Kommunalwahlen Türkei 2014 Wahlbeobachtungsdelegation Adana In Adana sind traditionell die CHP und die MHP die stärksten Parteien. Wir konzentrierten uns auf den Stadtteil Seyhan, in dem die HDP größere Unterstützung genießt und mit 65 KandidatInnen angetreten ist. Seyhan ist einer von drei Stadtteilen mit einem hohen kurdischen Bevölkerungsanteil von 65-70%. In Seyhan gibt es 500.000 Wahlberechtigte. Es gab im Vorfeld der Wahlen Übergriffe auf Wahlkampfbüros der HDP (eingeworfene Scheiben, abgerissene Fahnen). Schon am Morgen des Wahltags wurde von Stromausfällen in Seyhan berichtet. Nachdem etwa 100 syrische Flüchtlinge mit fragwürdigen Wahlberechtigungsscheinen gewählt hatten, entstand Unruhe, der Strom fiel aus und unter diesem Vorwand wurde das Gebäude geräumt. Im Laufe des Tages wurden immer wieder die Befürchtung geäußert, dass es wie in der Vergangenheit besonders bei der Auszählung am Abend zu Stromausfällen kommen könnte. Uns wurde berichtet, dass zahlreiche (inoffizielle) WahlbeobachterInnen der HDP in Bezirken, in denen der kurdische Bevölkerungsanteil eher niedrig ist, der Zutritt zu den Wahllokalen verwehrt wurde. Eine Besonderheit im türkischen Wahlgesetz sieht vor, dass eine Partei erst dann offizielle WahlbeobachterInnen stellen kann, wenn sie bereits einmal bei Wahlen angetreten ist. Wir haben sieben Schulen besucht, in denen jeweils etwa 20 Wahllokale untergebracht waren. In ausnahmslos allen Schulen hielten sich auffällig viele uniformierte und zivile Polizisten auf. Verstoßen wurde überall gegen die Bestimmung im Wahlgesetz, die besagt, dass Polizeibeamte einen Mindestabstand von 15 Metern zu Wahlurnen einhalten müssen. In zahlreichen Wahlräumen hielten sich Polizeibeamte auf. Die jeweils zuständigen Wahlleiter haben in keinem Fall den Verstoß gegen diese Regel beanstandet und die Anwesenheit der Polizei geduldet. Auch gegen das Abstandsgebot von 100 Metern vor dem Wahlgebäude für bewaffnete Polizisten wurde bei jedem der von uns besuchten Wahllokale verstoßen. Einzig HDP-BeobachterInnen protestierten gegen diese Einschüchterungsversuche und hatten in einigen Fällen auch Erfolg, sodass sich die Polizei zurückzog. Uns wurde davon berichtet,
dass Kranke und Behinderte nicht von Angehörigen zur Stimmabgabe begleitet
werden durften. Dies ist ein klarer Verstoß gegen das Wahlgesetz. (Foto:
alte Frau im Auto) In einem der Wahllokale stellte die „Fremden“-Polizei unsere Personalien fest. Zur Begründung sagten die Beamten, ohne türkischen Pass dürfe man sich nicht in Wahllokalen aufhalten(!). Wir hatten den Eindruck, dass sich unsere Anwesenheit bei der Polizei herumgesprochen hat, sie genau wussten, welche Wahllokale wir als nächstes besuchen und sie sich kurz vor unserem Eintreffen teilweise aus den Fluren und Wahlräumen zurückgezogen hatten. Dieser Eindruck wurde uns von den vor Ort anwesenden HDP-Beobachtern und WählerInnen bestätigt („Eben waren noch ganz viele Polizisten auf den Fluren“). Eine Rechtsanwältin der HDP berichtete, dass dort, wo die HDP erfolgreich sein könnte, von AKP-Verantwortlichen ohne jegliche Belege bereits schriftliche Beschwerdeanträge formuliert wurden, die unmittelbar nach Urnenschluss dem Wahlleiter zur Unterschrift vorgelegt werden können, der so eine Annullierung der Wahl in dem betreffenden Wahllokal beantragen kann. Am späteren Nachmittag wurden an zwei Schulen im Stadtteil Kirec Ocagi Mahallesi länger andauernde Stromausfälle gemeldet und wir fuhren dort hin. Unsere Begleiter meinten, es sei kein Zufall, dass es an einem solchen Tag zu solchen Ausfällen komme. Bei vorangegangenen Wahlen dies auch passiert. „Wer kann genau sagen, was in zwei Stunden Dunkelheit mit unseren Stimmen passiert?“. Als wir in der ersten
Schule ankamen, lag das Viertel noch im Dunkel. Erst kurz zuvor wurden
in den Wahllokalen LED-Lampen verteilt und die Auszählung fortgesetzt.
Was zwischenzeitlich dort geschah, konnte oder wollte uns niemand berichten.
In fast jedem Wahllokal hielt sich ein Polizist auf. Ein Wahlleiter wurde
von unserem Begleiter gefragt, warum der Polizist den 15-Meter-Abstand
nicht einhalte und sich noch dazu Notizen über die Stimmauszählung mache.
Die Antwort des Wahlleiters: „Ich dachte, er ist Wahlbeobachter, außerdem
sorgt er doch bloß für unsere Sicherheit.“ In der wenige Meter entfernten
Mevlana-Schule waren nach Beginn des Stromausfalls die Türen abgeschlossen
worden und wir wurden erst eingelassen, nachdem unsere Begleiter die Worte
„Europa“ und „Menschenrechte“ erwähnten. Der für das Schulgebäude verantwortliche
Schulleiter beteuerte, dass der Stromausfall nur 15 Minuten gedauert habe
(andere sprechen von zwei Stunden) und alles reibungslos verlaufen würde
und wollte gerne wissen, was man in Deutschland mache, wenn bei Wahlen
der Strom ausfalle(!). Alle wollten hier Demokratie und Unregelmäßigkeiten
oder Wahlbetrug seien völlig ausgeschlossen. Zum Beweis wurden wir kurz
darauf aus einem der Wahllokale herausgeworfen. Die ganze Situation in
dem dunklen Gebäude, in dem die Auszählung weiter lief, hatte etwas Gespenstisches,
in jedem Wahllokal saß mindestens ein Polizist und niemanden störte dies.
Die Selbstverständlichkeit, mit der die Polizei sich hier bewegte, Regeln
ignorierte und die noch immer tief verwurzelte Autoritätshörigkeit trat
an diesem Wahltag wieder einmal deutlich zutage. Im Anschluss fuhren wir zum zentralen Auszählungsort für den Bezirk, weil neben dem Transport der Wahlzettel die zentrale Registrierung und Weitergabe nach Ankara als Schwachstelle für eine mögliche Wahlmanipulation betrachtet werden. Die HDP hatte beim Wahlgericht den Antrag gestellt, fünf Beobachter zu stellen, was bewilligt wurde. Zusammengefasst betrafen die größten Befürchtungen in Adana die hohe Polizeipräsenz, den Transport der ausgezählten Stimmen zum Bezirkswahlamt und deren zentrale Weitergabe an den Obersten Wahlrat in Ankara. Unsere Präsenz konnte einen kleinen Beitrag zur Herstellung von Öffentlichkeit leisten. Abschließend müssen wir sagen, dass wir nicht ausschließen können, dass es bei den Kommunalwahlen in Adana zu Manipulationen und Fälschungen gekommen ist. Wir empfehlen für die Zukunft, mit mehr Beobachtergruppen vor Ort zu sein. Beate Rudolph, Bianca Winter,
Lisa Westerhoff, Serdar Damar
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