Abhörskandale,
Korruptionsaffären und Kommunalwahlen …
Türkei: Eine Alternative
zum derzeitigen System bietet nur die BDP/HDP
Eine Analyse von
Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e. V.
Begleitet von chaotischen politischen
Verhältnissen nähern sich in der Türkei die Kommunalwahlen. Die Wahlen
finden am 30. März statt, doch anstatt, dass sich die politischen Parteien
dem Wahlkampf widmen, sind alle derzeit damit beschäftigt, sich mit möglichst
geringem Schaden aus den derzeit turbulenten Wochen in der politischen
Arena herauszuwinden. Korruptionsaffären, ein tobender Machtkampf zwischen
Gülen und AKP, Abhörskandale und Tonbandaufnahmen bestimmen die Tagesordnung
in der Türkei. Jeden Tag ein neuer Skandal, immer neue Namen von Politikern
aus der Regierungs- und Oppositionskreisen, die mit in den Skandalsumpf
hineingezogen werden.
Machtstreit zwischen AKP und
Orden Gülens
Betrachten wir zunächst einmal die Regierungspartei AKP: Dem türkischen
Ministerpräsidenten Erdogan ist in den letzten Monaten nicht nur sein
einstiger Bündnispartner abhandengekommen, dieser hat sich zudem noch
zu seinem Erzfeind entwickelt. Hatte der international gut organisierte
Orden des Predigers Fethullah Gülen seit der Gründung der AKP 2001 die
Partei mit allen Mitteln unterstützt, so ist diese Zusammenarbeit am Anfang
dieses Jahres zu einem jähen Ende gelangt. Erdogan ist dem Gülen-Orden
zu mächtig geworden und umgekehrt ebenso. Es ist ein Machtkampf um Posten
und Interessen in der Türkei ausgebrochen, wie aus dem Bilderbuch. Erdogan
hat den Beschluss gefasst, die Schulen Gülens zu schließen und den Polizei-
und Justizapparat von Gülen-Mitgliedern zu säubern. Der Orden Gülens hat
daraufhin einige seiner Abgeordneten aus den Reihen der AKP abgezogen
und, wie das so üblich ist, wenn Zweckgemeinschaften unschön enden, damit
angefangen, die schmutzige Wäsche des Ex-Partners scheibchenweise der
Öffentlichkeit zur Schau zu stellen. Die Folge dessen ist, dass nun die
türkische und internationale Öffentlichkeit darüber informiert worden
ist, dass die türkische Regierungspartei, die über die Jahre gerade durch
ihr Image als Saubermann so viel Rückhalt in der türkischen Bevölkerung
gesammelt hat, anscheinend doch nicht ganz so sauber ist. Fast schon wöchentlich
tauchen neue Telefonmitschnitte von irgendwelchen Regierungsverantwortlichen
auf Youtube auf, die immer neue Dimensionen eines Korruptionsskandals
offenbaren. Dass die AKP aber nicht erst seit heute korrupt ist, sondern
es die ganze Zeit schon war, und dass die Mitglieder des Gülen-Ordens,
als es zwischen AKP und Gülen gut lief, das toleriert oder gar aktiv mitgemacht
haben, wird natürlich von keiner der beiden Streithähne eingestanden.
Die türkische Regierungspartei AKP will die anstehenden Kommunalwahlen
auf alle Fälle dazu nutzen, um zu beweisen, dass ihr ein gewisser Herr
aus Pennsylvania, dort lebt Gülen nämlich seit knapp 15 Jahren, nichts
anhaben kann. Zwar wagt es niemand abzuschätzen, wie groß das Wählerpotential
der Gülen-Gemeinde in der Türkei ist. Aber es ist davon auszugehen, dass
die AKP die ganzen Krisen und Skandale nicht unbeschadet überstehen wird.
CHP auf der Suche nach politischer
Identität
Man dürfte meinen, dass daraus die größte Oppositionspartei der Türkei
Potential schlagen können müsste. Doch das ist anscheinend nicht der Fall,
wenn diese Republikanische Volkspartei (CHP) heißt. Die CHP weist kein
klares Profil auf, niemand weiß, was sie so recht will. Eigentlich gilt
die Partei als Hüterin des Laizismus, doch nach der Trennung von Gülen
und Erdogan liebäugelt sie nun selbst mit dem islamischen Orden. Dem Bürgermeisterkandidaten
der CHP in Istanbul, ein gewisser Mustafa Sarigül, der 2005 selbst nach
einem verlorenem Machtkampf mit dem damaligen Vorsitzenden der Partei
Deniz Baykal die CHP verließ, und nun wieder zurück ins Boot gekehrt ist,
wird eine starke Nähe zur Gülen Bewegung nachgesagt. Aus Tonbandaufzeichnungen
(welch Überraschung!?) geht hervor, dass Gülen höchstpersönlich seine
Unterstützung für Sarigül zugesagt habe. Auf der anderen Seite gibt sich
die CHP als sozialdemokratische Partei aus, hat aber in der türkischen
Hauptstadt einen gewissen Herrn Mansur Yavas als Bürgermeisterkandidaten
aufgestellt, der zwischen 1999 und 2013 Mitglied der rechtsradikalen MHP
und für diese Partei Bürgermeister des Stadtteils Beypazari in Ankara
war. Die CHP tritt bei den anstehenden Wahlen mit dem Slogan „die vereinende
Partei“ an. Sie will anscheinend sowohl die SympathisantInnen der Gezi-Park-Bewegung
ansprechen, als auch die ultranationalistischen Kreise. Sie will sowohl
die Laizisten im Land ansprechen, als auch die SympathisantInnen der Gülen-Bewegung.
Wer so viele von Grund auf entgegengesetzte Teile der Gesellschaft ansprechen
will, verliert nicht nur sein Profil, sondern droht am Ende rein niemanden
mehr wirklich ansprechen zu können. Und genau auf diese Weise gelingt
es der CHP trotz der andauernden Krise in der Regierungspartei als größte
Oppositionspartei nicht an Boden gutzumachen, sondern die eigene Basis
zu verlieren.
MHP: Warum Demokratisierung,
wenn es mit Nationalismus auch geht?
In den Reihen der Mainstreamparteien scheint allein die nationalistische
MHP aus diesem Chaos gestärkt hervorzutreten. Viele Wahlprognosen zeigen,
dass in Phasen politischer Krisen die platten Slogans der türkischen Rechten
in der Bevölkerung stärker fruchten. Auf Grundlage der Ängste der Bevölkerung
stilisiert sich die MHP zum vermeintlichen Retter der Türkei. „Die regierende
AKP steckt in einem geheimen Bündnis mit der PKK und verkauft die Türkei“,
es sind Plattitüden wie diese, mit denen die Rechten derzeit Politik betreiben.
Und das anscheinend nicht ganz ohne Erfolg. Doch ob solch eine Politik
auch lösungsorientiert ist, ist mehr als zweifelhaft.
Der Lösungsprozess der kurdischen
Frage und die Kommunalwahlen …
Was eine mögliche Lösung der kurdischen Frage angeht, tut sich derzeit
in der Türkei herzlich wenig. Die regierende AKP ist, wie oben beschrieben,
eher mit sich selber beschäftigt und verweist darauf, dass sie nach den
Wahlen sich wieder um die Thematik kümmern wolle. Doch obwohl noch vor
den Wahlen der Waffenstillstand zwischen den kurdischen Guerillakräften
und der türkischen Armee sein erstes Jahr vollendet, mangelt es an politischen
Schritten für eine Lösung in der kurdischen Frage. So wurde beispielsweise
die Situation von tausenden politischen Gefangenen, darunter annähernd
200 schwerst Erkrankte, noch nicht einmal von der Regierung diskutiert.
Während die AKP also auf Zeit
spielt, und viel von einer Lösung redet, aber wenig Praktisches leistet,
hat die CHP keinerlei Konzepte für die Lösung der kurdischen Frage. Und
wenn es nach der MHP geht, gibt es solch eine Frage erst gar nicht.
Was macht man nun in solch
einer verfahrenen Situation, in der die politischen Verantwortlichen die
wohl wichtigste Frage der Türkei nicht angehen wollen? Richtig, man nimmt
das Heft selbst in die Hand. Und genau mit dieser Haltung tritt die Partei
für Demokratie und Frieden (BDP) zu den Wahlen an. Sie hat seit Beginn
des Lösungsprozesses als friedenspolitische Kraft immer wieder versucht
den stockenden Prozess voranzubringen, die kurdische Bevölkerung zur Geduld
zu mahnen und die regierende AKP zum Handeln zu drängen. Für diese Haltung
wird sie voraussichtlich am 30. März belohnt werden, denn laut Umfragen
wird sie in allen kurdischen Orten ihren Stimmanteil deutlich steigern.
Aber frei nach dem Motto, wenn die Regierung keine Lösung will, schaffen
wir uns selbst unsere Lösung, tritt die BDP zu diesen Wahlen nicht nur
als eine Partei an, die bloß eine Lösung fordert, sondern diese in ihren
Hochburgen gemeinsam mit der Bevölkerung selbst umzusetzen vermag.
Überwindung von Zentralismus:
Doppelspitze bei BürgermeisterInnenwahlen
Erstmals tritt die BDP mit Doppelspitzen zu den BürgermeisterInnenwahlen
an. Das bedeutet, dass es in den Orten, in denen die BDP mit den meisten
Stimmen gewählt wird, wird es fortan eine Frau und einen Mann als Bürgermeister/in
geben. Die Doppelspitze für den Posten der/s Bürgermeisterin/s ist eine
Neuheit, und das vermutlich weit über die Türkei hinaus. Doch sie ist
zugleich auch der nächste konsequente Schritt in Richtung im Projekt einer
geschlechterbefreiten Gesellschaft, wie es sich die kurdische Bewegung
auf die Fahnen geschrieben hat. Es war die verbotene Vorgängerpartei der
BDP, die Demokratische Gesellschaftspartei (DTP), die das Co-Vorsitzendensystem
erstmals für die Parteispitze umsetzte. Damals sorgte dieser Schritt für
einigen Wirbel in der türkischen Politik, selbst die türkische Justiz
schaltete sich ein. Doch sowohl die DTP als auch später die BDP beharrten
auf der Doppelspitze, bis schließlich im Herbst 2013 im Rahmen des „Demokratisierungspakets“
die AKP die Doppelspitze für Parteien legalisierte. Es bleibt abzuwarten,
wann die türkische Regierung auch bei der Doppelspitze für den BürgermeisterInnenposten
einknickt und dem Ganzen eine rechtliche Form gibt. Eine andere Zahl,
die eindrucksvoll unter Beweis stellt, dass die BDP eine Vorreiterrolle
in Sachen Geschlechterbefreiung einnimmt, ist der Anteil der Frauen für
die Wahl der Stadtverordnetenräte, die auch am 30. März neu zusammengesetzt
werden. Ganze 48 % der KandidatInnen der BDP für die Stadtverordnetenräte
sind nämlich Frauen.
Die Geschlechterfrage ist sicherlich
das Vorzeigethema der kurdischen politischen Bewegung, wenn es darum geht,
wie der Aufbau einer freien Gesellschaft aussehen könnte. Die Umsetzung
der eigenen Lösung ist aber noch vielschichtiger. Demokratische Autonomie
heißt das Konzept, mit dem sich die Bevölkerung demokratisch selbst verwalten
soll. Genau so wie die Errungenschaften der KurdInnen in Rojava (Nordsyrien)
könnte ein starkes Auftreten bei den anstehenden Kommunalwahlen diesem
Konzept Auftrieb geben. Ziel ist es, durch kommunale Rätestrukturen der
Bevölkerung maximale Möglichkeiten zur demokratischen Teilhabe zu ermöglichen.
Der Kandidat für Co-BürgermeisterInnenposten in Amed (Diyarbakir) Firat
Anli beschreibt am Beispiel für seine Stadt dieses System so:
„Es [gibt] beispielsweise im
Stadtzentrum von Amed 54, in der ganzen Provinz sogar 950 Stadtviertel.
Wir wollen also in 950 Stadtvierteln Räte aufbauen. Und die Delegierten
aus diesen 950 Räten kommen im Stadtrat zusammen. Außerdem auch die VertreterInnen
der Frauenräte, der Jugendräte, der Kinderräte, der Behindertenräte und
weiterer Räte, die je nach Bedürfnis und Interesse gegründet werden können.
Im Stadtrat treffen also alle sich in Form von Räten organisierten Strukturen
zusammen.“
Und die gewählten Bürgermeisterinnen
und Bürgermeister sind ebenfalls ganz normale Mitglieder dieses Stadtrats
und müssen ihm Rede und Antwort stehen.
Macht- oder Systemfrage?
Derzeit fragen sich viele, wie sich die kurdische Freiheitsbewegung in
dem ganzen Clinch zwischen der AKP und der Gülen-Gemeinde positioniert.
Erneut schwebt, wie schon bei den Gezi-Protesten, der Verdacht in der
Luft, dass die kurdische Bewegung sich bei der Korruptionsaffäre nicht
gegen Erdogan stellen wolle, um ihren Verhandlungspartner im Lösungsprozess
zu schwächen. Doch ebenso wie bei den Gezi-Protesten ist diese Vermutung
wieder danebengegriffen. „Wir haben noch vor dem 17. Dezember (das Datum,
als die Korruptionsaffäre die türkischen Schlagzeilen erschütterte) das
Thema auf die Tagesordnung gebracht, aber kein Staatsanwalt hat dagegen
ein Verfahren eingeleitet“, erklärt der BDP-Co-Vorsitzende Selahattin
Demirtas. Womit wir es derzeit in der Türkei zu tun haben, ist eine tiefgreifende
politische Krise infolge eines erbittert geführten Machtkampfes. Was die
politischen Akteure der Türkei (und vermutlich auch anderswo) nicht begreifen
wollen, ist, dass das Problem nicht die AKP, der Gülen-Orden, die CHP
oder die MHP ist. Sie sind alle lediglich Akteure eines politischen Systems,
das selbst die politischen Krisen produziert. Deswegen stellt die kurdische
Freiheitsbewegung die Systemfrage. Was hat die Systemfrage mit den Kommunalwahlen
zu tun, mag man sich jetzt vielleicht fragen. Hierzu muss unterstrichen
werden, dass die kurdische Freiheitsbewegung nicht allein die Frage nach
dem System stellt, sie baut zugleich aktiv ihre Alternative auf. Ein erfolgreiches
Abschneiden bei den Wahlen am 30. März stellt insofern auf dem Weg zum
Aufbau dieser Alternative einen Etappenerfolg dar. „Die anstehenden Wahlen
sind ein Referendum für die Demokratische Autonomie“, heißt es immer wieder
auf Wahlkampfveranstaltungen der BDP. Genau hierin liegt die Bedeutung
der Kommunalwahlen, nicht mehr und auch nicht weniger.
Und die Systemfrage wird nicht
allein in den kurdischen Gebieten der Türkei gestellt. Beflügelt vom Geist
der Gezi-Proteste wird die Demokratische Partei der Völker (HDP) bei diesen
Kommunalwahlen auf die politische Bühne der Türkei treten. Sie will die
Stimme allderjenigen vertreten, die vom System der Türkei bislang ignoriert,
ausgeschlossen und unterdrückt wurden. Allein in Istanbul wird ihr Stimmanteil
voraussichtlich mehr als 10% betragen. Doch mit der HDP wollen wir uns
in einem eigenen Artikel beschäftigen.
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