Türkei: Waffen für IS – Flüchtlinge als WaffeDevriş Çimen, Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 22.09.2014 „Aus Furcht vor der Terrormiliz IS sind nach Angaben der Vereinten Nationen innerhalb von 24 Stunden 70.000 Kurden aus Syrien in die Türkei geflohen. Die türkische Grenze wurde zeitweilig geschlossen. Das UN-Flüchtlingswerk will der Regierung in Ankara helfen.“ So in etwa lauten die Berichte in den deutschsprachigen Medien. Doch es wird oft nicht hinterfragt, warum die Türkei so großzügig die Flüchtlinge aufnimmt, wo sie doch auf der anderen Seite die unterstützt, die die Menschen mit dem Tod bedroht und zur Flucht treibt? Obwohl in den internationalen Medien – von der New York Times, über den Spiegel, Independent und Hürriyet – es eine allgemein bekannte Tatsache zu sein scheint, dass die Türkei den IS „geheim“ unterstützt, folgen dennoch keine politischen Konsequenzen für die Türkei. So schrieb der türkische Journalist Cengiz Çandar am 09.08.2014: „Das Duo Tayyip Erdoğan – Ahmet Davutoğlu hat regelrechte ‚Geburtshilfe‘ bei der Geburt des ‚Islamischen Staats‘ an der gesamten Südgrenze zu unserem Land geleistet, damit nicht vor den Augen der Türkei ein zweites autonomes Kurdistan entsteht und um etwaige Forderungen der Kurden in der Türkei abzuwenden.“ Der IS ist damit Mittel des türkischen Staates, um Einfluss im Mittleren Osten zu gewinnen. Der damalige Außenminister und aktuelle Ministerpräsident der Türkei Ahmet Davutoğlu verharmloste am 07.08.2014 den IS, indem er ihn als wütende Gemeinschaft bezeichnete: „Eine Struktur wie der IS mag auf dem ersten Blick wie eine radikale, terroristische Organisation erscheinen, aber in ihr sind Massen organisiert. Im IS gibt es sunnitische Araber und auch nicht wenige Turkmenen.“ „Flüchtlinge werden erwartet …“ Der stellvertretende AKP-Regierungschef Kurtulmuş ging schon am Donnerstag, den 18. September, von Hunderttausenden aus, die aus Nordsyrien in die Türkei fliehen werden; er behauptete auch, dass sich etwa 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Syrien schon in der Türkei befänden. Hier stellt sich zunächst die Frage, wie zu diesem Zeitpunkt, am Anfang der IS-Offensive gegen Kobanê, die AKP-Regierung zu diesen Angaben kam. Da drängt sich die Frage auf, ob es sich dabei um eine Spekulation oder um eine Folgerung aus der türkischen Unterstützung des IS handelt. Zu einer Sondersitzung hatten sich laut türkischen Medienberichten am 18. September türkische Regierungskreise und Experten getroffen. Bei dieser Sondersitzung habe man sich über die Lage ausgetauscht, Kurtulmuş erklärte, dass man schon aufgrund von vorliegenden Untersuchungen beschlossen habe, die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen; eine neue „Fluchtwelle“ von etwa 100.000 bis 150.000 Menschen sei zu erwarten. Fakten über die IS-Offensive und ihre Massivität sollen schon am 16. September vorgelegen haben, einen Tag nach Beginn der IS-Offensive. Der Beschluss ist also mindestens einen Tag vorher gefallen. Zugespitzt stellt sich hier die Frage: Welche Informationen lagen der türkischen Regierung vor, um schon einen Tag nach dem IS-Angriff davon reden zu können, dass möglicherweise 150.000 Menschen fliehen werden? In dem Dorf Qeremox kommt es seit der Nacht des 19. auf den 20. September zu schweren Auseinandersetzungen zwischen dem IS und Kämpferinnen und Kämpfern der Volksverteidigungseinheiten YPG. Laut Berichten der Nachrichtenagentur Firat vom 17.09. soll militärisches Rüstzeug mit einem Zug auf der türkischen Seite an die Grenze gebracht worden sein, von wo aus IS-Kämpfer diese über die Grenze nach Syrien transportiert haben sollen. Handelte es sich dabei etwa um einen Deal (Waffen gegen Diplomaten) zwischen der IS und AKP, damit die türkische Diplomaten freikommen? Unterdessen meldete die IS-nahe Webseite Taqwa, Geld sei nicht geflossen, sprach aber von „einem Erfolg des IS“: „Die türkische Regierung beteiligte sich nicht an der US-Invasion und erkannte den Islamischen Staat an, wenn auch indirekt“. Überhöhte Zahlen des UNHCR Am Sonntagmorgen (21. September) berichten die Medien: „Rund 70.000 Menschen haben sich nach UN-Angaben innerhalb von 24 Stunden vor den Kämpfen zwischen der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) und kurdischen Einheiten aus Syrien in die Türkei gerettet. Es kämen vor allem kurdische Frauen, Kinder und ältere Menschen, sagte eine Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks UNHCR. Der Zustrom halte an. Sie kündigte an, die Hilfe für Flüchtlinge aufzustocken und rief die Internationale Gemeinschaft zur Hilfe auf. Es werde damit gerechnet, dass in den kommenden Tagen hunderttausend weitere Menschen vor den Gefechten fliehen werden.“ Doch die lokalen Vertreter der Demokratischen Partei der Völker (HDP) in Suruç sehen die Angaben des UNHCR überhöht: „Es sind Menschen geflüchtet, doch die Zahl der Menschen, die das UNHCR –die selbst bis jetzt nicht in der Grenzregion war – angibt, sind unrealistisch hoch. Es handelt sich um Angaben der türkischen AKP-Regierung. Sollte es der Fall sein, müssten wir doch in Suruç eine große Flut von Menschen haben. Und nach der Ankündigung an die Internationale Gemeinschaft, die Hilfe für Flüchtlinge aufzustocken, müsste hier Hilfe angekommen sein. Bis jetzt ist nichts in Suruç eingetroffen. Es ist widersprüchlich.“ Indessen zitiert die Türkeiabteilung des Nachrichtensenders BBC in einem ihrer Artikel den HDP-Abgeordneten Ibrahim Binici. „Damit eine Pufferzone errichtet werden kann wird behauptet, dass 70-80.000 Menschen hierhin [nach Suruc] geflüchtet seien. Dabei ist die Zahl der Flüchtlinge nicht höher als 8-10.000.“, so die Aussage des Parlamentariers Binici. Die sich gerade an der Grenze zu Kobanê in Suruç im Rahmen einer Beobachtungsdelegation befindende Heike Hänsel, Bundestagsabgeordnete der Fraktion DIE LINKE und Vorsitzende des Unterausschusses für die Vereinten Nationen, erklärte am 21. September in einer Videobotschaft: „Wir brauchen hier internationale Präsenz, auch von den Vereinten Nationen. Das ist das Mindeste, was wir diesen Menschen hier anbieten müssen, die wirklich das schlimmste erlebt haben. Sie werden von den IS-Kämpfern aus ihren autonomen Regionen vertrieben. Deshalb müssen wir sie hier unterstützen. Es ist wichtig, dass mehr Leute hierher kommen und wir den Druck erhöhen. (…) Es ist eine Schande, dass die Vereinten Nationen hier nicht präsent sind. Ich fordere auf, dass wir hier umfassend humanitäre Hilfe hinbringen.“ Waffenhilfe der Türkei an den IS geht weiter Doch so widersprüchlich es ist, die Rechnung der AKP-Regierung geht auf. Die ersten 130.000 Menschen wurden durch den stellvertretenden Ministerpräsidenten Numan Kurtulmuş (22.09.2014) angekündigt. Die Medien greifen dies auf und die Großzügigkeit der Türkei bei der Aufnahme der Flüchtlinge wird in den Vordergrund gestellt. Gehen die Angriffe des IS so barbarisch weiter, werden weitere zehntausend Menschen fliehen müssen. Denn die Unterstützung der Türkei für den IS geht weit über eine Erpressung durch gefangengenommene Diplomaten hinaus. Schon vor der Geiselname von Mosul hat die Türkei den IS nachweislich mit Waffen, Logistik und freiem Geleit unterstützt. Und nun, nachdem die Geiseln auf eine mehr als dubiose Weise „ohne Lösegeld, auf diplomatischem Weg“ freigekommen sind, fließen die Waffen an den IS weiter. Die Nachrichtenagentur Firat berichtet, dass nach Angaben von Augenzeugen türkische Soldaten dem IS am Morgen des 20. September mit fünf Militärfahrzeugen Waffen und Militärgerät geliefert haben. Die Übergabe soll zwischen den Dörfern Qeremox und Eny El-Bat im Osten von Kobanê stattgefunden haben. Dieselben Augenzeugen sprechen davon, dass sich unter den Waffenlieferungen unter anderem Mörsergranaten und schwere Geschütze befunden haben sollen. Im Übrigen ist hier anzumerken, dass der große Teil der türkischen Bewaffnung aus deutschen Waffenexporten und Geschenken im Rahmen der NATO-Partnerschaft stammen. Die Flüchtlinge sind auch in der Türkei bedroht Doch kommen wir nochmals zurück zu den Angaben, dass fast 1,5 Millionen Menschen aus Syrien in die Türkei geflohen sind. Nach Angaben der Vereinten Nationen befanden sich im Juli 2014 220.000 bis 250.000 Flüchtlinge in Flüchtlingslagern in der Türkei. So stellt sich die Frage, wo sind die anderen 1.250.000 Flüchtlinge. Was tut die Türkei oder die UN für diese Menschen, sind sie ihrem Schicksal überlassen worden? Was haben die UN für Maßnahmen zum Schutz dieser Flüchtlinge getroffen, die in den letzten Monaten vielerorts immer wieder zur Zielscheibe rassistischer Angriffe und Lynchmordkampagnen geworden sind. Erdoğan diskutiert Besetzung von Teilen Rojavas als „Pufferzone“ Der Staatspräsident Erdoğan argumentiert in einer Erklärung vom 15. September nach seiner Rückreise aus Katar, dass das türkische Militär daran arbeitet, eine Pufferzone zwischen der Türkei und Syrien zu errichten. Diese Pufferzone solle ebenfalls eine Flugverbotszone beinhalten, angeblich zum Schutz vor dem Regime und um Basen im Kampf gegen den IS aufzubauen. Dies erscheint höchst verdächtig, denn in diesem Zusammenhang hat Erdoğan die Nutzung türkischer Basen für US-Operationen gegen den IS verweigert. Nun scheint das Drama der Flüchtlinge dazu benutzt zu werden, um der Türkei die Möglichkeit einer ausgeweiteten Operation gegen die Selbstverwaltung in Rojava zu bieten. Rojava soll zwischen IS und der Türkei ausgequetscht werden Bringen wir also noch einmal die benannten Fakten zusammen, so sehen wir, das Rojava durch die Türkei und ihren Verbündeten beim IS ausgequetscht werden soll. Die Menschen aus Rojava sollen über die türkische Grenze fliehen, während der IS mit türkischen Waffen die Verteidigungskräfte von Rojava zunächst im Kanton Kobanê zu vernichten versucht. Mit der geplanten Einrichtung einer angeblichen Schutzzone könnte die Türkei von ihrer Seite ebenfalls gegen Rojava vorrücken, da sie die Verteidiger von Rojava als sog. PKK-Terroristen stigmatisiert hat. Nimmt hier die Türkei, für die Stärkung ihrer eigenen Position, einen drohenden Völkermord in Kauf? Dient ihre Selbstdarstellung als barmherzige Helferin gegenüber den Flüchtlingen dabei einzig und allein der Kaschierung der eigenen Zusammenarbeit mit dem IS in der Weltöffentlichkeit? „Gestärkter“ Erdoğan vor UN-Vollversammlung Angesichts der vorstehenden UN-Vollversammlung wird der türkische Staatspräsident Erdoğan gestärkt nach New York reisen können. Die türkische Regierung, welche strickt den Gebrauch einer negativen Rhetorik gegen den IS meidet, wird nun in den bestehenden Gesprächen mit gewissen Akteuren versuchen, u.a. auf die Flüchtlingskarte zu setzen. Dass die Türkei bestrebt ist, eine unter ihrer Kontrolle stehende Pufferzone im Norden Syriens einrichten zu wollen, bekundete sie schon seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs. Zu erklären wären somit zumindest die gravierenden unterschiedlichen Angaben hinsichtlich der Höhe der Flüchtlingszahlen zwischen den Regierungsangaben, worauf sich das UNHCR stützt, und den Angaben von lokalen Menschenrechtsvertretern. Weiter würde dies das widersprüchliche Verhalten der türkischen Sicherheitskräfte erklären. Denn während die Grenzübergänge, die ca. eineinhalb Jahre verschlossen geblieben sind, für Flüchtlinge aus Kobanê geöffnet werden, greift das türkische Militär weiter Flüchtlinge mit Tränengas an. Die von der Kommunalverwaltung errichteten Zelte für die Flüchtlinge werden von türkischen Soldaten zerstört und abgerissen. Die These vieler internationaler
Medien, wonach die aktuellen Geschehnisse von der Türkei gewollt und forciert
wurden, möchte ich im Abschluss dieses Schreibens unkommentiert lassen. |