Handlungsempfehlungen an die deutsche Politik aufgrund der akuten Situation in Kobanê/Ain al-Arab Rojava/Nordsyrien

Civaka Azad – Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V., 22.09.2014

Seit mittlerweile einer Woche greift die dschihadistische Organisation „Islamischer Staat“ (IS, auch als ISIS bekannt) erneut die Stadt Kobanê (Ain al-Arab) in Rojava (Nordsyrien) an. Die Gruppierung spricht von einem finalen Kampf auf das selbstverwaltete Gebiet in Kobanê und hat dementsprechend große Teile ihrer Kampfverbände und ihres militärischen Geräts in die Region mobilisiert. Mit schweren Waffen und Panzern hat sie die Stadt von drei Seiten umstellt und versucht in Richtung Stadtzentrum vorzudringen. Die kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG und Frauenverteidigungseinheiten YPJ haben als Vorsichtsmaßnahme dutzende Dörfer um Kobanê geräumt und die Zivilbevölkerung in Sicherheit gebracht. Mit ihren vergleichsweise schwachen militärischen Mitteln versuchen die Kräfte derzeit die Einheiten des IS aufzuhalten und zurückzudrängen.


Kobanê – der Ort, an dem die Revolution von Rojava ihren Anfang nahm


Kobanê ist für die Errungenschaften der Kurdinnen und Kurden in Syrien von besonderer Bedeutung. Denn dort nahm die Revolution von Rojava ihren Anlauf. In der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2012 nahmen die Kräfte der YPG gemeinsam mit den Einwohnern der Stadt die staatlichen Einrichtungen ein und verdrängten die Kräfte des Assad-Regimes in einem unblutigen Akt aus der Stadt. Angespornt von der Befreiung Kobanês kam es in den Folgetagen zu ähnlichen Befreiungsaktionen in weiteren Regionen Rojavas, sodass binnen kurzer Zeit große Teile der kurdisch besiedelten Gebiete Syriens vom Baath-Regime befreit waren. In der Folgezeit baute die Bevölkerung in der Region ihre eigenen Selbstverwaltungsstrukturen auf und begann das öffentliche Leben auf demokratisch Weise selbst zu regeln. Obwohl sowohl Kräfte des Regimes, aber immer wieder auch Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA) und der Al-Nusra-Front, Angriffe auf Rojava unternahmen, blieb die Region im Vergleich zum übrigen Syrien, das im Bürgerkrieg versank, relativ stabil. Aus diesem Grund suchten auch viele Menschen aus den übrigen Teilen des Landes, die aufgrund des anhaltenden Krieges ihre Heimat verlassen mussten, Zuflucht in Rojava. Allein in Kobanê wuchs dadurch die Einwohnerzahl binnen kurzer Zeit von etwa 300.000 auf rund 500.000. Trotz eines anhaltenden wirtschaftlichen Embargos gegen die Region – so hielt beispielsweise die Türkei seit Beginn der Revolution praktisch durchgehend ihre Grenzen selbst für humanitäre Unterstützung verschlossen – versuchten die Einwohner mit ihren begrenzten Möglichkeiten ihr Überleben zu sichern.


Heute ist Kobanê einer der drei Kantone in Rojava, in denen im November 2013 die Autonomie mit einer demokratischen Verfassung unter Beteiligung aller religiösen und ethnischen Gruppen ausgerufen wurde. Mit dem Erstarken des sogenannten Islamischen Staates in Syrien und im Irak entwickelte sich allerdings eine neue Gefahr für die gesamte Region. Rojava ist seither Zielscheibe dieser Organisation. Der aktuelle Vorstoß des IS in Richtung Kobanê ist bereits die dritte große Angriffswelle der Islamisten auf die Stadt in den letzten Monaten.


Warum ist Kobanê Ziel der Angriffe?


Kobanê liegt geographisch betrachtet in der Mitte der drei Kantone, die gemeinsam das Gebiet Rojava ausmachen. Im Westen liegt der Kanton Afrin und im Osten der flächenmäßig größte Kanton Cizîrê. Der Norden von Kobanê ist türkisches Grenzgebiet. Mit der Stadt Pîrsûs (trk. Suruç) ist der nördliche Nachbarort Kobanês durch den Grenzübergang Mürşitpınar verbunden. Gelingt es dem IS die Stadt einzunehmen, würde sie somit einen weiteren Grenzübergang zur Türkei kontrollieren. Bereits jetzt sind drei Grenzübergänge zwischen Syrien und der Türkei unter der Kontrolle der Islamisten.
Doch Kobanê könnte lediglich als Türöffner für das nächste Ziel des IS dienen. Kurdische Verantwortliche aus der Region gehen nämlich davon aus, dass die Gefolgsleute von al-Baghdadi es eigentlich auf den Kanton Cizîrê abgesehen haben. Cizîrê ist nämlich nicht nur, wie oben genannt, der größte der drei Kantone Rojavas, er ist auch wirtschaftlich betrachtet und, durch seine Grenzen zu Südkurdistan/Nordirak und zur Türkei, geostrategisch der lukrativste Kanton für den IS. Bereits beim Vormarsch des IS auf Şengal (Sindschar) versuchten die Islamisten deshalb auch gleich in Richtung des Grenzübergang Rabia zu Rojava/Nordsyrien vorzustoßen. Gleich dahinter liegt Til Koçer (al-Yarubiyah) und somit der Kanton Cizîrê. Die Einnahme des Grenzübergangs durch den IS konnte nur durch einen Vorstoß der YPG unterbunden werden. Andernfalls hätte der Islamische Staat den Kanton vom Osten her abschotten und von dort aus einen großangelegten Angriff vorbereiten können. Was dem IS vom Osten her nicht geglückt ist, soll nun durch eine Einnahme Kobanês vom Westen her vollzogen werden. Fällt Kobanê in die Hand der Islamisten, wäre Cizîrê im Westen komplett von dem IS abgeschottet. Zudem wäre auch der westlichste Kanton Afrin komplett isoliert.
Welche Rolle spielt die Türkei?
Während südlich der Staatsgrenze Türkei/Syrien derzeit wohl die bis dato heftigsten Gefechte zwischen der YPG und dem IS anhalten, greift die türkische Armee nördlich der Grenze mit äußerster Brutalität tausende Menschen an, die sich aus Solidarität mit dem Widerstand von Kobanê nach Pîrsûs begeben haben. Die Türkei spielt derzeit ein widersprüchliches Spiel. Sie gibt den westlichen Staaten einerseits zögerliche Signale, dass sie bereit sei, an einer Anti-IS-Koalition teilzunehmen, auch wenn sie sich bislang mit Verweis auf ihre mittlerweile freigelassenen 49 Konsulatsmitarbeiter äußerst zurückhaltend verhielt. Andererseits unterstützt sie allerdings weiterhin unter verdeckter Hand den IS in ihrem Kampf gegen Rojava. Die Meldungen von logistischer Unterstützung bis hin zu Waffenlieferungen, offenen türkischen Grenzen für Islamisten, die sich dem IS anschließen wollen, medizinischer Versorgung für verletzte IS-Mitglieder bis hin zu vermeintlichen Ausbildungslagern des IS in der Türkei, sind zwar nicht neu, aber leider auch nicht Teil der Vergangenheit. Allein in den letzten Tagen gelangten mehrfach nachweisliche Meldungen an die Öffentlichkeit, die von Waffennachschub aus der Türkei für die Offensive des IS auf Kobanê berichteten.
Für Vertreter der kurdischen Bewegung ist die Sache eindeutig: Die Türkei führt über den IS einen Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden in Rojava. Von Anfang an hat die türkische Politik einen feindlichen Kurs gegen die Revolution in Rojava gefahren. Hat die AKP-Regierung zu Beginn sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass der damalige Syrische Nationalrat im Falle einer Machtübernahme die Verleugnungspolitik Assads gegen die Kurden in Syrien fortsetzt, und damit einen nicht unmaßgeblichen Anteil an der Spaltung der syrischen Opposition gehabt, so befeuerten die Herrschaften in Ankara zugleich auch stets bewaffnete Angriffsversuche auf Rojava seitens syrischen Oppositionellen, egal ob es sich dabei um die FSA oder die Al-Nusra-Front handelte. Dieser Politik ist die AKP auch im Falle des IS treu geblieben. Zuletzt sprachen türkische Regierungsmitglieder nach der Freilassung ihrer Konsulatsmitarbeiter ganz offen und unverfroren davon, dass man selbstverständlich mit dem IS politische Verhandlungen geführt habe. Anhänger des IS rühmen sich bereits damit, dass diese Haltung der AKP-Regierung einer Anerkennung des „Kalifats“ durch die Türkei gleichkomme. Welches Gewicht die Unterstützung der Türkei für den aktuellen IS-Vormarsch auf Kobanê bei den Verhandlungen zwischen beiden Parteien zukam, bleibt offen.
Mögliche Handlungsempfehlungen vor diesem Hintergrund
Im Interview mit der FAZ vom 21.09. warnt Salih Muslim, Kovorsitzender der Partei der Demokratischen Einheit (PYD), mit deutlichen Worten vor der Gefahr eines Massakers, wie Anfang August in Şengal, jetzt in Kobanê, wenn nicht sofort gehandelt wird. Er erklärt auch, dass dringend schwere Waffen benötigt werden, um die amerikanischen Panzer, die der IS aus den Händen der irakischen Armee erbeutet hatte und die sie jetzt bei ihrem Angriff auf Kobanê einsetzen, zu stoppen. „Und darüber hinaus brauchen wir natürlich auch humanitäre Hilfe“, macht Muslim deutlich.
Neben den Forderungen des PYD-Kovorsitzenden möchten wir Ihnen die folgenden Handlungsempfehlungen nahelegen, um einen Beitrag für die Lösung der derzeitigen Krisensituation in Kobanê zu leisten:
1. Vollständige Öffnung des Grenzübergangs Mürşitpınar für grenzüberschreitende Nothilfe
Dieser Schritt ist dringend notwendig, denn ansonsten wird die Belagerung Kobanês unweigerlich mit einer humanitären Katastrophe für die Zivilbevölkerung einhergehen. Dieselbe Forderung stellt vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Situation in der Region auch die Hilfsorganisation medico international. In ihrer Erklärung heißt es unter anderem: „Die Grenzregion um Kobanê, auf türkisch-kurdischer Seite in Suruç wie auch im belagerten Kobanê braucht jetzt wirklich alles: Medikamente, aber auch Lebensmittel. […]Die Türkei muss ihre Grenze für die humanitäre Hilfe endlich öffnen. Sie muss es ermöglichen, dass die bedrängte kurdische Bevölkerung nicht nur fliehen kann, sondern dass sie auch die Möglichkeiten hat, ihre eigene Stadt in Syrien zu schützen.“ Wir teilen die hier geäußerte Ansicht von medico international und bitten die Bundesregierung, für die Umsetzung dieser Forderung dringend Druck auf die türkische Regierung aufzubauen.
2. Unterbindung der Grenzübertritte für IS-Mitglieder und Dschihadisten, die sich dem IS anschließen wollen
Erst kürzlich konnten Mitglieder der YPG drei aus Europa stammenden Dschihadisten fassen, die sich dem IS über die Türkei anschließen wollten. Zwei von ihnen verfügten über die belgische und einer über die französische Staatsangehörigkeit. Die Türkei ist eines der wichtigsten Transitländer für neuankommende Mitglieder des IS. Und Bilder, die in den vergangenen Tagen über die sozialen Medien gingen, verdeutlichen, dass sich IS-Mitglieder offen in den Metropolen der Türkei bewegen können. Auch an dieser Stelle sollte die Bundesregierung die Türkei stärker dazu mahnen, Dschihadisten, die sich aus Europa in Richtung Syrien oder Irak auf den Weg machen, um sich dem IS anzuschließen, zu stoppen.
3. Unterstützung aller kurdischen Gruppen, die sich im Kampf mit dem IS befinden
Bislang macht die Bundesregierung eine scharfe Trennung bei ihrer Unterstützung von kurdischen Kräften, die sich im Kampf gegen den IS befinden. Einziger „unterstützungswerter“ Partner der Bundesregierung scheinen in dieser Hinsicht die Peshmergekräfte in der Autonomen Region Kurdistan zu sein. Tatsache ist allerdings, dass in Rojava, aber auch in Südkurdistan, die Volksverteidigungseinheiten (YPG) bislang den effektivsten Widerstand gegen den IS geleistet haben. Wir denken deshalb, dass diese Trennung, welche die Bundesregierung an dieser Stelle vornimmt, nicht zielführend im Kampf gegen den IS ist und deshalb hier umgedacht werden muss. Dieser Punkt betrifft nicht allein die Frage der Waffenunterstützung, denn auch die humanitäre Hilfe kommt in Rojava nur in einem unverhältnismäßig geringen Maße an.

4. Anerkennung der Demokratisch-Autonomen Verwaltungen von Rojava
Der aktuelle Kampf zwischen dem IS und der YPG ist nicht allein ein bewaffneter Kampf. Hier prallen nämlich auch gänzlich entgegengesetzte Weltbilder und Vorstellungen eines Nahen und Mittleren Ostens aufeinander. Entgegen einer faschistoiden, menschenverachtenden und frauenfeindlichen Ideologie des sogenannten Islamischen Staates steht die, durch die Revolution von Rojava repräsentierte, Perspektive einer demokratischen, pluralistischen und geschlechterbefreiten Gesellschaft. Eine internationale Anerkennung der Demokratisch-Autonomen-Verwaltungen von Rojava würde den Völkern der Region neue Kraft im Kampf gegen den IS geben.
Wir möchten deshalb der bundesdeutschen Politik die Empfehlung nahelegen, sich auf direktem Wege mit der Verwaltung von Kobanê, aber auch mit den Verwaltungen von Cizîrê und Afrin, in Verbindung zu einem Dialog zu setzen und diese anzuerkennen.
Vor dem Hintergrund, dass allerdings derzeit auch eine grenzübergreifende humanitäre Katastrophe droht, die sich bis in die kurdischen Siedlungsgebiete in der Türkei ausdehnen könnte, sollte auch der Dialog zu kurdischen Akteuren in der Türkei wie bspw. dem Demokratischen Gesellschaftskongress (DTK) oder der Demokratischen Partei der Regionen (DBP) gesucht werden.

5. Ausweitung der humanitären Hilfe
Wir bitten die Bundesregierung nachdrücklich, die Kanäle der humanitären Hilfe für Rojava auszuweiten. Hierzu sollte sowohl der Weg über die Gremien der Vereinten Nationen als auch über die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Hilfsorganisationen, die sich in der Region engagieren möchten, gegangen werden.

6. Entsendung einer überparteilichen Parlamentarierdelegation
Zuletzt möchten wir Ihnen die Entsendung einer überparteilichen Parlamentarierdelegation, die sich vor Ort über die Situation und die Bedürfnisse der notleidenden Menschen in der Region ein Bild machen könnte, nahelegen. Sollte die Umsetzung dieser Empfehlung in Betracht gezogen werden, stehen wir Ihnen für die Beantwortung aller Fragen zur Umsetzung dessen selbstverständlich jederzeit zur Verfügung.