem
Zusammenhang natürlich wenig Sinn. Denn wie will man denn mit diesen Tatsachen
das Betätigungsverbot der PKK hierzulande aufrechthalten? Nun hat die
PKK nach dem historischen Aufruf ihres inhaftierten Vorsitzenden Abdullah
Öcalan zum neunten Mal einen Waffenstillstand verkündet. Neben der Frage,
wie die Türkei hierauf reagieren wird, stellt sich selbstverständlich
auch die Frage, wie die europäischen Staaten und die europäischen Gesellschaft
auf diesen erneuten Beweis des Friedenswillens der PKK reagieren werden?
Aus rein wirtschaftlicher Sicht steht es außer Frage, dass die europäischen
Staaten vom Krieg in Kurdistan profitieren. Denn laut Angaben des Stockholm
International Peace Research Institute (SIPRI) rangiert die Türkei auf
der Liste der Länder mit den weltweit größten Militärausgaben auf Rang
15. Da die Türkei als Waffenproduzent nicht sonderlich von sich reden
macht, kann man davon ausgehen, dass sie ihren Waffenbedarf durch Importe
deckt. Nebenbei bemerkt, Deutschland ist auf der Liste der weltweit größten
Waffenexporteure hinter den USA und Russland auf Platz drei.
Aber es sind nicht nur wirtschaftliche Interessen, weswegen der Westen
möglicherweise eine nichtgelöste kurdische Frage bevorzugen könnte, denn
auch aus politischer Sicht mag dieser Umstand den einen oder anderen Vorteil
mit sich bringen. Der Kurdistankonflikt stellt nämlich immer auch einen
Trumpf der westlichen Staaten gegen die Türkei dar. Dieser Trumpf kann
jederzeit nach Belieben gegen die Türkei ausgespielt werden, um von ihr
politische und wirtschaftliche Zugeständnisse zu erpressen. Gleichzeitig
sollen im Idealfall hierdurch auch die KurdInnen an die westlichen Staaten
gebunden und kontrolliert werden. Solch eine Trumpfkarte gibt man in einer
strategisch so wichtigen Region wie dem Nahen und Mittleren Osten nicht
gerne aus der Hand.
Nun stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob nicht die PKK, sondern
vielmehr Deutschland und die übrigen europäischen Staaten im Kurdistankonflikt
eine Doppelstrategie verfolgen? Einerseits werden die Friedensbestrebungen
der PKK und ihres Vorsitzenden Abdullah Öcalan in den europäischen Medien
und von einigen Politikern begrüßt, andererseits werden die Repressionen
gegen kurdische AktivistInnen und PolikerInnen in Europa fortgesetzt,
gar verschärft. Sind das nicht gezielte Versuche, einen möglichen Friedensprozess
zu sabotieren? Hat Europa ein Interesse an der Fortdauer des Konflikts
in Kurdistan? Oder wie lässt sich sonst erklären, dass derzeit so viele
Prozesse gegen kurdische AktivistInnen in Deutschland laufen wie lange
nicht mehr? Wie lässt sich erklären, dass bei koordinierten Festnahmeoperationen,
die durch die französische Staatsanwaltschaft gelenkt werden, kurdische
AktivistInnen in Frankreich, Spanien und zuletzt auch in Belgien festgenommen
werden? Wie lässt sich erklären, dass am 9. Januar, kurz nach dem Besuch
der ersten BDP-Delegation bei Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali, in
Paris drei kurdische Aktivistinnen, von denen mindestens eine nachweislich
unter der Beobachtung der französischen Beamten stand, brutal hingerichtet
werden können? Ist dieser Mord mitten in einer europäischen Hauptstadt
nicht der offensichtlichste Anschlag gegen einen möglichen Friedensprozess?
Während durchaus positive Statements zu einem möglichen Friedensprozess
im Kurdistankonflikt zu hören sind, drängt sich durch die Praxis der europäischen
Staaten der Verdacht auf, dass nicht die PKK, sondern die europäischen
Staaten in dieser Frage eine Doppelstrategie verfolgen.
Es stellt sich also unweigerlich die Frage, ob die europäischen Staaten
aufgrund ihrer wirtschaftlichen und politischen Interessen es nicht lieber
sähen, wenn die kurdische Frage ungelöst bliebe? Es sei daran erinnert,
dass in Deutschland das Betätigungsverbot gegen die PKK im November 1993
ausgesprochen wurde. Im selben Jahr hatte die PKK erstmals einen einseitigen
Waffenstillstand erklärt, den sie aufgrund fortdauernder Angriffe des
türkischen Staates nicht lange halten konnte. Allerdings manifestierte
dieser erste einseitige Waffenstillstand der PKK ihren Willen für eine
friedliche Lösung des Konflikts. Zu dieser Zeit konnte auch bewiesen werden,
dass Waffen aus deutschen Rüstungsbetrieben gegen die kurdische Bevölkerung
eingesetzt werden. Bilder, die das belegen konnten, gingen um die Welt.
Proteste dagegen führten zu einem kurzzeitigen Stopp der Waffenlieferungen
an die Türkei, aber auch zum sogenannten PKK-Verbot. Im Jahr 2002 wurde
schließlich die PKK von der Europäischen Union auf die EU-Liste terroristischer
Organisationen gesetzt. Dieser Schritt wurde unternommen, als sich die
kurdischen Guerillakräfte in einer Phase der Aktionslosigkeit (1999–2004)
befanden. Wichtig ist zu erwähnen, dass die PKK zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme
in die Terrorliste der EU gar nicht existierte. Denn sie hatte zuvor ihre
Auflösung bekanntgegeben. Die Neugründung der PKK geschah erst im Jahr
2004. Allerdings übernahm die neue PKK fortan ausschließlich die Rolle
einer rein ideologischen Partei. Jede Friedensinitiative der kurdischen
Bewegung wurde also mit steigenden Angriffen gegen kurdische Strukturen
und kurdische AktivistInnen durch die Staaten Europas beantwortet.
Aus dem oben genannten wird deutlich: An die europäischen Staaten zu appellieren,
einen möglichen Friedensprozess in Kurdistan zu unterstützen, erscheint
nicht besonders sinnvoll. Stattdessen sollte allerdings an die demokratische
Öffentlichkeit Europas, an die Friedensbewegung, an fortschrittliche Kreise
der Gesellschaft appelliert werden, sich mit den KurdInnen gemeinsam für
einen gerechten Frieden einzusetzen. Wenn gewollt ist, dass von Europa
aus gemeinsam ein möglicher Friedensprozess in Kurdistan unterstützt werden
soll, muss auch von kurdischer Seite die Gesellschaft hier über ihre Situation
und ihre Ziele aufklärt werden. Die europäische Gesellschaft ist zumeist
nicht darüber informiert, in welcher Weise und in welchem Ausmaß ihre
Staaten weltweit in Kriege und Konflikte wie in Kurdistan verwickelt sind.
Dass durch europäische Waffen und Soldaten aus Europa weltweit Menschenrechtsverletzungen
begangen werden, um die wirtschaftlichen und politischen Interessen auszubauen
oder zu wahren, wird der eigenen Bevölkerung allzu gerne vorenthalten.
Hier muss ein Weg gefunden werden, um sich gemeinsam dagegen in Bewegung
setzen zu können.
Ein wichtiger Schritt, wenn wir die Lösung der kurdischen Frage von hier
aus unterstützen wollen, ist die Aufhebung des PKK-Verbots in Deutschland,
ihre Streichung von der EU-Terrorliste und ein damit einhergehendes Ende
der Kriminalisierung kurdischer AktivistInnen in Europa. Aber Erfolge
in dieser Frage werden nicht dadurch erreicht, indem an die „Vernunft“
der europäischen Staaten appelliert wird. Schritte in diese Richtung könnten
dadurch erreicht werden, indem die Menschen in Europa von der Notwendigkeit
einer Lösung der kurdischen Frage überzeugt werden, sodass diese die „Kurdistanpolitik“
ihrer jeweiligen Staaten kritisch verfolgen und ihre Regierungen gegebenenfalls
zu Kurskorrekturen zwingen. So kann die Doppelstrategie der europäischen
Staaten gestoppt und ein Beitrag für den Frieden in Kurdistan geleistet
werden.
ISKU | Informationsstelle
Kurdistan, April 2013
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