Kurdischer
Staat: „Cui bono?“ – Wem nutzt es?
Devriş Çimen, Civaka
Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 25.06.2014
Eines ist klar, nach all der
Unterdrückung, Verleugnung, den Massakern, der Folter und den Zwangsumsiedlungen,
mit denen die kurdische Bevölkerung seit gut einem Jahrhundert massiv
konfrontiert ist, stellt der Wunsch nach einem eigenen kurdischen Staat
einen für die meisten KurdInnen sehnsüchtigen Traum dar. Ein Traum, der
zugleich Alpträumen den Weg ebnen könnte. Auch in Anbetracht der Tatsache,
dass die KurdInnen auf Siedlungsgebiete im Iran, in der Türkei, im Irak
und in Syrien aufgeteilt sind – und sie in diesen Staaten von einer Politik
der Ausbeutung, Kolonialisierung, Assimilation und Unterdrückung betroffen
waren und sind – besteht dieser Wunsch. Völkerrechtlich besteht ohnehin
das Recht auf Widerstand gegen anhaltendes Unrecht und Tyrannei und es
gibt das Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Doch ist ein Nationalstaat
die einzige Möglichkeit, den KurdInnen eine freiheitliche und friedliche
Zukunft zu garantieren, oder gibt es auch andere Perspektiven und Wege?
Kurdistan: „Ist dieses Land
noch zu verhindern?“
Es gibt mehrere Herangehensweisen an diese Frage. Schauen wir uns einmal
an, was dazu in den deutschsprachigen Medien momentan zu finden ist. Wird
über das Thema KurdInnen berichtet, greifen die JournalistInnen oft darauf
zurück, Angst vor einem kurdischen Staat zu schüren. Ein Beispiel dafür
ist ein Artikel aus der tageszeitung (taz) vom 19. Juni:1 „Der kurdische
Staat rückt näher“. Oder erinnern wir uns an die Juli-Ausgabe (2013) der
Zeitschrift Zenith, die mit der Frage konfrontierte: „Ist dieses Land
noch zu verhindern?“2
In dieser Ausgabe beschäftigte
man sich mit der Frage der Etablierung eines möglichen Kurdistans, das
sich über die Grenzen der Staaten Irak, Türkei, Iran und Syrien erstrecken
würde. Wenige Tage später erschienen Chefredakteur Daniel Gerlach zufolge
ein paar „freundliche“, aber bedrohliche türkische Herren im Redaktionsbüro
von Zenith, die die Redaktion „unter die Lupe nehmen“ wollten und anschließend
in einem Diplomatenfahrzeug davonfuhren. Die Juli-Ausgabe führte zu großer
Empörung in der Türkei und mehreren Hackerangriffen auf die Website von
Zenith.
ISIS sorgt für Kurdistan-Debatte?
Aktuell gibt es wieder mehrere Berichte über einen möglichen kurdischen
Staat, nachdem die islamistische Organisation „Islamischer Staat Irak
und Syrien“ (ISIS, auch „Islamischer Staat Irak und Levante“, kurz ISIL
genannt) die Stadt Mossul eingenommen hat. „Die Türkei könnte einen kurdischen
Staat akzeptieren“, hieß es in der Überschrift zu einem Interview mit
der Politologin Gülistan Gürbey in der BAZ vom 17. Juni.3 Die Rede ist
von neuen Entwicklungen in der ölreichen Stadt Kirkuk, die nach dem ISIS-Einmarsch
in Mossul unter kurdischer Kontrolle steht. Die Regierung in Ankara sieht
scheinbar kein Problem darin, dass sich das irakische Kurdistan in einen
wohlhabenden eigenständigen Ölstaat verwandeln könnte – solange durch
diese Kontrolle eigene Profite gesichert werden.
Widersprüchliche Vorstellungen
von einem „Kurdistan“
Doch wie kommt es dazu, dass die türkische Regierung mit einem Teil der
KurdInnen „zufrieden“ ist und wirtschaftlich zusammenarbeitet – jedoch
die kurdische Bevölkerung im eigenen Land weiterhin systematisch unterdrückt
und die demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen der KurdInnen in Syrien
(Rojava) mit Unterstützung der islamistischen ISIS und des syrischen al-Qaida
Ablegers Al-Nusra-Front sogar noch offensiv bekämpft?
Ist es die gegenwärtige Bedrohung
durch ISIS, welche die türkische Regierung von ihrer strikten antikurdischen
Politik abbringt, oder sind es eher die guten wirtschaftlichen Beziehungen
mit der Regionalregierung Kurdistan (KRG), allen voran der PDK (der Partei
Barzanis)? In diesem Zusammenhang ist es wichtig zu sehen, dass seit kurzem
Öl durch die neu gebaute Pipeline aus dem kurdischen Autonomiegebiet unter
Leitung der KRG in die türkische Hafenstadt Ceyhan fließt. Eine Million
Barrel Rohöl flossen auf diesem Weg nach Europa u. a. nach Italien und
Deutschland. „Weitere Verkäufe“ wurden Ende Mai 2014 angekündigt. Die
Einnahmen daraus werden auf einem Konto der KRG bei der türkischen Halkbank
angelegt. Genau diese, nicht von der Zentralregierung in Bagdad genehmigten,
eigenständigen Exporte von Rohöl sind ein wichtiger Streitpunkt zwischen
KRG und Zentralregierung. Es ist eine ökonomische Realität, dass Ölfirmen
wie Exxon Mobil ihre Geschäfte lieber direkt mit der kurdischen Region
abschließen; zu großzügigeren Konditionen und mit weniger Bürokratie –
wenngleich nicht unbedingt weniger Korruption.
„Selbst wenn der Staat ein
Esel ist, steige nicht auf!“
Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Türkei und KRG sind vielfältig
und beschränken sich nicht nur auf Waren (Lebensmittel und viele weitere
Produkte des täglichen Bedarfs werden aus der Türkei importiert), sondern
erstrecken sich auch auf Dienstleistungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich.
In vielen Bereichen ist die KRG mittlerweile von der Türkei abhängig und
entwickelt kaum eine eigenständige und unabhängige Wirtschaft.
Kommen wir wieder zur Frage
nach einem kurdischen Staat zurück.
Für die KurdInnen im Irak,
der Türkei, Syrien und im Iran bedeutet die „Eingliederung“ in den jeweiligen
„Staat“ noch immer hauptsächlich Leid, Schmerz, Folter, Massaker, Gewalt,
Betrug und Ausbeutung. Der jahrzehntelange Kampf um Grundrechte sowie
Selbstbestimmung ist immer mit Gewalt unterdrückt und bekämpft worden.
Diese historische Erfahrung weckt bei ihnen die Sehnsucht nach einem eigenen
Staat – aber ist das der einzig mögliche und anstrebenswerte Weg?
Ich denke nicht! Den KurdInnen
würde ein Staat mehr schaden als nützen. Es gibt ein kurdisches Sprichwort:
„Selbst wenn der Staat ein Esel ist, steige nicht auf!“ Es hat einen wahren
Kern, aufgrund dessen vor allem heutzutage, bei wachsendem politischem
Bewusstsein der kurdischen Bevölkerung, großes Misstrauen gegenüber einem
eigenen Staat herrscht.
Wirtschaftlich und politisch
abhängiger Staat
Ein wirtschaftlich und politisch abhängiger Staat bedeutet für die KurdInnen
keinen Fortschritt. Vielmehr wären sich wirtschaftlich und politisch selbst
verwaltende Regionen in den jeweiligen Staaten – in Zusammenarbeit mit
den weiteren dort lebenden Volksgruppen und Religionsgemeinschaften –
eine sinnvollere und vor allem eine demokratischere Alternative. Ein großer
Teil der politischen Institutionen der KurdInnen fordert Anerkennung,
Respekt sowie ein würdevolles und freies Leben.
Kurdischer Status?
Eigentlich ist es diesbezüglich auch schon seit langem notwendig, nicht
ÜBER die KurdInnen zu reden und von oben herab zu bestimmen, sondern MIT
ihnen über ihren Status und ihre Vorstellungen zu sprechen. Mit Separationsvorwürfen
ihnen gegenüber oder den angeblich langfristigen Vorbereitungen zur Bildung
eines Staates wird in Bezug auf die Konstellation und Gestaltung der Staaten
im Mittleren Osten jegliche natürliche Dynamik ausgebremst. Auf Grundlage
der nach dem Ersten Weltkrieg etablierten Sykes-Picot-Ordnung wird eine
falsche und destabilisierende Politik mit jeweils wechselnden – aber von
Kräften außerhalb der Region dominierten – Mächten betrieben.
Bricht die Sykes-Picot-Ordnung
zusammen?
Etlichen AnalystInnen zufolge können in Syrien und im Irak mit den bisherigen
Grenzziehungen und Regierungsstrukturen keine nachhaltigen stabilen Staaten
entstehen. Dasselbe gilt für die Türkei und den Iran. Auch andere Staaten
des Mittleren Ostens, die gemäß der Sykes-Picot-Ordnung entstanden sind
und jahrzehntelang ihre ethnisch und religiöse Vielfalt unterdrückt haben,
werden nicht mehr so weiter agieren können wie bisher.
Bricht die Sykes-Picot-Ordnung
zusammen? Ja, der Status quo wird sich aufgrund mehrerer Faktoren und
Dynamiken ändern. Aber wo liegt eine lebenswürdige Alternative und Perspektive?
Etwa in neuen Nationalstaaten? Einer neuen, aber wieder auf Unterdrückung
und kolonialen Interessen beruhenden Grenzziehung? Oder in noch zentralistischeren
Staatsordnungen im Mittleren Osten? Oder in der völligen Destabilisierung
und Zerstückelung der Region auf Basis einer Aufteilung entlang religiöser,
ethnischer und clanbedingter Strukturen und „Grenzen“? Und wem würden
solche „Grenzen“ und Strukturen nutzen?
Ressourcenverteilung und strategische
Macht
Solange die Konflikte in der Region maßgeblich um die Ressourcenverteilung
und strategische Macht der regionalen und internationalen Akteure ausgetragen
werden, wird es zu keiner Demokratisierung und Stabilisierung sowie Lösung
aus ausbeuterischer Abhängigkeit kommen. Auch durch radikale Strömungen
werden ethnische und religiöse Konflikte geschürt, um die Ressourcen für
das eigene wirtschaftliche und politische Kalkül und/oder die Beteiligung
an Profiten zu instrumentalisieren. Dr. Marina Ottaway schreibt in „Internationale
Politik und Gesellschaft“ (IPG) der Friedrich-Ebert-Stiftung am 14.05.2014:
„Die Ressourcen könnten neue Konflikte schüren aber andererseits auch
dazu beitragen, alte Krisenherde durch die Schaffung von neuen Wirtschaftszonen
beizulegen.“4
Die Menschen und Volksgruppen
im Mittleren Osten brauchen allerdings nicht noch mehr Kriege, Gewalt
und Staatenbildung. Es sollten vielmehr neue friedliche, demokratische
und selbstbewusste Formen von Politik und Demokratie gewagt werden.
Alternative zu Nationalstaat
und strategischer Macht
Die Schaffung eines neuen Systems, einer demokratisch-ökologischen und
geschlechterbefreiten Gesellschaft, „grundsätzlich außerhalb von staatlicher
Macht aufzubauen“, wie dies von Abdullah Öcalan in seiner Verteidigungsschrift
„Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“5 vorgeschlagen wird, ist dazu ein
guter Ansatz. Dass diese Idee des „Demokratischen Konföderalismus“ oder
der „Demokratischen Autonomie“ bisher wenig bekannt ist, hängt damit zusammen,
dass sie seitens der herrschenden Eliten weltweit bewusst ignoriert –
und bei der Entwicklung möglicher Lösungsmodelle nicht in Betracht gezogen
oder sogar diffamiert – wird. Öcalan entwirft in seinem Konzept einen
ganz neuen Begriff der „Nation“ – die „Demokratische Nation“. Die Demokratische
Nation definiert sich nicht über eine ethnische, kulturelle oder religiöse
Zugehörigkeit. Schon gar nicht definiert sie sich über staatliche Grenzen.
Sie stellt viel mehr den Gegenentwurf zum Nationalstaat dar. „Auch wenn
die verschiedenen Definitionen des Nationenbegriffs breitgefächert sein
mögen, kann man in ihnen doch eine Gemeinsamkeit hervorheben. Diese Gemeinsamkeit
drückt sich in dem gemeinsamen Geist einer Nation aus. Das bedeutet, eine
Nation besteht aus einer Gruppe von Menschen, die einen gemeinsamen Geist
[eine gemeinsame Mentalität] teilen“, schreibt Öcalan und kommt auf die
gemeinsame Mentalität der Demokratischen Nation mit folgenden Worten zu
sprechen: „Während bei der staatlichen Nation der Nationalismus bestimmend
ist für den gemeinsamen Geist, sind es bei der Demokratischen Nation die
Freiheit und die gegenseitige Solidarität.“ Kurz gesagt, ist die gelebte
Demokratie das Bindeglied seiner Vorstellung einer Demokratischen Nation.6
Schauen wir uns das einmal
am Beispiel der kurdischen Region in Rojava (Syrien) an. Rojava ist die
Bezeichnung für die überwiegend von KurdInnen bewohnte Region in Nordsyrien.
Alfred Hackensberger schreibt
am 03.06.2014 in „Die Welt“: „Sie [die neue autonome Regierung] will ein
anderes, ein neues Syrien schaffen, eines der Demokratie, Selbst- und
Mitbestimmung der Bevölkerung von Rodschawa.“7 Ein Zurück in die Dominanz
des alten Baath-Regimes ist nicht möglich und eine Zukunft unter der Herrschaft
der „Islamisten“ ist auch keine Lösung. „Für radikale Islamisten ist Demokratie
inakzeptabel. Für sie hat nur das göttlich-islamische Recht der Scharia
Geltung. Alles andere ist für sie Gotteslästerung“, so Hackensberger.
„‚Wir haben ganz andere Grundprinzipien‘, sagt Akram Heso, der parteilose
Präsident der neuen Regierung, die sich im Januar gebildet hat. ‚Wir glauben
an demokratisches Selbstmanagement, an dem alle ethnischen und religiösen
Gemeinschaften gleichberechtigt teilnehmen können.‘“ Und das funktioniert
momentan, wenn auch unter schwierigen Umständen.
„Demokratische Autonomie“
Wenn jedoch eine „Demokratische Autonomie“ in Zusammenarbeit mit sämtlichen
Bevölkerungsgruppen funktioniert, warum sollte man dann einen Nationalstaat
gründen? Das macht keinen Sinn, selbst wenn es sich um einen kurdischen
Staat handeln würde. Der Vorschlag Öcalans bezieht sich auf den Mittleren
Osten und wird momentan in Syrien, der Türkei, im Iran bis hin zum Irak
diskutiert und entwickelt. Er könnte auch für weitere Länder in der Region
als ein Modell für ein zukünftiges friedliches, demokratisches Zusammenleben
wahrgenommen werden. Es wäre eine Herausforderung für die ganze Region,
sich selbstbewusst zu entwickeln und allen Menschen ein humanes und würdiges
Leben zu ermöglichen, anstatt in Krieg, Leid und Destabilisierung zu versinken.
Dadurch würden jedoch die Profite und die Kontrolle über Ressourcen und
Ressourcentransportwege einiger Akteure (aus der Region und international)
geschmälert.
Versagen des Nationalstaats
Also ignoriert man dieses Experiment voreilig, weil die „Obrigkeiten“
es so wollen. Die dahinterstehenden Akteure versuchen auch noch immer,
mit Hilfe „internationaler Kriminalisierung“ Öcalan und führende kurdische
PolitikerInnen zu diskreditieren.
Demgegenüber sollten wir vorurteilsfrei
versuchen, die Ideen und das Experiment nachzuvollziehen und die darin
enthaltenen Entwicklungsmöglichkeiten und Auswirkungen zu begreifen. Denn
all die anderen Modelle und Methoden haben versagt – und durch die bisherige
verfehlte Politik ist der gesamte Mittlere Osten in einer Gewaltspirale
gefangen und im heutigen Chaos versunken. So ähnlich beschreibt das auch
Georg Diez in seiner Kolumne auf Spiegel-Online am 20.06.2014: „Es fällt
den Menschen schwer, sich die Welt anders vorzustellen, als sie ist. Das
ist ein philosophisches, vor allem aber ein politisches Problem: Denn
die Gegenwart ist eine Konstruktion, die zufällig ist und nicht notwendig,
und indem wir uns stumpf und störrisch an den immer gleichen Konstruktionsfehlern
abarbeiten, verpassen wir den Moment, die Welt einmal anders zu denken.“8
Weiter schreibt Diez: „Der
Nationalstaat zum Beispiel: Eher Problem als Lösung, eine sehr junge historische
Erscheinung, die perfekte Zwangsjacke für emanzipatorische Verirrungen
von Minderheiten.“
Die kurdische Verantwortung
Die Verantwortung für eine Demokratisierung der Türkei, Syriens, des Iran
und des Irak liegt momentan und historisch auch sehr schwer auf dem Rücken
der KurdInnen. Diejenigen, die einst Opfer der dortigen Nationalstaaten
waren, können heute als wegbereitende AkteurInnen eines demokratischen
Wandels wirken und somit zur Demokratisierung der gesamten Region beitragen.
Will man das, müsste man ohne Vorurteile die kurdische Perspektive betrachten,
analysieren und verstehen – auch wenn sie von Seiten der PKK und Öcalans
entwickelt wurde.
In der Verteidigungsschrift
Abdullah Öcalans „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“ beschreibt er
auch die Problematik des Nationalstaats verbunden mit der aktuellen Politik
im Nahen und Mittleren Osten. In Bezug auf die Gegenwart verweist er auf
das von ihm entwickelte Demokratiekonzept und stellt fest, dass die Entwicklung
in diesem mittelöstlichen Raum das genaue Gegenteil der Entwicklungen
im Westen sei: „Der Staat wurde zunehmend despotischer und entwickelte
sich für die Gesellschaft zu einem blutsaugenden Parasiten. Das ist die
Tragik dieser Geschichte seit dem 15. Jahrhundert“.9
Ständige Krisen
Weiterhin beschreibt er: Der derzeit existente mittelöstliche Staat ist
gekennzeichnet durch die Unsicherheit der Bürgerinnen und Bürger in Form
autoritärer Repression und die Verschwendung der natürlichen Ressourcen
der Länder. Gerade weil sie so despotisch sind, produzieren die bestehenden
Systeme andauernd Krisen. Dieser Despotismus wird derzeit vom Westen unterstützt,
damit die Ausbeutung der Ressourcen sicher und kostengünstig gewährleistet
werden kann. Aufgrund der Verarmung der Massen gerät der despotische Staat
jedoch zunehmend auch unter inneren Druck, reagiert mit verstärkter Repression
und wird so für das globale System zum Hindernis. Diese Situation lieferte
der Politik der Bush-Administration gegenüber dem Nahen und Mittleren
Osten – einschließlich des vorgeblichen Demokratisierungswillens – die
legitimatorischen Argumentationsmuster, sie bildete „die materielle Grundlage
für das Greater Middle East Project“.10
Demokratisierung als dynamisches
Konzept
Demokratisierung wird von Öcalan nicht als formal-institutionelles Projekt
verstanden, sondern als dynamisches Konzept, das auf der basisdemokratischen
Organisierung der Bevölkerung ruht und sich in kommunalen, vor allem in
nicht etatistischen Strukturen artikuliert: „Demokratie nimmt in dem Maße
zu, in dem der Staat abnimmt und umgekehrt.“11 Verbunden mit einem solchen
Demokratiekonzept sind dann Spielräume politischer, vor allem kultureller
Autonomie. So ist auch das Projekt Rojava zu verstehen – in dessen Rahmen
die Probleme beispielhaft für den gesamten Mittleren Osten schrittweise
behandelt und gelöst werden können: Das bedeutet ein Überwinden der autoritär-despotischen
Staatsmodelle, die sich (zu Lasten der Minderheiten) nationalistisch legitimieren
– einschließlich der damit verbundenen despotischen, ja faschistischen
Tendenzen. Gerade im kulturellen und konfessionellen Pluralismus des Nahen
und Mittleren Ostens sieht Öcalan die Chance für eine lebendige, basisorientierte
Demokratie. Sie ist nur durch ein Höchstmaß an Autonomie und Abbau zentralstaatlicher
Gewalt zu erreichen.
Die mittel- bis langfristige
Perspektive für eine solche am Frieden in der Region orientierte Lösung
ist eine föderale Vernetzung der Staaten, die dadurch nicht in ihrem derzeitigen
territorialen Bestand gefährdet werden, wohl aber in ihren inneren Strukturen
verändert werden müssten. Aus genau dieser Analyse heraus folgt auch eine
radikale Selbstkritik an der anfangs von der PKK betriebenen Politik:
Der nationale Befreiungskrieg war ein Fehler: „… dass wir ihn als einzigen
Weg dachten und praktizierten, brachte viele sinnlose Verluste und das
Scheitern andersartiger Bemühungen mit sich.“12
Aufhetzen der Volks- und Religionsgruppen
in der Region
Die schon zuvor hergeleitete Absage an jeden Nationalismus, der scharf
von einem kulturell begründeten Patriotismus unterschieden wird, ist zugleich
Voraussetzung für die von Öcalan vorgeschlagene föderative Lösung, die
sich nicht auf Kurdistan beschränken kann, sondern die gesamte Region
umfassen muss, damit überhaupt demokratische Verhältnisse entstehen können.
Solche auf Autonomie und wechselseitige Toleranz gegründeten Strukturen
aber wollen weder der zeitgenössische Imperialismus noch die despotischen
Staatsführungen – im Gegenteil: Die imperialistische Strategie zielt derzeit
auf das gegenseitige Aufhetzen der Volks- und Religionsgruppen der Region.
Sichtbar wurde und ist dies
in den auch von außen hervorgerufenen Destabilisierungs- und Verfallsprozessen
von Jugoslawien über den Kaukasus und die Ukraine bis nach Afghanistan,
zum heutigen Nordafrika (insbesondere Libyen) und dem Mittleren Osten.
Auch der kurdische Föderalstaat im Nordirak ist hierfür ein Paradebeispiel,
dient er doch nicht einer demokratischen Lösung, sondern ist Teil der
Parzellierung der Region unter der Schirmherrschaft der international
und regional rivalisierenden ökonomischen und politischen Kräfte.
Nationalstaat begraben
Mit Tolerierung der internationalen und regionalen rivalisierenden Mächte
wurden in den unter arabischer, türkischer und persischer Dominanz stehenden
Nationalstaaten u.a. den KurdInnen, Suryoye (AssyrerInnen/AramäerInnen),
ArmenierInnen, BelutschInnen, TschetschenInnen, TurkmenInnen, TscherkessInnen,
AserbaidschanerInnen, LasInnen, LurInnen, AraberInnen, PomakInnen und
Dutzenden weiteren Bevölkerungsgruppen ihre Grundrechte vorenthalten,
sie wurden unterdrückt, assimiliert und Massakern ausgesetzt.
Auch den unterschiedlichen
Religionsgruppen erging es nicht anders unter der sunnitischen und schiitischen
Dominanz in der Region, bei der jeder „seinen eigenen Gott anflehte, die
Gebete der anderen zum Schweigen zu bringen“, wie der Autor Amin Maalouf
in seinen Roman „Die Häfen der Levante“13 schreibt.
So wurden die ChristInnen (assyrisch-aramäisch,
armenisch-katholisch, armenisch-apostolisch, maronitisch, protestantisch,
römisch-orthodox), AlevitInnen (in der Türkei), AlawitInnen (NusairierInnen
in Syrien), EzidInnen (in Kurdistan), Schabak, IsmailitInnen, DrusInnen,
Juden und Jüdinnen, Bahai und MandäerInnen in ihrer Religionsfreiheit
eingeschränkt, verfolgt, vertrieben und zur Zielscheibe erklärt.
Ohne die Tolerierung und Förderung
des Status quo durch die internationalen und regionalen Mächte hätten
diese Volks- und Religionsgruppen in der Region nicht dieses Leid ertragen
müssen.
In diesem Sinne muss der Nationalstaat
nicht nur sterben, sondern auch begraben werden, um die Völker aus den
Gräbern der Nationalstaaten zu befreien. Auf diese Art ergibt sich die
Möglichkeit, dass die Menschen, die Dutzenden Volks- und Religionsgruppen
im Mittleren Osten es doch noch schaffen können, friedlich und freiheitlich
miteinander zu leben. Lobenswert ist in diesem Sinne der Artikel „Der
Nationalstaat muss sterben“ von Georg Diez, der eine Debatte über den
gescheiterten Nationalstaat angestoßen hat.
1 http://taz.de/Kurden-im-Irak/!140652/
[↩]
2 http://www.zenithonline.de/fileadmin/downloads/zenith_03_2013_wirtschaft.pdf
[↩]
3 http://bazonline.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/Die-Tuerkei-koennte-einen-kurdischen-Staat-akzeptieren/story/20351814
[↩]
4 „Jenseits von Sykes-Picot“, http://www.ipg-journal.de/kommentar/artikel/jenseits-von-sykes-picot-388/
[↩]
5 Abdullah Öcalan: „Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“, auf Deutsch:
Mezopotamien-Verlag 2010, S. 89 [↩]
6 Zum Begriff der Demokratischen Nation siehe: http://civaka-azad.org/die-demokratische-nation/
[↩]
7 “Wo Syrien schon frei und demokratisch ist“ http://www.welt.de/politik/ausland/article128652793/Wo-Syrien-schon-frei-und-demokratisch-ist.html
[↩]
8 S.P.O.N. – Der Kritiker: „Der Nationalstaat muss sterben“, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/pankaj-mishra-georg-diez-ueber-isis-a-976364.html
[↩]
9„Jenseits von Staat, Macht und Gewalt“, S. 227 f. [↩]
10 Ebd., S. 269 [↩]
11 Ebd., S. 289 [↩]
12 Ebd., S. 447 [↩]
13 übersetzt aus dem türkischen „Doğu‘nun Limanları“ (Die Häfen der Levante)
von Amin Maalouf, Istanbul 1996 [↩]
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