Interview mit
Abdelrahman Hamu, Öffentlichkeitsreferent der Übergangsregierung des Kantons
Cizire in Rojava
Das Interview führte
Martin Dolzer, zurzeit auf Delegation* in Rojava
Die Gruppe Islamischer Staat
(IS) versucht seit zwei Jahren die multiethnischen und multireligiösen
demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen in Rojava/Nordsyrien anzugreifen
und zu zerstören. Seit Juni 2014 greifen die Dschihadisten zudem im Nordirak
Kurden und Glaubensgemeinschaften wie Christen und Eziden an. Sie begehen
dabei systematisch Kriegsverbrechen. Wie konnte diese Gruppe entstehen?
Die ISIS wurde seit der Intervention der USA im Irak im Jahr 2003 von
unterschiedlichen internationalen und regionalen Kräften aufgebaut und/oder
geduldet. Jeder der beteiligten Akteure hatte unterschiedliche Motive
zu versuchen die dschihadistische Gruppe zu unterstützen bzw. zu instrumentalisieren.
Die USA wollten IS als destabilisierende Kraft in der Region installieren.
Die syrische Regierung wollte sie instrumentalisieren, um die Freie Syrische
Armee (FSA) zu bekämpfen und die Opposition zu spalten. Der Iran hat sich
diesem Ziel als Verbündeter des Assad Regimes angeschlossen. Die Demokratische
Partei Kurdistans (KDP) von Mesud Barzani wollte die Öcalan nahe PYD schwächen,
um in Rojava/Nordsyrien ihre eigene Position zu stärken. Die türkische
Regierung wollte mit aller Macht verhindern, dass sich die selbstverwalteten
Strukturen in Rojava stabilisieren, um die eigene regionale Vormachtstellung
zu erhalten und eine etwaige positive Auswirkung auf das Selbstbewusstsein
der Kurden im eigenen Land zu verhindern.
Waren diese regionalen und
internationalen Akteure mit ihrer instrumentell orientierten Politik erfolgreich?
Nein, sie haben jeweils versucht ihre eigenen Ziele durchzusetzen und
dabei die angestrebte Kontrolle über die Dschihadisten verloren, bzw.
die Wirkungsweise und die Dynamik der Selbstorganisierung und Selbstfinanzierung
der Gruppe unterschätzt. Die IS hat sich nicht als lenkbare Marionette
erwiesen, sondern versucht ein Kalifat mit rigider Auslegung der Scharia
zunächst im Irak und in Syrien und darauf folgend im Iran zu errichten.
Andere Religions- und Bevölkerungsgruppen werden dabei als zu vernichtende
Feinde definiert. IS betreibt eine Politik der ethnischen und religiösen
Säuberungen. Die Gruppe begeht Massaker und Vergewaltigungen. Sie verkauft
entführte Frauen auf Sklavenmärkten und verwehrt Frauen systematisch ihre
Rechte.
Können sie etwas zur geostrategischen
Lage in der Region sagen?
Insbesondere seitens der USA und weiterer westlicher Kräfte wird versucht
eine eigene Version des Islam im Mittleren Osten zu etablieren. Auch dazu
wurde und wird versucht die IS zu benutzen. Mit einer Art Wipeout-Strategie
wird versucht andere Identifikationsmuster als den Islam, in seinen bis
jetzt bekannten Ausprägungen durchsetzungsfähig zu machen. Es ist vorgesehen,
dass die Menschen sich von einer derart menschenverachtenden Interpretation
der Religion abwenden. Dann soll eine nicht mehr rein religiöse, sondern
eine religiös-nationalistische oder eine religiös-wirtschaftsorientierte
Selbstdefinition hegemonial werden.
Was ist das langfristige Ziel
dieser Strategie?
Im Rahmen einer derartigen Teile und Herrsche Strategie ist angedacht
die Grenzen in der Region, die 1916 im Rahmen der kolonialen Aufteilung
des Mittleren Ostens gezogen wurden, neu zu ordnen. Auf diese Weise versuchen
die USA und einige mit ihnen verbündete internationale und regionale Akteure
neue Märkte nach eigenem Bedarf zu erschließen – oder besser gesagt zu
schaffen – und die Sicherung von Ressourcen und Handelswegen zu betreiben.
Es handelt sich um einen Verteilungskrieg moderner Ausprägung.
Nach den Angriffen
der IS auf die Eziden in Sengal werden u.a. aus Deutschland Waffen an
die KDP geliefert. Die Eziden beklagen, dass Peschmerga der KDP sie obwohl
das möglich gewesen wäre nicht vor den Verbrechen der IS geschützt hat.
Was denken Sie zu den Waffenlieferungen?
Stattdessen sollten die demokratischen Kräfte in der Region gestärkt werden.
Das heißt, dass u.a. die Selbstverwaltung in Rojava, die ein respektvolles
Zusammenleben aller Bevölkerungsgruppen anstrebt, anerkannt statt isoliert
werden sollte. Die YPG, die Selbstverteidigungskräfte aus Rojava, haben
gemeinsam mit der PKK in Sengal einen Korridor für die Eziden erkämpft,
um ihnen die Flucht vor den Kriegsverbrechen der IS zu ermöglichen. Zudem
bauen sie dort gemeinsam mit der Bevölkerung Selbstverteidigungsstrukturen
auf. Viele Eziden wollen sich nicht vertreiben lassen, sondern ihre Existenz
und Würde in dieser historischen Region verteidigen. Momentan hat sich
die IS insbesondere nach den Bombardements durch die USA teilweise aus
dem Nordirak zurückgezogen. Die Dschihadisten versuchen sich in Syrien
neu zu organisieren, um einen weiteren Angriff auf die Kurden und die
Selbstverwaltung in Rojava zu starten.
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*Vom
14. September bis voraussichtlich 24. September wird eine Delegation mit
den TeilnehmerInnen Prof. Dr. Norman Paech, Dr. med. Gisela Pentecker
(IPPNW), Rechtsanwältin Britta Eder sowie dem Soziologen Martin Dolzer
(beide Wissenschaftliche Projektmitarbeiter von Andrej Hunko, Mitglied
des Bundestags und Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarats,
DIE LINKE) und Yilmaz Kaba (Vorstandsmitglied der Föderation der Ezidischen
Vereine e.V.) in die Kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak und nach
Rojava (Nordsyrien) reisen.
http://rojavadelegation.blogspot.de/
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