„Wir arbeiten
wie ein Ameisenhaufen“
Die Kommune, das Zentrum der
Demokratischen Autonomie
Unseren letzten Abend
in Rojava verbringen wir bei der Familie von Gulistan Osman, der Schwester
von Rustem Cudi. Rustem Cudi, Mitglied des Exekutivrates der Gemeinschaft
der Gesellschaften Kurdistans KCK wurde im Oktober 2011 bei einer Bombardierung
der Medya-Verteidigungsgebiete in Südkurdistan durch die türkische Armee
ermordet.
Gulistan berichtet
uns vom Krieg in Derik. Sie hat wie die meisten Frauen aus der Yekitiya
Star, der Frauenorganisation von Rojava, bei der Versorgung der Verletzten
im Krieg der YPG/YPJ gegen die Al-Nusra-Front in Til Kocer geholfen. Man
merkt ihr an, wie schwer es für sie ist, über diese Erfahrung zu sprechen.
„Einem Jugendlichen aus Derik wurde von den Dschihadisten die Kehle durchgeschnitten.
Seine Mutter hat seitdem keine Nacht mehr geschlafen. Wenn sie irgendwo
ein Messer hört oder sieht, verliert sie fast den Verstand. Es ist Krieg,
Menschen sterben auf beiden Seiten, das ist etwas anderes, aber diese
unmenschlichen Grausamkeiten, die ISIS und Al Nusra begehen, das ist für
uns unfassbar“, berichtet Gulistan mit erstickter Stimme. „Trotzdem haben
wir auch die verwundeten Islamisten hier in Derik medizinisch versorgt.
Wir haben keine Unterschiede zwischen ihren und unseren Verletzten gemacht.
Wir hatten keine Blutkonserven und in ganz Derik sind uns nur noch zwei
Chirurgen geblieben, alle anderen sind ins Ausland gegangen. Ein Jugendlicher
von der YPG ist jetzt gelähmt, weil wir hier nicht die Mittel hatten,
ihn entsprechend zu versorgen“, berichtet Gulistan weiter. „Dieses Land
ist von unseren Kämpferinnen und Kämpfern von YPJ und YPG mit so viel
Mut und Einsatz gegen die Dschihadisten verteidigt worden, es macht mich
wütend, wenn ich sehe, wie viele hier einfach weggehen, ihre Häuser und
ihr Land im Stich lassen. Unsere jungen KämpferInnen haben doch dafür
ihr Leben gelassen, dieses Land zu schützen, wie kann man das so leichtfertig
aufgeben.“
Am
späten Abend klingelt es plötzlich. Drei Personen, zwei Frauen und ein
Mann stehen vor der Tür. „Wir kommen von der Kommune“, so die jüngere
der beiden Frauen, „Wir wollen euch zu der Versammlung nächste Woche einladen.“
Gülistan fängt gleich an zu diskutieren: „Versammlungen allein reichen
auch nicht, Arbeit muss gemacht werden.“
„Wir gehen ja von Haus zu Haus und erklären das Kommunesystem“, erklärt
die junge Frau weiter, „wir sind seit drei Tagen unterwegs, jeden Abend,
nach unserer normalen Arbeit“, so Sirin, die andere Frau. „Wer ist denn
zuhause bei deinen Kindern?“ frage ich. „Sie sind alleine, der Kleine
ist erst sechs, die sind das gewohnt. Meine große Tochter ist bei der
YPJ, mein Sohn bei der YPG und mein Mann ist bei den Asayis,“ erklärt
sie. So etwas hören wir hier seit Wochen jeden Tag, dass jeder halbwegs
Erwachsene im System der demokratischen Autonomie arbeitet.
„Wir sind wie ein Ameisenhaufen“, so Mihammed, „jeder hier in Rojava arbeitet
irgendwo mit, damit dieses System funktioniert.“ Es ist 21.30 Uhr. „Heute
besuchen wir noch drei Familien“, so Sirin, wir machen das, weil wir es
für notwendig halten, man muss sich kennen im Stadtteil, dann kann man
Probleme gemeinsam lösen.“
Die Kommune ist die
kleinste Einheit und Basis des Systems der demokratischen Autonomie. Silvan
Afrin, eine der Vertreterinnen der Yekitiya Star, der Frauenorganisation
in Derik und verantwortlich für die Frauenökonomie, hatte und vor einiger
Zeit das Kommunesystem erklärt.
In Derik gibt es sechs Stadtteile, die wiederum sind in Kommunen aufgeteilt,
jede besteht aus ein paar Straßenzügen, etwa 50 Häusern. „Am Anfang wurde
das nur in kurdischen Stadtteilen aufgebaut, jetzt auch in den arabischen
Stadtteilen“, so Silvan. „Zu den Kommunetreffen kann jede/r kommen, da
muss man nicht Mitglied bei Tev Dem oder der PYD sein, das ist ein öffentliches
Treffen, auf dem die Leute im Stadtteil ihre Probleme besprechen, alle
kommen dahin, AraberInnen, KurdInnen, Syriani, alle.“
„Die Kommune bildet
verschiedene Kommissionen heraus, jeweils drei Personen sind für eine
Kommission verantwortlich, so z.B. Für Ökonomie, sie entwickeln ökonomische
Projekte. Drei Personen sind für Ökologie und Sauberkeit zuständig. Das
wird je nach Bedarf aufgebaut. Wenn die Kommission ein Problem nicht lösen
kann, geben sie dies an das an den Stadtteilrat weiter.
Friedenskomitees wurden aufgebaut. Gibt es Probleme, etwa Streit im Stadtteil,
werden sie zur Sprache gebracht und gelöst. Jetzt, wo alle das System
verstanden haben, werden auch alle Probleme gelöst.
Die Mitglieder der Abteilung Ökonomie entwickeln Projekte, z.B. den Kauf
von Generatoren für eine Kommune. So kann sich die Bevölkerung dann selbst
mit Strom versorgen. Der Diesel dafür wird wiederum von dem Ökonomiekomitee
verteilt.
Pro Kommune sind auch drei Personen für die Verteidigung gewählt worden“,
so Silvan. „Sie reden dann mit den Jugendlichen und bereiten sie auf Schutz-
und Verteidigungsaufgaben vor. Außerdem organisieren sie die Verteidigung
der Stadtteile. Es gab hier viele Situationen, in denen jeder aus der
Bevölkerung kämpfen musste, nicht nur die YPG und YPJ. Sie passen auch
auf, ob in einem Stadtviertel z.B. Drogen verkauft werden, oder Agenten
tätig sind.
Es war zunächst schwierig eine autonome Selbstverwaltung aufzubauen, der
syrische Staat war sehr zentralistisch, die Menschen waren es gewohnt,
dass der Staat sie versorgt und kommunale Dienste zur Verfügung stellt.
„Die Menschen sind es zunächst nicht gewohnt gewesen, Entscheidungen zu
treffen, ihre Bedürfnisse selbst zu regeln“, so Silvan, „Wir überwinden
das mit Bildung. Jeden Freitag findet für etwa zwei Stunden Bildungsarbeit
statt.“
Komitee für
Frauen-Ökonomie
„Wir hatten lange kein Frauenökonomiekomitee“, erklärt Silvan, „Die Frauen
haben kein eigenes Land, keine Möglichkeit Geld zu verdienen. Unsere Lösung
dafür ist, wir holen z.B. 10 Frauen zusammen und besprechen mit ihnen,
welche Arbeit sie machen können. Wir helfen ihnen diese Projekte umzusetzen,
bis sie laufen. So haben wir eine Schneiderei, eine Linsen- und Erdnusskooperative,
ein Geschäft für Haushaltswaren und weitere Projekte angeschoben. Die
Ökonomie der Demokratischen Autonomie beruht auf der Kooperative. Im Moment
ist es noch schwer, da wir Kriegsbedingungen haben, aber wir arbeiten
kontinuierlich daran. Wir haben landlosen Frauen Land gegeben und ihnen
am Anfang geholfen es zu bebauen.“
Vor
einigen Tagen haben wir z.B. ein Projekt für Käseproduktion von Frauen
in Derik besucht. Fünf Frauen produzieren gemeinsam Käse und Joghurt und
verkaufen diese Produkte dann auf dem Markt. „Wir können uns und unsere
Familien selbst versorgen, die Milch besorgt uns das Wirtschaftskomitee
von Yekitiya Star. Wir geben dann 30 % unseres Gewinns wieder zurück.
Das ist ein sehr faires System“, so Bermal. „Wir wollen auch traditionelle
Techniken der Käseproduktion bewahren“, so Gulbahar, „Die Nachfrage nach
unserem Käse ist riesig, wir könnten noch viel mehr verkaufen.“
Die Kommune
schließt die Lücke zwischen den Volksräten und der Bevölkerung
Mamoste Abdulselam
von Tev Dem in Heseke hatte uns vor einigen Tagen das System der Kommunen
in Heseke erklärt. „Es gab eine Lücke zwischen den Räten und der Bevölkerung,
daher haben wir das Kommunesystem entwickelt“, so Mamoste Abdul. „Es gibt
hier 16 Stadtteilräte. In jedem Rat sitzen 15–30 Personen. Etwa 50 Häuser
bilden eine Kommune. Die Kommune wird sehr viel genutzt. Es gibt etwa
10–30 Kommunen mit 15–30 Personen pro Stadtteil. Im Stadtteil Mifte in
Heseke gibt es 29 Kommunen, der Nachbarstadtteil hat 11 Kommunen – jeder
Stadtteil baut sich nach dem Schlüssel von etwa 20 Kommunen pro 1000 Personen
auf. Die 16 Stadtteilräte bilden sich aus den Kommunen. 101 Personen sitzen
im Stadtrat von Heseke. Dazu kommen fünf VertreterInnen der PYD und jeweils
fünf von den anderen Parteien, fünf VertreterInnen der Organisation der
Familien der Gefallenen, fünf von Yekitiya Star, fünf von der Revolutionären
Jugend, fünf von den Liberalen. Die Stadtteilräte tagen normalerweise
alle zwei Monate. 21 Personen werden als Koordination gewählt. Die Leitungstreffen
finden einmal im Monat und bei besonderen Vorfällen statt. Immer mindestens
40 % der VertreterInnen sind Frauen und mindestens 40 % sind Männer. Entschieden
wird im Konsensprinzip. Es wird darauf geachtet, dass nicht nur eine Person
redet. Die Kovorsitzenden werden gewählt. Die Leute werden von den Mitgliedern
der Kommune vorgeschlagen und dann gewählt.
Die Frauenarbeit
in der Kommune
Sirin Ibrahim Ömer, eine 45-jährige Frau aus dem Stadtteil Hileli in Qamislo,
hatte uns zu Beginn unseres Aufenthalts in Rojava über die Frauenarbeit
in der Kommune berichtet.
„Wir sind 60 aktive Frauen in der Kommune, einmal in der Woche machen
wir Bildungsarbeit. Wir lesen gemeinsam Bücher und diskutieren darüber.
Zweimal im Monat besuchen wir die Frauen, erklären die Aufgaben der Revolution.
Viele sind sehr von der Logik des Staates beeinflusst, sie sehen sich
nicht als Menschen, die selbst politisch handeln können. Sie haben sehr
viele Kinder und es gibt viele Auseinandersetzungen zuhause. Die Kinder
sind draußen auf der Straße und machen Mist, statt zur Schule zu gehen.
Darum kümmern wir uns. Wir haben ein Komitee, das sich darum kümmert,
wenn eine Familie kein Einkommen hat. Sie bekommen die Grundnahrungsmittel
gestellt.
Das Friedenskomitee redet mit den Familien. Wenn es Gewalt in der Familie
gibt, kann die Frau beim Asayis Hilfe holen. In Hileli ist das inzwischen
gesellschaftlich sehr geächtet, seine Frau zu schlagen, das hat quasi
ganz aufgehört. In anderen Stadtteilen ist das teilweise noch verbreitet.
Hier war es üblich, dass 24 Stunden in den Wohnungen der Fernseher läuft,
mit türkischen Sendungen in arabischer Sprache, das war ein großes Problem.
Als es plötzlich keinen Strom mehr gab, waren die Köpfe auch frei für
etwas anderes.
Viele Frauen wurden sehr jung, im Kindesalter verheiratet, damit es nicht
zu außerehelichen Schwangerschaften kommt. Jetzt sehen sie, dass Bildung
gut für sie ist, dass sie dann ein besseres Leben haben.
Einmal in der Woche gehen wir los, sammeln auch ein bisschen Geld ein,
das ist eher eine symbolische Hilfe. Wir verteilen auch die Zeitung (Ronahi),
die einmal die Woche erscheint. Sie ist sehr preiswert, damit jede/r sie
lesen kann, in arabischer und kurdischer Sprache. Wenn wir jetzt zusammenkommen,
ist unser Thema nicht Klatsch und Tratsch, wie früher, sondern die politischen
Entwicklungen und die Frauenorganisierung. Wir kennen alle hier im Stadtteil.“
In vielen Stadtteilen gibt es inzwischen sogenannte Frauenhäuser. Es sind
keine Frauenfluchthäuser wie in der BRD, sondern Häuser, in denen Frauen
zusammenkommen, sich gemeinsam bilden, ihre Probleme besprechen, oft werden
Computer-, Sprach- oder Nähkurse angeboten.
Die wichtigste Arbeit der Frauenhäuser ist jedoch die Hilfe bei gesellschaftlichem
Sexismus.
„Die Frauen kommen
zu uns, wenn sie Probleme haben. Nicht nur die kurdischen Frauen, auch
die arabischen Frauen,“ so eine Vertreterin des Frauenhauses in Serê Kaniyê.
Wir werden selbst ZeugInnen einer solchen Anfrage. Zwei ältere arabische
Frauen sind gekommen und bitten die Frauen des Frauenhauses um Hilfe.
Nach einer Trennung verlangen sie Entschädigung.
„Durch das Kommunesystem kennen wir jede einzelne Familie, wir kennen
die wirtschaftliche Situation der einzelnen Familien, wir wissen, wer
seine Frau und seine Kinder schlägt. Wir gehen direkt dorthin und sprechen
mit den Betroffenen, bis es zu einer Lösung kommt“, so die Vertreterin
des Frauenhauses von Serê Kaniyê. Sie vereinbart einen Termin mit den
beiden Frauen, um eine Lösung für ihre Probleme zu finden.
Die
Kommune als Ort der Konfliktlösung
Die Kommune ist nicht nur ein Ort der Selbstorganisierung, sondern auch
der gesellschaftlichten Konfliktlösung. So geht es um soziale Probleme
im Stadtteil, um Unterstützung von ärmeren Mitgliedern der Kommune und
um die Gerechte Verteilung von Brennstoff, Brot und Lebensmitteln. Konflikte,
Nachbarschaftsstreits aber auch Gewalt gegen Kinder werden auf den Treffen
der Kommune verhandelt und versucht lösen. Auch unsoziales Verhalten wird
von der Kommune geächtet. Das geht so weit, dass Personen, die permanent
z.B. Ruhestörung begehen oder Übergriffe begehen, nach Verwarnungen aus
dem Stadtteil ausgeschlossen werden können.
Revolution
des Bewusstseins
Wie uns immer wieder mitgeteilt wird, ist die Revolution in Rojava, vor
allem auch eine Revolution des Bewusstseins, weg von der Autoritätsfixierung,
dem Patriarchat und feudalen Strukturen. Um diese Revolution auch auf
der Ebene der Kommunen umzusetzen, bilden sich alle Komitees der Kommunen
kontinuierlich auf Schulungen weiter. Auf jedem größeren Treffen finden
nach den Berichten Runden von Kritik und Selbstkritik statt. Wie uns Mamoste
Abdulselam erklärt, soll dabei nicht persönlich kritisiert werden, sondern
Strukturen mit dem Ziel der Weiterentwicklung und Stärkung kritisiert
werden.
Als Mitglied der Kommune leistet jede/r den eigenen Möglichkeiten entsprechend
Hilfe. Außerhalb der Versammlungen gibt es die Volksarbeit, Demonstrationen,
Feste, Besuche von Familien von Gefallenen.
Die Bedeutung der Kommune wird uns durch Mamoste Abdulselam deutlich gemacht:
„Wenn es in einem Stadtteil keine Kommune gibt, dann sind wir schwach,
weil wir fern von der Bevölkerung sind. Deshalb ist die Kommune die Basis
unserer Arbeit.“
Es wurde deutlich,
dass gerade die Kommunen eine Art Motor der Revolution und der gesellschaftlichen
Umwandlung darstellen und die Energie, welche durch die Veränderung der
Gesellschaft frei wird deutlich widerspiegeln.
Rojava, Delegation
der Kampagne TATORT Kurdistan, Mai 2014
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