Das Embargo
gegen Rojava
Obwohl Rojava (Nordsyrien)
ein Mosaik der Sprachen und Kulturen ist, ist die Region nun vollkommen
auf sich gestellt. Die Region wird ökonomisch und politisch von den internationalen
und regionalen Mächten isoliert. Die Türkei hat im Norden einen Zaun und
Mauern um Rojava errichtet, Südkurdistan (Nordirak) hat im Osten einen
befestigten Graben gezogen, den es nun mit Militärstützpunkten ausbaut,
nach Süden ist Rojava durch die radikalislamistischen Kampfverbände von
ISIS und der Al-Nusra-Front vom Rest Syriens getrennt. Dieses Embargo
hat gravierende Folgen für die Bevölkerung Rojavas.
Rojava ist ein landwirtschaftlich sehr reiches Land. 60 % des syrischen
Weizens und Öls kommen aus Rojava, außerdem wurde Baumwolle für den syrischen
Markt produziert. Rojava hatte für Syrien sozusagen den Status einer Kolonie,
bzw. einer Rohstoffquelle. Es wurde keine verarbeitende Industrie für
Rojava aufgebaut. So wurde Getreide zwar produziert, aber nicht gemahlen.
Öl wurde nicht in Rojava raffiniert, sondern unter großem Aufwand ins
syrische Kerngebiet geleitet. Dies ist Ausgangssituation für Rojava.
Da die Landwirtschaft teilweise auf Tiefbrunnen basiert, war auch sie
gefährdet, als das Kraftwerk in Raqqa von Dschihadisten übernommen wurde.
Man begann Dieselgeneratoren für die Stromproduktion zu verwenden. Dazu
musste aber erst die Technologie entwickelt werden, selbst Diesel herzustellen.
Der erste Winter in Rojava war für die Bevölkerung sehr hart, da kein
Heizöl zur Verfügung stand und das erste Mal seit vielen Jahren Schnee
fiel. Viele kleine Generatoren verpesten die Städte, nur wenige große
sind vorhanden, aufgrund des Embargos können keine weiteren importiert
werden.
Funktion des Embargos
Die Türkei und Südkurdistan,
die das Embargo gegen Rojava durchsetzen, arbeiten eng zusammen.
Rojava ist der Versuch einer Basisorganisierung jenseits der kapitalistischen
Moderne und westlichem Interventionismus. Funktioniert das Projekt Rojava,
wird dies politische und soziale Auswirkungen weit über den Mittleren
Osten hinaus haben. Dies würde die Strategie der NATO-Staaten durchkreuzen.
Daher unterstützen sie das Embargo.
In Nordkurdistan, unter der Besatzung der Türkei, wird ebenfalls schon
seit Jahren am Modell der Demokratischen Autonomie gearbeitet. Der türkische
Staat versucht dieses Projekt durch Massenfestnahmen von tausenden AktivistInnen
und PolitikerInnen zu vernichten.
Das Projekt der Demokratischen Autonomie in Rojava, direkt an der türkischen
Grenze, inspiriert von dem Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, will
die Türkei auf keinen Fall tolerieren. Sie liefert daher Waffen an die
radikalislamische Al-Nusra-Front, auch die ISIS (Islamischer Staat in
Irak und Syrien) haben in der Türkei ihr logistisches Hinterland. Das
Embargo gilt eben nur für die basisdemokratischen Kräfte in Rojava.
Dass Südkurdistan dieses Embargo unterstützt, mag auf den ersten Blick
irritieren. Während der Regierungschef Barzani (PDK) immer wieder die
vermeintliche Unabhängigkeit Südkurdistans proklamiert, ist die Region
längst zu einer Quasikolonie geworden. Die Regierung in Südkurdistan finanziert
sich durch die Petrodollars, die sie von der irakischen Zentralregierung
erhält und verteilt diese unter ihren Günstlingen. Andererseits produziert
Südkurdistan selbst fast nichts, keine landwirtschaftlichen Produkte,
selbst Hühnchen werden aus Brasilien eingeführt. Das führt zu einer extremen
Abhängigkeit von außen. Die meisten Produkte und das investierte Kapital
in Südkurdistan kommen jedoch aus der Türkei. Die südkurdische Regierung
ist politisch weitgehend von Ankara abhängig und führt die gewünschte
Politik gegenüber Rojava durch. Es wäre allerdings beschönigend die kurdische
Regionalregierung allein als Erfüllungsgehilfen darzustellen. Die PDK
(Demokratische Partei Kurdistans) hat selbst große Interessen an der Kontrolle
über Rojava und insbesondere an den Ölquellen in Rimelan. Dem neofeudalen
System der PDK steht dabei die von der kurdischen Freiheitsbewegung aufgebaute
demokratische Alternative im Wege, sie soll mit allen Mitteln vernichtet
werden. Da das Embargo dafür nicht auszureichen scheint, beteiligen sich
Milizen der PDK-Ablegerparteien des ENKS in Syrien an Übergriffen der
islamistischen Banden, wie bei Massakern von Til Hasil und Til Haran im
Sommer letzten Jahres. Eine neue Dimension scheinen diese Angriffe mit
der Festnahme von Besir Abdulmecid Mussa gewonnen zu haben. Er hatte mit
einem Komplizen versucht, einen Bombenanschlag auf eine arabische Einrichtung
in Tirbespi durchzuführen, die Bombe detonierte jedoch zu früh, und während
der Mittäter bei der Explosion starb, konnte er unverletzt festgenommen
werden. Er ist Mitglied der PDK Syrien und sagte aus, dass er in Südkurdistan
ausgebildet wurde. Die Ziele seiner Gruppe sind Bombenanschläge auf arabische
Einrichtungen und auf Einrichtungen der Selbstverwaltung zu verüben, um
einen Konflikt zwischen AraberInnen und KurdInnen zu provozieren. Dies
ist nicht der einzige Fall. Vor etwa vier Monaten detonierte im Stadtzentrum
von Derik eine Autobombe vor dem Büro der Frauenbewegung Yekitiya Star.
Ein Vater und sein Kind starben. Die Detonation löste eine große Panik
in der Stadt aus. Zu diesem Zeitpunkt machte die PDK die Grenzen nach
Südkurdistan auf und viele flohen, Ziel der PDK und ihrer Verbündeten
ist es, die Bevölkerung zu vertreiben. Nun hindert Südkurdistan, diese
Menschen an der Rückkehr nach Rojava. Berivan von Yekitiya Star erklärt
uns, dass vor allem die Gebildeten, Ärzte und Ingenieure die Region verlassen
haben, um für einen höheren Lohn in Südkurdistan zu arbeiten. Es sind
eher die Wohlhabenden, die das Land verlassen, die Ärmeren bleiben. Diese
Dimension des Embargos entwickelt sich zu einem ernsten Problem für Rojava,
denn SpezialistInnen fehlen an allen Ecken und Enden. Solidarische Hilfe
aus der ganzen Welt ist hier gefragt.
Flucht ist aber auch häufig lebensgefährlich und es kommt zu schweren
Übergriffen auf Flüchtlinge. An der türkischen Grenze wurde am 18.5. eine
Mutter zweier Kinder von türkischen Soldaten erschossen. Sie war auf dem
Weg nach Europa, wo ihr Partner auf sie wartete. So wie ihr, erging es
schon vielen GrenzgängerInnen, SchmugglerInnen und Flüchtlingen an der
Grenze zwischen Rojava und Nordkurdistan/Türkei. Die Grenze ist aber nicht
vollkommen geschlossen. Dschihadisten überqueren unter den Augen der türkischen
Soldaten die Grenze in beide Richtungen, um sich logistisch in der Türkei
zu versorgen. Auch an der südkurdischen Grenze und in den Flüchtlingslagern
kommt es immer wieder zu schweren Übergriffen auf Flüchtlinge durch Peschmerga.
Diese erstrecken sich von Erpressung, bis hin zu Zwangsprostitution und
sexualisierter Gewalt. Südkurdistan bedeutet für Arme nicht das erhoffte
bessere Leben, sondern die Realität in umzäunten Lagern. Dazu kommt, dass
die südkurdische Regierung mittlerweile immer mehr auf offene Eskalation
setzt und Institution wie den Kurdischen Nationalrat (KNK) und die kurdische
Presse (DIHA) angreifen lässt. Die momentane Entwicklung lässt eine Verschlechterung
der Lage erwarten.
VertreterInnen der Jugendorganisation Ciwanen Soresger erklären uns, dass
insbesondere die Jugend einen sehnsüchtigen Blick auf die Konsumgesellschaft
in Südkurdistan und Europa wirft. Nicht selten sind mehrere Kinder einer
Familie in verschiedenen europäischen Ländern. Die revolutionäre Jugend
versucht der Flucht durch Bildung entgegenzuwirken. Die ohnehin kleinen
Flüchtlingskontingente in Europa werden nicht etwa mit Flüchtlingen aus
den schwer umkämpften Gebieten wie Homs oder Hama gefüllt, sondern mit
Menschen aus dem relativ sicheren Rojava, um dieses entsprechend der Wünsche
der Türkei zu entvölkern, die sich die kurdische Frage vom Hals schaffen
will.
Die Konsequenzen des Embargos
Das Embargo hat verschiedene
Auswirkungen auf die Gesellschaft in Rojava. Dramatisch ist vor allem,
dass das an Weizen und Öl reiche Rojava seine Produkte nicht verkaufen
kann. Die Bauern sitzen auf ihrem Weizen und ihrer Baumwolle. Die Übergangsregierung
hat kein Geld um Löhne zu bezahlen, oder die Bedürfnisse der einfachen
Bevölkerung und der Flüchtlinge zu befriedigen. Dringend benötigte Maschinen
und medizinische Geräte können nicht eingeführt werden.
Während das Fehlen von Medikamenten und Folgemilch die Säuglingssterblichkeit
erhöht, mangelt es auch an genereller medizinischer Versorgung und die
Preise für Importprodukte, auch Lebensmittele, schießen in die Höhe. Vor
allem Medikamente sind auf dem Schwarzmarkt teilweise kaum zu bezahlen.
Soweit möglich reagieren die Räte darauf mit einer Preiskontrolle, die
jedoch bei Schwarzmarktmedikamenten kaum greifen kann. Die türkische Grenze
lässt manchmal noch Medikamente durch, allerdings wird uns bei der Hilfsorganisation
Heyva Sor davon berichtet, dass z.B. an der nordkurdisch/syrischen Grenze
ein Krankenwagen aus Deutschland seit acht Monaten festgehalten wird.
Die südkurdische Grenze ist für humanitäre Hilfe nach Angaben von Heyva
Sor vollständig geschlossen.
Seit wenigen Tagen wurde auch der Grenzübergang zum Zentralirak bei Til
Kocer vollständig geschlossen, so dass das Embargo wieder nahezu vollständig
ist. Heyva Sor versucht, den Bedarf der Gesellschaft Rojavas zu decken,
ist dazu aber finanziell kaum in der Lage, insbesondere auch was die Flüchtlinge
aus den anderen Teilen Syriens betrifft. Für Institutionen wie Ärzte ohne
Grenzen ist es jedoch möglich, in Qamislo Medikamente zu kaufen, die per
Flugzeug aus Damaskus importiert worden sind. Hilfsgütertransporte halten
sie im Moment für ungünstig, da Medikamente an den Grenzen verderben.
Geldspenden seien im Moment wesentlich hilfreicher.
Rojava ist praktisch vom Weltmarkt entkoppelt worden, was nicht nur negative
Konsequenzen hat. Es bietet der regionalen Produktion von Kleidung und
Nahrungsmitteln die Möglichkeit sich zu organisieren und den Kooperativen
die Möglichkeit sich zu etablieren. Die Notwendigkeit sich zusammenzuschließen,
um den Alltag zu organisieren, fördert den Aufbau des Rätesystems. Unter
diesem Aspekt ist das Embargo Segen und Fluch zugleich. Letzten Endes
fehlen jedoch Maschinen und vieles Anderes zum Aufbau einer funktionierenden
Ökonomie, auch deshalb ist es notwendig, alles dafür einzusetzen, dass
das Embargo so schnell wie möglich endet.
Delegation der Kampagne
TATORT Kurdistan, 20.05.2014
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