Wie Erdoğan den Friedensprozess als Mittel zum Zweck ausnutzen willSongül Karabulut, 06.05.2015 Die Türkei steht vor einer strategisch wichtigen Parlamentswahl. Am 7. Juni 2015 sind 58 Mio. Bürgerinnen und Bürger der Türkei dazu aufgefordert, das neue Parlament und die Regierung zu wählen. Eine Neuerung besteht darin, dass die Demokratische Partei der Völker (HDP) trotz der 10%-Wahlhürde nicht wie bislang mit unabhängigen Kandidaten antritt, um so die Hürde zu umgehen, sondern sich als Partei bei den Wahlen der Wahlhürde stellt. Seit dem Tag der Bekanntgabe dieser Entscheidung bestimmt sie mehr oder weniger die politische Tagesordnung. Zuerst wurde mit unterschiedlichen Argumenten versucht, die HDP von ihrem Entschluss abzubringen. Es hieß, sie würde es nicht schaffen, 10 % der Stimmen auf sich zu vereinen, und liefe somit Gefahr, in der neuen Legislaturperiode nicht im Parlament vertreten zu sein. Daher solle sie doch wie gewohnt mit unabhängigen Kandidaten antreten und nichts riskieren. Denn jedem ist inzwischen klar, dass die 10%-Hürde nur dazu dient, das Zustandekommen einer unliebsamen kurdischen Opposition im Parlament zu verhindern – wenn das nicht klappt, dann eben die Anzahl ihrer Abgeordneten zu minimieren, so wie es bislang der Fall war. Aber seitdem klar ist, dass sich die HDP nicht von ihrer Entscheidung abbringen lässt, wird jetzt mit allen Mitteln versucht, sie unter die 10%-Hürde zu drücken. Dafür nimmt die AKP sogar eine Zusammensetzung des Parlaments ohne kurdische Beteiligung und die Opferung des „Friedensprozesses“ in Kauf. HDP – Ein Spiegel der gesellschaftlichen Vielfalt Die HDP ist ein Zusammenschluss unterschiedlicher linker, demokratischer Kreise, die eine Alternative zu den bestehenden etablierten Parteien darstellt. Sie zeichnet sich insbesondere durch die Vielfalt ihrer KandidatInnen aus. Denn in den Reihen der HDP kandidieren nicht nur zu 50 % Frauen, sondern auch Vertreter der armenischen, êzîdischen, assyrischen, kurdischen, alevitischen Volks- bzw. Religionsgemeinschaften, sowie Aktivisten der Arbeiter-, der Umwelt- und der LGBT-Bewegung. Die HDP ist quasi ein Spiegel der gesellschaftlichen Vielfalt der Türkei. Zum ersten Mal in der Geschichte ist ein solches Bündnis im Entstehen begriffen, das unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte trotz der Teile-und-Herrsche-Politik des Staates zusammenbringt. Hauptnenner dieses Bündnisses sind mehr Demokratie, Gleichberechtigung, Freiheit und Frieden. Nicht nur aus Sicht der Stimmenlosen ist dieses Wahlbündnis ein historisches, sondern auch deshalb, weil es sich auf die politischen Kräfteverhältnisse in der Türkei nachhaltig auswirken und die AKP von ihrer dreizehnjährigen alleinigen Regierungsmacht abbringen kann. In den letzten dreizehn Jahren hat die AKP zunehmend ein autoritäres Regime entwickelt. Dieser Prozess wurde schleichend, aber stetig fortgeführt und soll nun mit dem angestrebten Präsidialsystem alla turca seinen Höhepunkt erreichen. Nur das Überwinden der 10%-Hürde durch die HDP wird die AKP daran hindern können. Erdoğan ist sehr verschwenderisch mit der bisherigen gesellschaftlichen Zustimmung umgegangen. Er glaubt, ihm werde alles verziehen, seine Korruption, seine rassistische Politik, sein arroganter und autoritärer Herrschaftsstil. Die Anzahl derjenigen, die in ihm und der AKP eine zunehmende Gefahr für das Land sehen, steigt mit jedem Tag. AKP – Für den Machterhalt bereit über Leichen zu gehen Erdoğans dreizehnjährige Regierungszeit hat eines bewiesen, nämlich dass er über Leichen gehen kann, wenn er dadurch seine Macht sichern kann. Die dreizehn Jahre Regierungszeit sind durchgehend gekennzeichnet von Machtkämpfen. Zuerst mit der Armee und den Kemalisten, danach mit der Gülen-Bewegung, dann mit allen oppositionellen Kräften, die seinen Führungsstil nicht gutheißen. Jetzt ist er an dem Punkt angelangt, diesen Machtkampf auch innerparteilich zu führen. Das ist der Grund für immer häufigere Unstimmigkeiten zwischen Erdoğan und seinen Parteifreunden. Interessant ist vor diesem Hintergrund, dass auch seine Bündnisse ständig wechseln. Während er mit Gülen gegen Armee und Kemalisten vorgegangen war, sucht er jetzt den Schulterschuss mit der „reformierten“ Armee gegen andere Konkurrenten wie z. B. Gülen. Die Kurden sind die Kraft, die während Erdoğans Regierungszeit ununterbrochen gegen ihn gekämpft hat. Auch bei den aktuellen Wahlen ist sein Hauptgegner die HDP. Erdoğan versucht mit allen Mitteln, die HDP zu verunglimpfen. Er bedroht sie, er beleidigt und beschimpft sie. Er vergisst schnell, dass er eigentlich ein gegenüber den Wahlen „unabhängiger“ Staatspräsident ist, und agiert als Parteivorsitzender der AKP. Die Vorteile seiner Amtsposition setzt er für die AKP-Wahlkampagne ein. Krieg mit der PKK provozieren, um die HDP zu schwächen Seine Wahltaktik scheint darin zu bestehen, erneut militärische Auseinandersetzungen mit der PKK zu provozieren, die Gesellschaft zu polarisieren und anschließend die HDP mit einer Kriegsrhetorik in die Ecke zu drängen. Die HDP wolle das Land teilen, sei separatistisch, nähere sich dem Friedensprozess taktisch an, sei terroristisch etc. Auf diese Weise soll das frisch entstandene Bündnis der demokratischen Kräfte verunsichert und zerbrochen werden. Ein Versuch wurde bereits unternommen. Erdoğan benutzte einen militärischen Angriff vom 11. April in Ağrı (kurd.: Agirî) auf die sich seit über zwei Jahren im Waffenstillstand befindlichen Guerillakräfte der HPG, um gegen die HDP Stimmung zu machen. Aber nur kurze Zeit später wurden Telefongespräche zwischen dem Innenminister und dem Gouverneur öffentlich, denen klar zu entnehmen ist, dass es sich bei dem gesamten Ereignis um eine geplante Provokation der Regierung gehandelt hatte. Darin wird regelrecht geplant, wie viele Soldaten am Angriff beteiligt sein sollten, wie viele von ihnen geopfert werden, aus welchen Städten ihre Familien stammen sollen usw., um mit dem gewünschten Effekt gegen die HDP nach diesem Ereignis hetzen zu können. Daher verwundert es nicht, dass der „Friedensprozess“ nach Newroz 2015 eine Hundertachtzig-Grad-Wende vollzogen hat. Am 28. Februar wurde in Istanbul im Dolmabahçe-Palast eine gemeinsame Pressekonferenz durchgeführt, an der die seit Januar 2013 auf der Gefängnisinsel Imralı im Gesprächsprozess mit Abdullah Öcalan involvierte HDP-Delegation, der türkischen Innenminister, der türkische Vizeministerpräsident sowie der ebenfalls auf Imralı im Gespräch mit Herrn Öcalan stehende Staatsbedienstete teilnahmen. Dabei wurde eine Botschaft Öcalans verlesen, ein Text, über dessen Inhalt in den Gesprächen auf Imralı Übereinkunft erzielt worden war und der als Ergebnis der Gespräche zu verstehen ist, die geführt werden, um den Gesprächsprozess in Verhandlungen münden zu lassen. Im Statement des kurdischen Volksvertreters Abdullah Öcalan heißt es: „Auf dem Weg von 30-Jahren militärischer Auseinandersetzungen zu einem dauerhaften Frieden, handelt es sich bei der demokratischen Lösung um unser Hauptziel. Bei der Übereinkunft der Grundprinzipien, rufe ich die PKK zu einem außerordentlichen Kongress im Frühjahr auf, um auf Grundlage für ein Ende des bewaffneten Kampfes eine strategische und historische Entscheidung zu treffen. Bei diesem Aufruf handelt es sich um eine Absichtserklärung, damit die demokratische Politik den Platz des bewaffneten Kampfes einnimmt.“ Die Grundprinzipien für die Demokratisierung der Türkei wurden in einem Zehn-Punkte-Plan aufgelistet. Während diese Erklärung auf großes Entgegenkommen stieß, versuchte sie die AKP-Regierung das Statement aus Imrali durch bewusste Manipulation als „Appell zur totalen Entwaffnung“ darzustellen. In seiner Newroz-Botschaft vom 21. März stellt Öcalan allerdings nochmal klar, dass grundsätzlich den Gedanken der Niederlegung der Waffen durch die PKK befürwortet, hierfür aber es zu einer Übereinkunft über die Grundprinzipien für den Verhandlungsprozess kommen muss. Und tatsächlich bestand Grund zur Annahme, dass wichtige Schritte auf dem Weg zu dieser Übereinkunft bereits begangen worden sind. Denn es kursierte die Information, dass beide Seiten sich über die Gründung einer unabhängigen Beobachtergruppe, die den Verhandlungsprozess begleiten soll, geeinigt hätten. Selbst die Namen der Mitglieder der Beobachtergruppe seien schon geklärt. All diese Entwicklungen ließen die Hoffnungen aufkeimen, die bisherigen Gespräche würden endlich in Verhandlungsgespräche münden mit dem Ziel, ernsthaft eine friedliche Lösung zu erarbeiten. “Es gibt keine kurdische Frage!” Aber dem war nicht so. Wie so oft wurde auch diesmal interveniert, als es Ernst wurde. Denn auf einmal trat der türkische Staatspräsident Erdoğan vor die Kameras und erklärte, dass er die bereits durchgeführte gemeinsame Pressekonferenz im Dolmabahçe-Palast nicht richtig fand, folglich auch von dem vorgelegten Zehn-Punkte-Plan nichts halte, sowie gegen die Einberufung einer Beobachtergruppe sei. Erdoğan machte deutlich, dass er für ihn die PKK entweder kapitulieren und einseitig die Waffen niederlegen muss. Oder der Kampf gegen sie muss wieder von Neuem beginnen. Bis zu Newroz hatte er darauf gesetzt, die PKK würde ohne Vorbedingungen die Waffen niederlegen. Aus diesem Grund hielt auch der Gesprächsprozess so lange an. Als klar wurde, dass sich seine Wunschvorstellung nicht bewahrheiten würde und nun der Druck auf die AKP wuchs, weil sie an der Reihe war zu beweisen, ob sie wirklich an einer Lösung interessiert ist, unterbrach er den Prozess, um militärische Auseinandersetzungen zu provozieren und sie zur Wahlkampfmunition zu machen. Das ist der Grund dafür, warum Erdoğan den bereits eingerichteten Verhandlungstisch in letzter Sekunde umgeworfen hat. Die HDP-Delegation hat jüngst bekannt gegeben, ihr werde seit dem 5. April die Fahrt nach Imralı verwehrt. Im Juli 2011 war es ähnlich. Auch damals wurden die Gespräche auch abrupt einseitig beendet und für anderthalb Jahre wurde eine totale Isolation über Öcalan verhängt. Anderthalb Jahre gab es keinerlei Kontakt zu ihm und der Konflikt eskalierte von Neuem. Erdoğan hat erneut bewiesen, dass er dem „Friedensprozess“ keine strategische Rolle beimisst, sondern sich ihm eher taktisch annähert und aus ihm Profit zu schlagen versucht. Nicht nur, dass Erdoğan den „Friedensprozess“ öffentlich ablehnt, er hat auch öffentlich erklärt, es gäbe gar keine kurdische Frage, von der kurdischen Frage zu sprechen, sei Verrat. Damit greift der türkische Staatspräsident auf Argumente zurück, die in den 90er Jahren, die Jahre des schmutzigen Kriegs in Kurdistan, von den Regierungen der Türkei vertreten worden sind. Auch im aktuellen Wahlprogramm der AKP findet der Friedensprozess keine Erwähnung mehr.. Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu erklärte auf Nachfrage von Journalisten, der Abschnitt über den Friedensprozess sei während des Drucks herausgefallen, doch die Äußerungen Erdoğans beweisen, dass er selbst dafür gesorgt hat. Erdoğan scheint aufgrund der real drohenden Gefahr, seine Macht zu verlieren, jegliche Rationalität beiseitegeschoben zu haben. Seine Politik ist äußerst gefährlich. Die Befürchtung vieler Kreise, er treibe das Land in Richtung einer Diktatur, ist nicht unbegründet. Eines ist klar, die AKP befindet sich im Niedergang und Erdoğan handelt so verantwortungslos, dass das Land, wenn er geht, ebenfalls ins Chaos gestürzt wird. Stellen wir uns nur folgendes Szenario vor: Die HDP schafft die 10%-Hürde nicht, die Kurden und mit ihnen die oppositionellen Kräfte sind nicht im Parlament vertreten. Welche Legitimität hätte dieses Parlament? Und dann ist anzunehmen, dass Erdoğan nach der Wahl brutal gegen das kurdische Volk vorgehen würde. Ohne Frage wäre dann die Hoffnung auf eine friedliche Beilegung der Probleme, allen voran der kurdischen Frage, auf unbestimmte Zeit erloschen. Die bevorstehende Wahl ist daher wichtig, weil sie einen wesentlichen Baustein zur Zukunft der Türkei liefern wird. Wird die Türkei sich noch weiter zur Despotie bewegen oder werden Demokratie und Frieden gestärkt daraus hervorgehen? Wir sollten aufmerksam sein gegenüber Provokationen und Wahlbetrug. |