Erfahrungsbericht
unserer Newroz-Delegationsreise
Am 18. März 2014
hat unsere Delegationsreise nach Nordkurdistan begonnen. Anlass unserer
Reise ist der Besuch der Newroz-Feierlichkeiten und die Teilnahme und
Unterstützung der am 30. März stattfindenden Kommunalwahlen. Mit der Reise
in verschiedene Städte wie Amed, Dersim, Colemêrg, Gever, Wan, Cizîr und
andere Städte wollen wir zudem einen Einblick in die Strukturen und den
Kämpfen vor Ort erhalten. Begleiten wird uns auch ein Filmprojekt in dem
wir unsere Erfahrungen, Gespräche und Erlebnisse dokumentieren werden.
Die Delegation besteht aus 55 Personen, zumeist jungen Studierenden aus
der BRD, sowie aus Belgien, Katalonien und Russland, die in verschiedenen
linken Spektren aktiv sind.
Das Programm am ersten Tag der Delegationsreise begann am 19. März im
Mezopotamischen Jugendforschungszentrum (MEGAM-DER) in Amed. Nach einer
Begrüßung des BDP-Jugendrates, die die Delegation, während ihres Aufenthaltes
in Kurdistan betreuen wird, besuchten wir im Dorf Fis nahe der Stadt Lice,
die Grabstätte von gefallenen Guerillakämpfern der kurdischen Bewegung.
Nach Wiederankunft in Amed besuchten wir die Hevsel-Gärten nahe der Dicle-Universität.
Um die Fällung von tausenden Bäumen zu verhindern, besetzen hier Studierende
der Dicle Uni seit dem 1. März jene Gärten. Jede Nacht halten die Studierenden
Nachtwache im Camp und leben dort nach kommunalen Prinzipien. Nach dem
Besuch der Hevsel-Gärten teilten wir uns in WGs von Studierenden des Verbandes
der Studierenden der Dicle-Universität (DÜÖ-DER) auf. Mehr Informationen
über den Widerstand in Hevsel werden in Kürze folgen.
Am zweiten Tag der Delegationsreise hatten wir die Gelegenheit an den
Newroz-Feierlichkeiten der Studierenden der DÜÖDER zusammen mit tausenden
Studierenden am Campus der Dicle-Uni teilzunehmen. Danach besuchten wir
im Sümer-Park verschiedene soziale Zentren für Kinder, Frauen, Jugendliche,
Menschen mit Behinderungen und älteren Alters. Anschliessend machten wir
einen Stadtrundgang im historischen Stadtteil Sur von Amed und besichtigten
die mehrere tausend Jahre alten Stadtmauern.
Am dritten Tag, dem 21. März, nahmen wir nach einer Demonstration der
BDP-Jugend zum Newroz-Park am zentralen Newroz-Fest in Amed teil. Laut
Angaben der Organisatoren nahmen am Festival, wo auch eine Botschaft des
auf der Insel Imrali gefangenen PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan verlesen
wurde, 2,5 Millionen Menschen aus allen vier Teilen Kurdistans, der Türkei,
Europa und internationale Gäste aus vielen anderen Orten der Welt teil.
Nach spannenden drei Tagen in Amed, teilte sich die große Delegationsgruppe
in zwei Gruppen auf. Die eine Gruppe wird den Wahlkampf der BDP für die
Kommunalwahlen am 30. März, in Dersim und Wan begleiten und unterstützen.
Die andere Gruppe wird die Region Botan und Mêrdin besuchen.
Mêrdin und
Botan
Nach drei Tagen in Amed begann am 22. März neben der Gruppe nach Dersim
unsere Reise Richtung Mêrdin und Botan. Unsere 1. Station war Cizîr, wo
wir die Gelegenheit hatten am Nachmittag mit dem Jugendrat der BDP in
Cizîr ein Gespräch zu führen. Anschließend nahmen wir am Abend an Wahlkampfbesuchen
der BDP in Hochzeiten teil. Knapp 150 Menschen besuchten als Delegation
an diesem Abend mehrere Hochzeiten und wurden auf diesen sehr warm empfangen.
Geschlafen haben wir dann bei kurdischen Familien.
Am 23. März begann unser Tag mit dem Besuch des Kulturzentrums von Cizîr.
Dort beschrieb uns ein Lehrer des Zentrums die Arbeiten, die Prinzipien
des Zentrum und auch die Repressionen des Staates. Demnach seien dutzende
JugendaktivistInnen, die auch im Kulturzentrum aktiv waren derzeit im
Gefängnis. Grund dafür sei die kontinuierliche unabhängige Linie des Zentrum
vom Staat. „Kultur begreifen wir als Philosophie des Widerstandes und
deswegen greifen sie uns an", so der Lehrer. Nach einem Rundgang
am birca belek, den historischen Stadtmauern von Cizîr, machten wir uns
auf den Weg nach Roboski. Unterwegs wurden wir von mehreren Checkpoints
angehalten und unsere Pässe kontrolliert. Für alle TeilnehmerInnen der
Delegation war es wohl eine hochemotionale Erfahrung, nach Ankunft in
Roboski, die Angehörige der am 28. Dezember 2011 durch türkische Kampfjets
dort ermordeten 34 Menschen zu treffen. Wir besuchten in Roboski die Grabstätte
der Ermordeten, schauten uns gemeinsam mit den Dorfbewohnern am Abend
auf dem Dorfplatz eine Doku über das Roboski-Massaker an und hatten die
Gelegenheit bei Familien in Roboski zu übernachten.
Am 24. März fuhren wir dann weiter nach Colemêrg. Wir besuchten das Binevs
Frauenzentrum und führten ein interessantes Gespräch mit den Genossinnen
vor Ort. Am 25. März nahmen wir dann mit zehntausenden Menschen an den
Newroz-Feierlichkeiten in Colemêrg teil. Gegen Abend fuhren wir dann nach
Gever. Am 26. besuchten wir in Gever die Akademie für demokratische Bildung,
den Gefangenenhilfsverein (Tühad-Fed) und Familien von gefallenen GuerillakämpferInnen.
Wir fuhren über die Nacht von Gever nach Nisebîn zur Grenzen nach Rojava
und hatten dort am 27. vor Ort die Gelegenheit uns über die Situation
des Syrienkonfliktes und das Projekt der demokratischen Autonomie in Rojava
zu informieren. Wir nahmen außerdem am Wahlkampf der BDP in Nisebîn teil.
Am 28. begann dann unsere Rückfahrt über Heskîf, einer über 10000 Jahre
alten Stadt am Tigris, der durch das Ilisu-Staudammprojekt geflutet werden
soll. Der 29. diente dann nur noch zur Vorbereitung auf die Wahlbeobachtung
der Kommunalwahlen.
Dersim
„Man kann gegen Dersim marschieren, aber nie gegen Dersim gewinnen"
(Sprichwort)
Am 22.03.14 kamen wir in Dersim an, wo wir sehr herzlich empfangen wurden.
In der BDP-Parteizentrale begrüßten uns der Bürgermeister-Kandidat, Mehmet
Ali Bul und die weibliche Co-Kandidatin Nurhayat Altun. In ihrer kurzen
Ansprache betonten die beiden die besondere Rolle der Stadt für die kurdische
Bewegung. Dersim habe viel Leid und Trauer erlebt, aber immer auch starken
Widerstand geleistet und sei mittlerweile „die Stadt der Frauen".
Ein Hauptziel unserer Gruppe bestand darin, sich unterstützend am Wahlkampf
der BDP (Partei für Frieden und Demokratie) zu beteiligen. Mehrmals begleiteten
wir daher die Parteimitglieder der Basis bei Hausbesuchen und lernten
so die Menschen vor Ort etwas kennen. Dabei erlebten wir unterschiedliche
Reaktionen, welche überwiegend positiv, vereinzelt aber auch kritisch
ausfielen. Die große Zustimmung hängt damit zusammen, dass viele familiär
eng mit der kurdischen Bewegung verbunden sind.
An unserem zweiten Tag in Dersim, dem 23.03.14, ging der Wahlkampf in
der nahegelegenen Kreisstadt Ovacik weiter. Im Anschluss gab es dort „Sir
göme", traditionelles Essen und einen kurzen Besuch an der Quelle
des Munzur-Flusses.
Der dritte Tag begann mit einem Besuch am Grab der Genossin Sakine Cansiz
(Hevala Sara), die bedeutende Teile zum Aufbau der kurdischen Frauenbewegung
und Frauen-Guerilla beigetragen hat. Sie wurde zusammen mit zwei weiteren
Genossinnen am 09.01.13 in Paris ermordet. Danach erhielten wir im Alevi
Bektasi Cem Evi, einem alevitischen Gebetshaus, eine kurze Einführung
in die Entstehung und Praktiken der Religion und erkannten auch hier die
ständigen Assimilierungsversuche durch herrschende Kräfte wie der AKP.
In der anschließend besichtigten Universität hatten wir die Gelegenheit
einen Film über aktuelle Staudamm-Projekte der Regierung und deren Gefahren
für die hiesige Bevölkerung zu sehen, als auch Genaueres über die Studierendenorganisation
der kurdischen Bewegung zu erfahren. Am Abend führten wir eine (selbst-)kritische
Feedback-Runde durch, die half gewonnene Eindrücke, aber auch organisatorische
und gruppendynamische Angelegenheiten zu besprechen.
Am letzten Tag unseres Aufenthalts in Dersim, dem 25.03.14 führten wir
ebenfalls Wahlkampf, dieses Mal in den Geschäften der Innenstadt und zusammen
mit den beiden Kandidat_innen. In einer Gesprächsrunde mit einer Aktivistin
der jungen Frauen konnten wir über die Situation der Frauen sprechen.
Dabei ging es um die theoretischen Ziele Öcalans, als auch um konkrete,
bisherige Verbesserungen.
Zum Abschluss hörten wir eine Dankesrede und verlasen eine Presseerklärung
am Denkmal des Widerstandsanführers von 1938 in Dersim, Seyit Riza.
„Im gesamten Wahlkampf war eure Anwesenheit und Solidarität das wichtigste
für uns", sagte Ergin Dogru, der BDP-Vorsitzende der Stadt. In unseren
Augen gebührt vor allem den kurdischen Freund_innen von der Jugend großer
Dank, da sie uns mit einer unglaublichen Gastfreundschaft und Wärme empfangen
haben. Als Zeichen dafür, dass nicht die Unterdrücker, sondern die Enkel
von Seyit Riza siegen werden, veranstaltete die Gruppe am Ende eine spontane
Govend-Tanzrunde.
Wan
Nach dem Empfang in Wan, mit einer kleinen Runde Govend (traditioneller
kurdischer Tanz) haben wir eine Führung durch BDP Zentrale gekriegt. Das
Haus beinhaltet neben der BDP Zentrale Räume, die Partei unabhängig sind.
Hier haben wir die praktische Umsetzung der Theorie kennen gelernt. In
der ersten Etage des Hauses befindet sich der Raum der Streitschlichtungskommissio.
Wenn Menschen hier Probleme haben, gehen sie nicht zur Polizei, sondern
hierher. Im Volksrat, der seinen Raum direkt nebenan hat, wird im Konsens
über das Urteil entschieden. Der Volksrat setzt sich aus der gesamten
Bevölkerung zusammen, die auch gemeinsam entscheidet, wer in der Kommission
sitzt. Die Urteile können eine Geldstrafe oder Gemeindearbeit sein und
bei schwerwiegenden Vergehen (wie z.B. sexueller Missbrauch) soziale Isolation.
Das System beruht darauf, dass jeder Mensch eine Chance hat sich zu bessern
und sein Verhalten zu reflektieren. Dies wird durch die Bildungsarbeit,
die den Täter*innen in der Regel zukommt, unterstützt.
Auf der nächsten Etage befindet sich die Verwaltung des Gebäudes, die
sich unter anderem um die Finanzierung kümmert. Alle die hier angestellt
sind, arbeiten ehrenamtlich. Gelder kommen durch Feste, Bazare und andere
Veranstaltungen rein. Durch diese Gelder werden Projekte für die Bevölkerung
finanziert, wovon 15% an die Frauen- und 10% an die Jugendarbeit geht.
Außerdem steht im Haus eine Spendenbox, die einmal wöchentlichen an Familien
mit finanziellen Problemen gegeben wird.
In der darüber liegenden Etage befinden sich die Jugendräume und in der
obersten Etage befindet sich die politische Akademie, in der sich weitergebildet
wird.
Nach dem Rundgang haben wir uns auf den Weg zur HDP Zentrale gemacht.
In Wan tritt nur die BDP im Wahlkampf an. Es ist geplant, dass sie nach
den Wahlen in die HDP integriert wird. Die HDP ist ein Bündnis aus 47
linken Parteien und Organisationen der gesamten Türkei, die als gemeinsamen
Konsens eine basisdemokratische Ideologie haben. Sie will als Sprachrohr
für die gesamte Bevölkerung (hierzu gehören auch alle Minderheiten) dienen.
Nach diesem Besuch ging es weiter zum kurdischen Kulturzentrum MKM. Dort
gibt es Angebote zum Erhalt der Kurdischen Kultur, Kunst und Sprache wie
z.B. Kinder-, Jugend- und Frauenchöre, Theater und Kunstkurse. Durch die
Assimilationsversuche des türkischen Staates ging viel von der kurdischen
Sprache und Kultur verloren. Die jetzige Generation kämpft stark für ihre
Kultur und Sprache und die Kulturzentren dienen diesem Zweck.
Anschließend ging es zu den Friedensmüttern. In diesem Verein sind Mütter
organisiert, deren Kinder als Guerilla, Zivilist*innen oder Soldat*innen
gefallen sind. Ihr Hauptziel ist es Frieden und Gerechtigkeit herzustellen,
was sie bspw. durch Demonstrationen vor Militärkasernen und Gefängnissen
zum Ausdruck bringen. Sie haben uns ausdrücklich gebeten, ihre Geschichten
und ihr Leid nach Europa zu tragen, um auch dort für das Ende des Krieges
zu plädieren.
Nachmittags besuchten wir den Tuyad Der, ein Verein für politische Gefangene
und deren Angehörige. Die Zustände in den Gefängnissen sind besonders
für politische Gefangene mehr als miserabel. Es gibt Misshandlungen, Folter
und Vergewaltigungen. Obwohl offizielle Berichte vorliegen wird nichts
unternommen.
Am nächsten Tag sind wir gemeinsam zum Frauenzentrum gefahren, hier ist
ein männerfreier Raum für die Frauen geschaffen worden in dem sie sich
frei bewegen und weiterbilden können. Es gibt einen Kinderaufenthaltsraum,
eine Bibliothek, einen Seminarraum und Räume für Keramik, Kochen, Kunst
und Handwerken und -arbeiten. Durch den Verkauf der dort hergestellten
Sachen will sich das Haus selbst finanzieren. Die Frauen gehen auch zu
Familien um dort Bildungsarbeit zu leisten und die Frauen aufzuklären.
Danach haben wir das kurdische Kulturzentrum Nuda besucht, das unter anderem
Räume für Theater, Film, Musik, Keramik und Sprachunterricht bietet. Wir
hatten sogar das Glück dort eine kleine Theater-Vorführung sehen zu können.
Nachmittags haben wir das Container Camp für die Opfer des Erbebens vor
3 Jahren besucht. Der Staat leistet keine Unterstützung, viel mehr versucht
er die Menschen durch Provokation dazu zu bringen das Camp zu räumen.
Den 46 Familien bietet sich jedoch keine andere Möglichkeit zu leben,
als in diesem Camp. Die Häuser, die ihnen als Wohnraum angeboten worden
sind, waren unbezahlbar und die Mieten in der Gegend sind über das vierfache
des Preises vor dem Erdbeben gestiegen. Im letzten Jahr (August-Dezember
2013) hat der Staat für 121 Tage den Strom abgeschaltet. Durch den Entzug
von Strom konnten die Container bspw. auch im Winter nicht beheizt werden,
was zu physischen und psychischen Katastrophen führte. Erst durch einen
Hungerstreik und viel medialer Öffentlichkeit wurde der Staat gezwungen
den Strom wieder anzuschalten. Durch Eigeninitiative konnte ein Frauen-
und ein Männerhaus sowie ein Atelier errichtet werden. Die Familien leben
in den 21 m² kleinen Containern teilweise zu acht oder neunt.
Anschließend sind wir zur BDP Zentrale gefahren und hatten dort die Möglichkeit
mit einer Freundin der Frauen- und Jugendbewegung zu sprechen und uns
auszutauschen. Da die Polizei in der Gegend Drogen an die Jugendlichen
verteilt, versuchen sie eine Alternative zu bieten und aufzuklären. Auch
bei den Frauen liegt der Schwerpunkt auf Bildung. Am darauf folgenden
Tag sind wir dann gemeinsam in die umliegenden Dörfer gefahren um den
Wahlkampf der BDP zu unterstützen.
YXK Newroz-Delegation
http://www.yxkonline.com/index.php/18-pressemitteilungen/424-newroz-amed
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