Gerät
der Lösungsprozess ins Stocken?
Die türkische
Regierung kommt ihren Aufgaben im Lösungsprozess nicht nach
von Mako Qocgiri,
Mitarbeiter von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit
e.V., 21.06.2013.
http://civakaazad.com/index.php/427-geraet-der-loesungsprozess-ins-stocken.html
Auf den Tag genau
vor drei Monaten wurde der Aufruf des auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten
PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan vor über einer Million Menschen in Amed
vorgetragen. Die türkischen Fernsehsender trugen die Message per Liveübertragung
auch in die Wohnzimmer der türkischen Haushalte, und selbst in den internationalen
Medien fand die Ansprache Öcalans breiten Widerhall.
Öcalan verkündete „Heute beginnt einen neue Ära “ und „Eine Tür öffnet
sich von der Phase des bewaffneten Widerstands zur Phase der demokratischen
Politik“. Vor dem Newrozfest hatte Öcalan erneut monatelang mit Mitgliedern
des türkischen Geheimdiensts, die im Auftrag der AKP-Regierung bei ihm
waren, Gespräche und Verhandlungen geführt. Auch mit Delegationen der
Partei für Frieden und Demokratie (BDP) führte Öcalan lange Gespräche.
Über die BDP-Delegationen gab es auch einen Briefverkehr zwischen Imrali
und der PKK-Führung auf den Kandilbergen.
Aus dem regen Dialogverkehr rund um die Gefängnisinsel Imrali entwickelte
sich erneut die Hoffnung auf eine Lösung der drängendsten Frage der Türkei.
Durch die Initiative Abdullah Öcalans wurde die Tür hierfür aufgestoßen.
Nun mussten die PKK, die BDP und die türkische Regierung die Initiative
ergreifen. Doch was ist in den vergangenen drei Monaten für die Lösung
geschehen? Wer hat was gemacht? Es ist Zeit für eine Zwischenbilanz.
Erste Stufe des Lösungsprozesses
– Die PKK erfüllt ihre Aufgaben
Öcalans Vorschlag für den Lösungsprozess sieht drei Schritte vor. Für
die kurdische Seite richtet sich ihr Verhalten nach der von Öcalan verkündeten
Roadmap und auch die türkische Regierung hat bislang keine ablehnende
Haltung gegen Öcalans Vorschlag geäußert. Im Gegenteil, denn Öcalan hatte
die Roadmap für Verhandlungen bereits während des damals gescheiterten
Dialogprozesses zwischen ihm und dem Staat im Zeitraum von 2009 und 2011
zu Papier gebracht und damals hatte der Sonderbevollmächtigte von Ministerpräsident
Erdogan, Hakan Fidan, geäußert, dass Erdogan zu 90-95% mit der Roadmap
Öcalans konform geht.
Der „Demokratische Lösungsplan“ Öcalans sieht in der ersten Stufe zunächst
ein beidseitiges Schweigen der Waffen vor. Um zu verdeutlichen, dass die
kurdische Seite es mit diesem Prozess ernst meint, hat er gar darum gebeten,
dass die Guerillakräfte sich aus den Gebieten Nordkurdistans zurückziehen.
Die PKK folgte der Aufforderung ihres Vorsitzenden und verkündete am 8.Mai,
dass sie mit dem Rückzug ihrer bewaffneten Kräfte beginnen wird. Auch
wenn der Rückzug im vollen Gange ist, wird er sich aufgrund der zum Teil
großen Distanz zur Grenze nach Südkurdistan (Nordirak) bis in den Herbst
hineinziehen. Doch die Waffen der kurdischen Seite schweigen. Und abgesehen
von einigen militärischen Aktionen der türkischen Seite ist es bisher
auch zu keiner schwerwiegenden bewaffneten Auseinandersetzung zwischen
beiden Seiten gekommen. Da der bewaffnete Kampf zur Ruhe gekommen ist,
sollte es mit der zweiten Stufe des Lösungsplans weitergehen.
Zweite Stufe des Lösungsprozesses
– Wenig Bewegung aufseiten der Regierung
Musste bei der ersten Stufe die PKK ihrer Verantwortung für einen Lösungsprozess
gerecht werden, so muss in der zweiten Stufe vor allem die türkische Regierung
ihren Friedens- und Lösungswillen unter Beweis stellen. Nachdem die kurdische
Seite ihrerseits durch den Rückzug ihrer Kräfte den Weg für eine politische
Lösung geräumt hat, soll nun die türkische Regierung dasselbe tun. Doch
daran hapert es derzeit. So erklärt, der KCK-Exekutivratsvorsitzende Murat
Karayilan, dass der türkische Staat mit seiner derzeitigen Haltung den
Prozess sabotiert. Auch der BDP Co-Vorsitzende Selahattin Demirtas machte
vor dem Hintergrund der Reaktion der AKP-Regierung auf die Demokratiebewegung
im Land, die durch die Proteste rund um den Gezi Park ausgelöst worden
sind, dass mit der derzeitigen Mentalität der Regierung keine Lösung erzielt
werden kann. Auch sonst bewegt sich die AKP derzeit herzlich wenig auf
die kurdische Seite zu. Im Rahmen der zweiten Stufe stellt die kurdische
Bewegung noch vor den Diskussionen um eine neue Verfassung, welche zur
vollständigen Lösung der kurdischen Frage und zur Demokratisierung der
Türkei beitragen soll, die folgenden dringenden Forderungen in Richtung
AKP, damit der Lösungsprozess voranschreiten kann:
• Aufhebung der Isolationsbedingungen
von Abdullah Öcalan
Abdullah Öcalan ist auf der kurdischen Seite der wichtigste Akteur im
gegenwärtigen Lösungsprozess. Die kurdische Freiheitsbewegung und der
größte Teil der kurdischen Bevölkerung hat vollstes Vertrauen in seine
Person. Damit der gegenwärtige Prozess auf einer gesunden Basis voranschreiten
kann, bedarf es deshalb Kommunikationswege zwischen Öcalan und den Organisationen
der kurdischen Freiheitsbewegung. Hierfür müssen die Isolationsbedingungen
Öcalans auf der Gefängnisinsel Imrali aufgehoben werden.
• Militärische Aktivitäten
vollständig einstellen
Zwar hat auch das türkische Militär nach Ankündigung des Rückzugs der
kurdischen Guerillakräfte ihre militärischen Aktivitäten deutlich zurückgeschraubt,
komplett eingestellt haben sie diese allerdings noch nicht. So berichten
die ersten Guerillagruppen, die bereits im Rahmen des Rückzugs die von
der PKK kontrollierten Gebiete in Südkurdistan erreicht haben, dass sich
der Rückzug durch die militärischen Bewegungen der türkischen Armee erschwert
und verzögert haben. Sie berichten, dass sie große Mühen aufbringen mussten,
um Gefechtssituationen, die zu einem Abbruch des Prozesses führen könnten,
zu vermeiden. Neben den Truppenbewegungen hat die türkische Armee auch
ihre Drohnenflüge über den Gebieten der PKK nicht eingestellt. Dies wird
von der kurdischen Seite als eine provokative Haltung gegen einen Lösungsprozess
gewertet.
• Keine neuen Dorfschützer
und Militärkasernen
Irritierend, wenn man von einem Lösungsprozess spricht, wirken auch die
Ankündigungen auf türkischer Seite, dass neue Militärkasernen in den kurdischen
Regionen errichtet und neue Dorfschützerverbände eingestellt werden sollen.
Diese Ankündigungen zeugen eher von einer Kriegsmobilisierung. Die kurdische
Bewegung stellt sich nicht allein gegen die Ankündigungen, sondern sie
fordert auch, dass alle Dorfschützer entlassen und die Zahl der Militärkasernen
im Sinne einer friedlichen Zukunft deutlich vermindert werden müssen.
• Haftentlassungen
für KCK-Gefangene und kranke Inhaftierte
Die KCK Festnahmewellen sind noch sehr frisch in der Erinnerung der kurdischen
Gesellschaft. Ab April 2009 wurden fast täglich Dutzende kurdische politische
AktivistInnen bei Razzien und Hausdurchsuchungen festgenommen. Die kurdische
Seite bezeichnete diese Operationen, durch die zeitweise bis zu 10.000
Menschen verhaftet wurden, als politischen Genozid. Die meisten Verfahren
gegen die KCK-Gefangenen dauern gegenwärtig noch an. Die Forderung der
kurdischen Seite lautet klar und deutlich, dass diese Menschen aus der
Haft entlassen werden müssen. Will man den politischen Raum in der Türkei
öffnen, müssen die politischen AktivistInnen der kurdischen Seite auch
in Freiheit sein.
Auch die Situation der kranken Inhaftierten steht weit oben auf der Tagesordnung
der kurdischen Seite. Gegenwärtig befinden sich 411 kranke Gefangene,
von denen sich 122 an der Schwelle zum Tod befinden, (Quelle: IHD, Stand
7.Juni) in den türkischen Gefängnissen. Die Forderung nach Haftverschonung
für diese Menschen stößt derzeit auf taube Ohren des türkischen Justizministeriums.
Wie weiter?
Beim letzten Besuch der BDP-Delegation bei Abdullah Öcalan auf Imrali
am 07.Juni kündigte Selahattin Demirtas an, dass Öcalan in den nächsten
15 Tagen eine ausführliche Stellungnahme zum gegenwärtigen Stand im Lösungsprozess
verkünden will. Diese Erklärung müsste also in den kommenden Tagen an
die Öffentlichkeit gelangen, doch dieser Tage hat das Justizministerium
noch keine Besuchserlaubnis für eine BDP-Delegation bei Öcalan ausgestellt.
Sicherlich wird bei der Bewertung Öcalans die antidemokratische Haltung
der AKP-Regierung bei den Gezi Aufständen eine wichtige Rolle spielen.
Denn schließlich sieht die kurdische Seite im Rahmen eines Lösungsprozesses
eine weitgehende Demokratisierung der Türkei vor. Wie weit die jetzige
türkische Regierung aber davon entfernt ist, hat sie durch ihren Umgang
mit den landesweiten Protesten der ganzen Welt eindrucksvoll unter Beweis
gestellt.
Um die Demokratisierung der Türkei wird es bei den Diskussionen um eine
neue Verfassung gehen, die ebenfalls Teil des zweiten Schrittes des Lösungsprozesses
sind. Aber sollten die oben genannten Forderungen nicht erfüllt werden,
wird es vermutlich zu diesen Diskussionen gar nicht erst kommen. Am 20.
Juni haben sich zwar Mitglieder der BDP-Fraktion und der Regierungsvertreter
bezüglich der dringenden Forderungen zusammengesetzt. Doch wenn man die
Aussagen des BDP Co-Vorsitzenden Demirtas nach dem Treffen liest, scheint
auch hier nicht der große Sprung im Lösungsprozess erreicht worden zu
sein.
Reißt sich die türkische Regierung nicht zusammen, droht sie erneut eine
historische Gelegenheit für die Lösung der kurdischen Frage aus der Hand
zu geben. Abschließen möchte ich mit einem Zitat des KCK-Exekutivratsvorsitzenden
Murat Karayilan, in welchem er unterstreicht, wer die Verantwortung für
ein mögliches Scheitern des Prozesses trägt:
„Wir sagen offen und ehrlich: Wenn der Staat und die Regierung die kurdische
Frage lösen wollen, müssen sie ernsthaft handeln. Es ist die Zeit praktischer
Schritte. Wenn sie das nicht tun, wird der Prozess ins Stocken geraten.
Und wenn er dann schließlich stoppt, ist der Staat allein dafür verantwortlich.
Von nun an hängt der Prozess vom Verhalten der AKP-Regierung ab. Wir haben
nämlich alles getan, was wir bisher im Rahmen einer Lösung tun können.
Und wenn der Staat nicht darauf reagiert, müssen wir die Situation überdenken
und unser weiteres Vorgehen neu bestimmen.“
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