Wer steht hinter ISIS?

Eine Bewertung von Civaka Azad zu den akteullen Entwicklungen in Syrien und im Irak, 19.06.2014

Es sollen 2.000 bis 3.000 Angreifer gewesen sein. Ihnen gegenüber standen wohl 25.000, die die Aufgabe hatten, den Angriff abzuwehren. Andere sprechen sogar von 800 Angreifern, die es mit 30.000 auf der Gegenseite zu tun hatten. Welche Zahlen nun auch stimmen mögen, Tatsache ist, dass die Angreifer erfolgreich waren, und das anscheinend ohne Verluste. Die Rede ist von der Übernahme der Stadt Mossul durch die islamistische Organisation „Islamischer Staat Irak und Syrien“ (ISIS). Auf der Gegenseite stand das irakische Heer, doch von „Gegenseite“ kann eigentlich gar nicht gesprochen werden, denn das irakische Heer überließ die Stadt freiwillig den Islamisten. Nun fragen sich alle, wie es dazu kommen konnte, dass die Islamisten ohne Widerstand die Stadt Mossul, immerhin die zweitgrößte Stadt des Iraks, einnehmen konnte.

„Wer verstehen will, wie ISIS Mossul eingenommen hat, sollte ihre logistische Spur bis zur syrisch-türkischen Grenze zurückverfolgen“, erklärt der Kolumnist und Nahost-Experte Fehim Taştekin in der türkischsprachigen Zeitung Radikal. ISIS, zunächst unter dem Namen Tawhid und Dschihad 2003 im Irak entstanden, hat es insbesondere seit 2013 im syrischen Bürgerkrieg zu internationaler Berühmtheit geschafft. Zunächst kämpfte sie dort an der Seite der Freien Syrischen Armee (FSA) gegen das Assad-Regime. Später wendete sie sich gegen die FSA und bekämpfte sie. Zuletzt kam es auch zu brutalen Auseinandersetzungen mit anderen islamistischen Gruppierungen wie die Al-Nusra-Front oder Ahrar al-Sham. Gefürchtet wird die Gruppe vor allem wegen ihrer Brutalität und Grausamkeit im Umgang mit ihren Gegnern. Im Videoportal Youtube veröffentlicht sie nach gewonnen Schlachten Bilder ihrer ermordeten Gegner. Unterstützung erfährt die Organisation vor allem von den Golfstaaten Saudi Arabien und Katar, die sich durch ein Erstarken der Islamisten, den Einfluss des Irans und Schiiten in der Region erhoffen.1

Doch kommen wir zurück zum Zitat von Fehim Taştekin und klären auf, was es mit der logistischen Spur der Organisation an der türkischen Grenze zu tun hat. In Syrien agiert ISIS vor allem von den Städten ar-Raqqa und Deir ez-Zor aus, beides Städte, die unter ihrer Kontrolle stehen. Im Norden von ar-Raqqah kontrolliert ISIS mindestens zwei Grenzübergänge zur Türkei. Und von der gegenüberliegenden Seite der Grenze haben die Islamisten in der Vergangenheit auch großzügige Unterstützung erhalten. Während die Golfstaaten durch ISIS den Einfluss der „schiitischen Achse“ in Syrien zurückdrängen wollen, war die Organisation für die Türkei ein nützlicher Partner, wenn es darum geht die Errungenschaften der kurdischen Bevölkerung in Rojava (Nordsyrien) zu bekämpfen.2 Denn neben den oben genannten Kämpfen der ISIS führen die Islamisten seit knapp einem Jahr auch einen brutalen Krieg gegen die demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava, zunächst ganz offen, nach internationaler Kritik mit verdeckter logistischer Unterstützung auch von der Regierung in Ankara.

Als Mitte Mai in der türkischen Grenzstadt Reyhanli mehrere Autobomben gezündet und mindestens 51 Menschen ums Leben kommen, hält sich lange das Gerücht, dass ISIS hinter diesem Anschlag stecken könnte. Übereilige Erklärungen aus den Reihen der AKP kurze Zeit nach den Anschlägen, dass es sich bei den Tätern um Mitglieder oder Sympathisanten des Baath-Regimes handele, stärken den Verdacht, dass die türkische Regierung etwas verdecken möchte. Denn sollte ISIS tatsächlich hinter den Anschlägen gesteckt haben, könnte dies die Herrschaften in Ankara in starke Bedrängnis bringen, zumal die türkische Unterstützung für islamistische Gruppierungen wie der ISIS im syrischen Bürgerkrieg ein offenes Geheimnis in der Öffentlichkeit ist. Doch was damals noch vermutlich unter den Teppich gekehrt werden konnte, ist spätestens mit der Einnahme von Mossul durch ISIS für alle offensichtlich geworden, nämlich dass die Islamisten auch nicht davor zurückscheuen, ihren einstigen Unterstützern aus der Türkei den Krieg zu erklären. Denn mit der Einnahme von Mossul wurden auch Mitarbeiter des türkischen Konsulats und türkische Sicherheitskräfte in der Stadt von ISIS festgesetzt. Derzeit sollen sich bis rund 100 türkische Staatsbürger in der Hand der Islamisten befinden. Über die Motive darüber, weshalb die ISIS nun auch gegen türkische Staatsbürger vorgeht, kann nur spekuliert werden. Manch einer sieht darin eine Vergeltung dafür, dass die Türkei nun in Syrien zur ISIS konkurrierende islamistische Gruppierungen unterstützt. Andere gehen davon aus, dass die Beziehungen zwischen ISIS und der Türkei anhalten und die Erstürmung des türkischen Konsulats in Mossul lediglich eine kalkulierte Aktion sei, um die Weltöffentlichkeit vom Gegenteil zu überzeugen. Mitglieder der ISIS haben, kurz nachdem sie die Konsulatsmitarbeiter festgesetzt haben, erklärt, dass diese keine Geiseln sondern Gäste seien, die sich an einem sicheren Ort befinden würden. Und in den türkischen Medien ist man überraschenderweise sehr schnell wieder zur Tagesordnung des politischen Alltags übergegangen und die Entführungen sind bereits so gut wie kein Thema mehr.

Als die Türkei den Krieg von ISIS gegen Rojava unterstützt hatte, warnten kurdische Politiker aus der Region, dass das Feuer, welches die Türkei jenseits ihrer Grenze entfache, auch bald sie verbrennen werde.3 Wenn dieser Fall noch nicht mit den Anschlägen von Reyhanli eingetreten war, so ist er es spätestens nun mit den aktuellen Ereignissen im Irak. Doch die türkischen Verantwortlichen scheinen daraus nicht wirklich viel gelernt zu haben. Denn während nun in der Türkei auf einmal die Wut gegenüber ISIS groß ist, hat die Türkei erst kürzlich eine erfolgreiche Operation der anderen beiden islamistischen Gruppierungen in Syrien, der Al-Nusra Front und der Gruppe Ahrar al-Sham, am türkisch-syrischen Grenzort Kassab unterstützt. Mittlerweile ist der Ort allerdings wieder unter Kontrolle des Baath-Regimes. Eine wichtige Anmerkung an dieser Stelle sei, dass die Türkei ganz aktuell die Al-Nusra Front, den offiziellen syrischen Arm der Al-Kaida, aus ihrer Terrorliste gestrichen hat.

Warum konnte ISIS ohne Gegenwehr Mossul und andere Städte einnehmen?

Es bleibt die offene Frage, warum die ISIS quasi ohne Gegenwehr eine Stadt wie Mossul einnehmen konnte. Und Mossul ist noch nicht einmal ein Einzelfall, auch die Geburtsstadt des irakischen Ex-Diktators Saddam Hussein und seit dem 16. Juni auch die zumeist turkmenisch bewohnte Stadt Tel Afar stehen bereits unter der Kontrolle von ISIS. Ein Grund hierfür wird sicherlich sein, dass ISIS, ganz im Gegenteil zur Situation in Syrien, im Irak eine gewisse Sympathie unter der sunnitischen Bevölkerung genießt. Der Grund hierfür ist vor allem auf das Scheitern des irakischen Ministerpräsidenten Nuri al-Maliki zurückzuführen. Dieser hatte kaum Wert darauf gelegt, die sunnitische Bevölkerung des Landes in seiner Politik zu berücksichtigen. Der schiitische Ministerpräsident ist aus diesem Grund auch ein verhasster Mann unter den Sunniten des Landes. Viele von ihnen wünschen sich die Zeit des Baath-Regimes unter Saddam Hussein zurück. Unter dem Ex-Diktator waren die Sunniten im Irak an der Macht, unter Maliki sind es die Schiiten, jeweils zum Leidwesen der anderen Gruppe. Kaum verwunderlich ist es, dass nun in Mossul auch untergetauchte Mitglieder des ehemaligen Baath-Regimes wie Izzat Ibrahim ad-Duri wieder aufgetaucht sein sollen. Ad-Duri war das einzige Mitglied des Baath-Regimes, den die US-Amerikaner nicht zu schnappen bekommen haben. Nun soll er, mittlerweile Generalsekretär der irakischen Baath-Partei, gemeinsame Sache mit der ISIS im Irak machen.

Über die Kapitulation des irakischen Heers vor ISIS gibt es wilde Spekulation. Manche sprechen von einem Schachzug al-Malikis, denn dieser habe durch das Zulassen der Machtübernahme durch die Islamisten im Zentrum des Landes den Notstand ausrufen wollen, um seine Machtbefugnisse zu erweitern. Andere sprechen hingegen von einem Putschversuch der Militärführung gegen die Maliki-Regierung. Fakt ist, derzeit leisten die kurdischen Verbände im Norden des Iraks am Boden den einzigen ernstzunehmenden Widerstand gegen ISIS. Dort kämpfen nicht nur Peshmergekräfte der Autonomen Region Kurdistans gegen die Islamisten, sondern auch die Volksverteidigungseinheiten der YPG am Grenzgebiet zu Rojava. Zeitweise agieren die beiden kurdischen Einheiten gar zusammen, was eine neue innerkurdische Entwicklung darstellt. Als die Islamisten der ISIS nämlich ihre Angriffe auf Rojava konzentrierten, hatte nicht nur die Türkei durch das Schließen ihrer Grenzen die Situation für die Zivilbevölkerung in der Region verschärft, sondern auch die südkurdische KDP beteiligte sich durch das Schließen der Grenzen der Autonomen Region Südkurdistans an dem Embargo gegen die Bevölkerung von Rojava und hat somit zumindest indirekt die Angriffe der Islamisten befördert.

Das irakische Heer hat nun bei seinem Rückzug aus Mossul auch gleich die erdölreiche Nachbarstadt Kirkuk geräumt. Die Stadt Kirkuk, eigentlich seit dem Sturz des Baath-Regimes Streitthema zwischen der Autonomen Region Kurdistan und der irakischen Zentralregierung, steht derzeit faktisch unter der Kontrolle der kurdischen Autonomieregion. Die Zentralregierung beschränkt sich bei seiner Gegenwehr gegen die ISIS derzeit auf Luftangriffe, doch die Islamisten bauen destotrotz ihre Basis weiter aus. Es stellt sich die Frage, wie die irakische Regierung und die globalen und regionalen Mächte reagieren werden, wenn ISIS die Kontrolle über die größten Erdölraffinerien des Iraks in der Stadt Baidschi oder die Erdölpipelines in Richtung Türkei in der Stadt Kirkuk erlangt.

Und wie stets mit der Mitverantwortung des „Westens“?

Die Entstehung und das Erstarken einer Organisation wie der ISIS sind auf jeden Fall eng verbunden mit der Politik der westlichen Mächte und ihrer regionalen Verbündeten im Mittleren Osten. Die Geburt der Organisation fällt zusammen mit dem Chaos, das die US-Intervention im Irak verursacht hat. Ihr Erstarken ist Folge des Syrienkrieges, bei dem ebenfalls der westliche Einfluss unbestreitbar ist. Es geht hier nicht darum, für Diktatoren wie Saddam Hussein oder Bashar al-Assad Partei zu ergreifen, der Volksaufstand gegen sie ist mehr als legitim. Doch wenn der Westen versucht diese legitimen Volksaufstände zu kontrollieren und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, sind Folgen, wie wir sie derzeit in Syrien und im Irak erleben, leider unausweichlich. Für die grauenhaften Bilder von Massenexekutionen aus Tikrit und Mossul trägt der Westen also eine Mitschuld. Und wie man sich selbst verbrennen kann, wenn man Organisationen wie die ISIS für das eigene politische Kalkül unterstützt, dafür ist wohl die Türkei das Paradebeispiel.4

Während die ISIS im Irak derzeit einen Erfolg nach dem anderen verbucht, sind ihr im vergangenen Jahr im Norden Syriens, in Rojava, die Grenzen aufgezeigt worden. Sowohl ihre Großoperationen in Serê Kaniyê (Ras al-Ain) als auch in Kobanê konnten von der Volksverteidigungseinheiten (YPG) erfolgreich abgewehrt werden. Der erfolgreiche Widerstand in Rojava gibt Hoffnung für einen sonst düsteren Ausblick für die Region.5 In Rojava haben die dort lebenden Kurdinnen und Kurden gemeinsam mit allen Volksgruppen der Region ein demokratisches Gesellschaftssystem errichtet. Und so haben auch all diese Volksgruppen bei der Verteidigung dieses Systems gegen die ISIS mitgewirkt. Einen über Volks- und Konfessionsgrenzen überschreitenden Widerstand für eine gemeinsame demokratische Zukunft bedarf es nun auch im Kampf gegen die ISIS im Irak. Der Widerstand von Rojava könnte da als Vorbild dienen.

1. Zur Unterstützung der ISIS durch die Golfstaaten siehe das Interview mit Michael Lüders “Kampf gegen ISIS wird Jahre dauern” für die Deutsche Welle am 12.06.2014

2. Zur der Unterstützung und Förderung islamistischer Gruppierung in Syrien für den Kampf gegen Rojava siehe “Kurdischer Puffer oder islamistischer Terrorstaat” aus der FAZ vom 11.06.2014

3. In offiziellen Stellungnahmen der Türkei hieß es stets, dass keine Waffen nach Syrien geschickt werden. Doch das Gegenteil geht aus den Angaben der UN und des türkischen Statistikamtes hervor; siehe dazu auch hier

4. Zur möglichen Gefahr, die durch die ISIS über die Türkei für Europa ausgehen könnte, sieh das Interview mit Michael Lüders “Es rollt ein Tsunami auf uns zu” im Deutschlandfunk vom 11.06.2014

5. Für einen Einblick über die aktuelle Situation in Rojava siehe auch “Wo Syrien schon demokratisch und frei ist” aus der Welt vom 03.06.2014

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