Ein Blick auf die zurückliegende Kommunalwahl in der Türkei Eine Bewertung von Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 02.04.2014 Die zurückliegende Kommunalwahl in der Türkei können wir als Referendum über die Politik des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğans und seine Regierungspartei AKP bezeichnen. Der offen ausgetragene Machtkampf zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung, die mit der republikanischen Volkspartei (CHP) paktiert hat, hat die Gesellschaft in polarisierte Lager aufgespalten, die sich nun aufgrund des unerbittlich schmutzig geführten Wahlkampfes gegenüberstehen. Der Kovorsitzende der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) Selahattin Demirtaş hat unmittelbar nach der Wahl erklärt, dass dieser Wahlkampf die Gesellschaft der Türkei noch stärker in sich geschlossene Gruppen zerschnitten hat. Nach Auszählung fast aller Stimmen konnte die AKP um ca. 6% zulegen und kommt so auf 45,5% landesweit. Die CHP konnte etwa 5%, die MHP 1,5% und die BDP/HDP 2% Stimmengewinne verzeichnen. Die prozentualen Zahlen spielen dabei für die BDP/HDP keine große Rolle. Die BDP, die vor allem in den kurdischen Provinzen im Südosten der Türkei angetreten ist, kann ihren Erfolg darin verbuchen, dass sie nun drei weitere Großstädte und weitere 8 Provinzen und 67 Bezirke verwalten kann. Dies zeigt, dass die kleinen Parteien stark verloren und alle anderen, vor allem die AKP, zulegen konnten. Der Machtkampf zwischen Erdoğan und der Gülen-Bewegung hat die Allianz des islamischen Lagers in der Türkei gespaltet. Der offen ausgetragene Machtkampf hat viele bis dato unentschlossene Wähler dazu bewegt Position zu beziehen. Die meisten von ihnen waren zuvor Wähler von Kleinparteien, die ideologisch den Kriegsparteien der 90iger Jahre nahe standen. Im Ergebnis aber kann festgehalten werden, dass Erdoğan den Machtkampf für sich entscheiden konnte. Auch jetzt noch, nach den Wahlen, ist eine gespannte Stimmung in der Türkei spürbar. Von Wahlmanipulation wird geredet, von Unregelmäßigkeiten bei der Stimmauszählung und die Häufigkeit der Stromausfälle am Wahlabend war tatsächlich bemerkenswert. Wie viele Manipulation und Vertuschung oder was in den Zeiten des Stromausfalls tatsächlich passiert ist, ist noch unklar, aber es mehren sich die Bilder, auf den verbrannte Wahlzettel zu sehen sind, die von der Bevölkerung gefunden worden sind. Misstrauisch protestiert die Bevölkerung vor allem in den kurdischen Provinzen wie z.B. Qers (Kars), Reşqelas (Iğdır), Riha (Urfa), Agirî (Ağrı) … und beschreiben so den Zustand in der Türkei. Wenn wir nun nach der Wahl den Kampf um die Stimmen der Bevölkerung betrachten, können wir feststellen, dass keinesfalls die Arbeit der Kommunen im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit stand. Viel mehr drehte sich alles um den Machtkampf zwischen Recep Tayyip Erdoğan und Fetullah Gülen, der in den Focus gerückt worden ist. Dies wurde in der Wahlpropaganda deutlich, da hier die AKP und die mit der Gülen-Bewegung offen kooperierende CHP kaum andere Akzente gelegt haben. Einzig die BDP und die HDP (Demokratische Partei der Völker) haben in ihrem Wahlkampf ihr Augenmerk auf die Inhalte der Kommunalwahl gelegt. Beide Parteien haben im weiter anhaltenden Machtkampf eine sachliche Position eingenommen und ihre sehr begrenzten Mittel dafür eingesetzt, sich mit den Belangen der Gesellschaft auseinander zu setzen. Begrenzte Mittel, weil im Vergleich zur AKP, CHP und MHP die BDP und die HDP keine finanziellen Mittel des Staates bekommen hat. Dies verhindert weiterhin die 10%-Wahlhürde in der Türkei. Auch dürfen die tausenden verhafteten BDP-AktivistInnen nicht vergessen werden; etwa 8000 von ihnen sind in den Gefängnissen, darunter BürgermeisterInnen, Stadträte, JugendaktivistInnen dazu viele weitere Tausende, die durch die sogenannten KCK-Operationen zur Flucht gezwungen worden sind. Der Wahlkampf der BDP und HDP war von unzähligen Angriffen durch staatliche Ordnungskräfte und organisierte faschistische Banden behindert worden. So wurden mehrere Büros der HDP zerstört und unbenutzbar gemacht. Damit sollte der Wahlkampf der noch relativ jungen aber vielversprechenden HDP, die sich besonders im Westen der Türkei organisiert hat, behindert werden. Denn der Staat, der nicht allein auf die AKP reduziert werden kann, sieht in der basisdemokratischen Praxis von HDP und BDP eine wirkliche Gefahr für sein autoritäres zentralistisches Fortbestehen. In Folge der Repression gegen die HDP und BDP gab es viele verletzte AktivistInnen und BürgerInnen. Hierbei hat man sich auch stets der paramilitärischen Organisation der vom türkischen Militär im Kampf gegen die PKK gegründeten Hisbollah bedient. Zu all den systematisch gewalttätigen Übergriffen kommt hinzu, dass sowohl die HDP wie auch die BDP keine Gelegenheit hatten, ihre Perspektiven für die Kommunen in den staatlichen Medien zu erörtern. Laut Erklärung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks RTÜK hat die AKP 89,52%, die CHP 4,96%, die nationalistische MHP 5,29%, die BDP zusammen mit der HDP 0,22% der Sendezeit eingeräumt bekommen. Diese Zahlen verdeutlichen die extremen Ungleichbehandlungen der Parteien. Trotzdem konnte sich die BDP in all den Städten, in denen sie BürgermeisterInnen stellt, halten und weiter ausbauen können. Die erst fünf Monate junge Partei HDP hat zwar kein Rathaus erobern, aber auf Anhieb 2% der Stimmen gewinnen können. Die Kovorsitzende der HDP Sebahat Tuncel hat nach der Wahl erklärt, dass die HDP zu einer Alternative für die demokratischen Kräfte in der Türkei heran wachsen möchte. Der Erfolg der BDP und HDP ist darauf zurück zu führen, dass sie sich den kommunalpolitischen Themen zugewandt haben und ihre alternative Perspektive glaubhaft der Bevölkerung vermitteln konnten. Mit der BDP und HDP wächst der basisdemokratische Block in der politischen Landschaft der Türkei solide an. Die von diesen beiden Parteien ausgehende gesellschaftliche Alternative hin zu einer wirklichen Demokratisierung des politischen Systems der Türkei und die damit einhergehende Stärkung der kommunalen Ebene und die Gleichberechtigung der Frau im politischen System gewinnen unaufhörlich an Kontur. Die BDP und HDP stehen für eine Dezentralisierung des politischen Systems in der Türkei und für die Stärkung der Kommunalverwaltung. Sie fordern eine Berücksichtigung der lokalen und regionalen Unterschiede in Sprache, Religion, Kultur etc., so dass der pluralistischen Gesellschaftsstruktur der Türkei Rechnung getragen werden kann. Ein weiterer zentraler Punkt der alternativen Politik der BDP und der HDP ist die Gleichberechtigung der Frau in Gesellschaft, Politik und Bildung, die bereits in ihren eigenen organisatorischen Strukturen umgesetzt werden. Denn beide Parteien haben das Modell des Kovorsitz eingeführt und in allen Bereichen der Parteien umgesetzt. Als Ergebnis kann festgehalten, dass beide Parteien in Punkto Gleichberechtigung weltweit wohl ein Novum darstellen, da die von ihnen aufgestellten Quoten bei weitem überschritten werden. In einigen Bereichen liegt der Anteil der Frauen in Führungspositionen bereits bei über 55%. Zu den großen Errungenschaften beider Parteien, wenn auch im türkischen Recht noch nicht verankert, gehören: Kovorsitz, d.h. beispielsweise,
in allen Rathäusern gibt es eine Bürgermeisterin und einen Bürgermeister,
die gemeinsam die Kommune regieren. Die Frauenquote liegt bei der BDP
und der HDP bei über 50%. Bei der bei AKP 1,3%, CHP 4,54% und MHP 2,7%. Diese hier aufgeführten Punkte verdeutlichen, wie grundlegend die BDP und HDP die Gesellschaft zu verändern im Stande sind. Die von diesen Parteien gelebte Alternative gewinnt auch im Zuge dieser Kommunalwahl an Kontur und etabliert sich zusehends in der Gesellschaft. Der Schlüssel für den Erfolg liegt darin, dass die propagierte Alternative in der eigenen Organisation und in den Kommunen konsequent umgesetzt wird. Der Grund für die schnelle und noch dazu so erfolgreiche Umsetzung liegt ebenso darin, dass diese Parteien und ihre jeweilige Basis erkannt haben, dass nur die Frau und die Jugend im Stande sind, die nötige Dynamik zur Veränderung der Gesellschaft und damit auch des politischen Systems aufzubringen. Hierbei werden durch den dynamischen Wandel der Gesellschaft alte verkrustete Strukturen in Gesellschaft, Politik und zusehends auch in der Wirtschaft erfolgreich überwunden. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die AKP bei dieser Kommunalwahl einen aus kurzfristige Sicht sehr wichtigen Sieg für sich erringen konnte, die CHP aber trotz der umfassenden Unterstützung und Kooperation mit der Gülen-Bewegung und auch die MHP als Sammelbecken nationalistischer Kreise bedeutungslose Ergebnisse erzielt haben. Die BDP konnte sich weiter in der Gesellschaft und im politischen System verankern und die HDP, als junge dynamische Kraft, sich eindrucksvoll ins politische System der Türkei einbringen. Die HDP wird sich, ähnlich wie die BDP in den kurdischen Landesteilen, langsam aber solide entwickeln und sich als wahre Alternative im politischen System der Türkei etablieren. Die Kovorsitzende der HDP Sebahat Tuncel sieht ihre Partei als größte Opposition in der Zukunft, was nach dieser Wahl auch nicht als utopisch abgetan werden kann. Ein Tag nach den Wahlen sagte der BDP-Kovorsitzende Selahattin Demirtaş in Amed: „Die Ergebnisse der Wahlen zeigen uns, dass sich die Türkei in verschieden Lagern befindet. Hinter uns liegt keine reine Kommunalwahl sondern es herrschte eine Stimmung wie bei Parlamentswahlen. Der Gezi-Widerstand, die Korruptionen, die Veröffentlichung der Tonbänder, all das hatte große Einflüsse auf die Wahlen. (…) Wir haben einen Erfolg zu verzeichnen, für den wir auch viel arbeiten mussten. Wir wurden von der Presse ausgegrenzt. (…) Viele unsere Funktionäre sind weiter inhaftiert, was uns an einem noch erfolgreicheren Ergebnis gehindert hat. (…) Und während des Wahlkampfs hat der Ministerpräsident eine diskriminierende Sprache gegenüber unserer Partei geführt. Das ist unakzeptabel. Wir haben immer gesagt, dass wir uns nicht im Krieg sondern im Wahlkampf befinden. Ganz wichtig ist, überall wo wir gegen die AKP angetreten sind, hat die AKP eine Niederlage erlitten. Die Anzahl unserer Kommunen hat sich erhöht. Das war nicht leicht. Überall dort, wo wir keinen Sieg erringen konnten, werden wir uns damit auseinandersetzen. (…)“ Nun liegt es daran, die Debatte
um eine demokratische Verfassung, um die Lösung der kurdischen Frage sowie
der Demokratisierung der gesamten Türkei, die vor dem Wahlkampf für die
Kommunalwahlen die Tagesordnung der Türkei bestimmte, wieder aufzunehmen.
Jetzt müssen konkrete Schritte folgen, um den Lösungs- oder Friedensprozess
mit Leben zu füllen. |