Licht am
Horizont
Annäherungen an die PKK |
V. Rolle der Führung
in geschichtlichen und revolutionären Prozessen
V.6.1. Entstehung und Entwicklung der PKK V.6.2. Abdullah Öcalan als `Institution´ V.6.3. Fähigkeiten und Charaktereigenschaften |
V.6.2. Abdullah Öcalan als 'Institution'.
Der Begriff 'Institution' mag auf liberale Europäer abschreckend wirken, er umschreibt jedoch eine Gesamtheit von politisch-organisatorischen Funktionen und gesellschaftlichen Erwartungen an einen Menschen, die in einer jahrelangen Aktivität ausgeprägt und in den Gewohnheiten der Bewegung und des Volkes verankert sind.
Abdullah Öcalan ist im Laufe der Entwicklung der PKK, eigentlich seit den ersten Vorüberlegungen zu ihrer Gründung an, die eindeutigste Verkörperung der Partei. Dies wird auch von der kurdischen Bevölkerung realisiert. Im Nordwesten Kurdistans ist der Bezug der Menschen zur PKK am klarsten: es war und ist die Partei und ihr bewaffneter Kampf, die das Bewußtwerden einer nationalen Identität nach Jahrhunderten der Unterdrückung erst möglich machten. Eine entsprechende Rolle nimmt der Parteivorsitzende in diesen Vorstellungen ein.
Abdullah Öcalans Rolle als Institution im Befreiungskampf geht also über den in der Parteisatzung formulierten Begriff 'Parteiführung' im formellen Sinn hinaus. Die Leitung des revolutionären Prozesses über die von der Partei definierten Aufgaben ist nur ein Bruchteil der Leistung von Abdullah Öcalan für diesen Prozeß. Zum einem ist der Parteivorsitzende die Zentrale des Krieges, des Kampfes, der mit militärischen, politischen und diplomatischen Mitteln von der PKK geführt wird. Der Kontakt zu diesen einzelnen Frontabschnitten findet täglich statt, begrenzt sich aber nicht auf die Kontrolle der Befehlserfüllung und die Erteilung neuer Anweisungen: die Vorgaben des demokratischen Zentralismus werden erfüllt, sind aber 'nur' das Gerüst eines viel komplizierteren gesellschaftlichen Prozesses, dessen Motor und Kern Abdullah Öcalan ist. Es wäre grob vereinfacht, dies nur auf den Aspekt 'Macht über Menschen' reduzieren zu wollen. In den seit über 20 Jahren geführten Auseinandersetzungen, Gesprächen und Analysen hat der PKK-Parteivorsitzende die Werte, Prinzipien und die Ideologie der PKK sowie ihre konkrete Erscheinungsform bestimmt. Das bedeutet gleichzeitig, daß er diese Maßstäbe auch verkörpert und lebt, daß er sich und seine Tätigkeit auch selbst danach orientiert. Im Resultat wurde er schon früh ihre umstrittene Führungsperson. Das Besondere in der Ausprägung des Führungsprinzips in diesem Fall Iiegt unter anderem darin, daß Abdullah Ocalan den revolutionären Prozeß seiner Partei und seines Volkes nicht nur leitet, sondern ihn zugleich kritisch-reflektierend begleitet. Dies geschieht zu einem wesentlichen Teil in den an der Zentralen Parteischule und teilweise auch in anderen Zusammenhängen oder Bildungseinrichtungen gegebenen öffentlichen Analysen (Cözumleme - siehe unter Prinzipien).
Diese mehrstündigen Vorträge werden per Video aufgezeichnet und in dieser Form, ebenso wie auch gedruckt, vervielfältigt und parteiintern und darüberhinaus in Umlauf gebracht. Damit ist zugleich die wichtigste Erscheinungsform der Ideologiebildung in der PKK benannt. Die Analysen geben den Mitgliedern der Partei Anstöße dafür, welche Aspekte ihrer Wirklichkeit der weiteren Untersuchung und Veränderung bedürfen, sie sind der Spiegel des Entwicklungsstandes der Bewegung und der einzelnen Menschen darin, sie bringen den Spielraum und die Probleme des Prozesses zum Ausdruck. Sie sind auch eine wesentliche Form der Kommunikation zwischen einer Vielzahl Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Anschauungen.
Eine weitere wichtige Komponente des Begriffs Institution in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß Abdullah Öcalan derjenige ist, der die sozialistische Revolution in Kurdistan garantiert, zugleich auch wesentliche Identifikationsfigur des nationalen Befreiungskampfes ist. Der Bezug der kurdischen Bevölkerung spiegelt zum einem das starke Bedürfnis nach einer nationalen Führungspersönlichkeit wieder. Die weiter unten dargestellten Fähigkeiten Abdullah Öcalans und seine Rolle im mittelöstlichen gesellschaftlichen Kontext zeigen jedoch, daß dieser Bezug keine einseitige, populistische Volk-Führer-Verknüpfung ist, sondern ein vielschichtiger, lebendiger Prozeß des gegenseitigen Respektes und Voneinanderlernens. Abdullah Öcalan ist darin der gesellschaftliche Ort, der zentrale Konzentrationspunkt, an dem sich die Entwicklungspunkte vernetzen, an dem Veränderungen zuerst seismographisch spürbar werden, an dem notwendige Anstöße gegeben und Offensiven vorbereitet werden.
Eine der am häufigsten in diesem Zusammenhang gestellten Fragen ist die nach der Kontinuität der Führung in dem beschriebenen gesellschaftlichen Prozeß. Wäre sie ohne die Person Abdullah Öcalans gesichert? Die Antwort hat zwei wesentliche Aspekte: zum einen sucht Abdullah Öcalan ständig nach Menschen, mit denen er den Kampf auf hohem Niveau weiterentwickeln kann, die ihm also einen Teil seiner Verantwortung abnehmen oder sich seine Methoden schöpferisch aneignen. Die Lösung dieser Aufgabe ist jedoch schwieriger als anzunehmen wäre. Oft beklagt Abdullah Öcalan, daß er von seinen Kadern „mit dem Feind allein gelassen werde„, daß also noch niemand eine vergleichbare Konsequenz im Leben und Kampf aufgebracht hat. Jedoch muß dazu zweierlei bemerkt werden: die Anwärterinnen für eine solche Aufgabe müssen eine harte Schule durchlaufen, denn um so politisch erfahrener ein PKK-Kader ist, umso unerbittlicher ist er und jeder seiner Schritte der öffentlichen Kritik in der Partei unterworfen. Zum anderen scheint es fast eine Gesetzmäßigkeit zu sein, daß die Genossinnen und Genossen, die am meisten Verantwortung übernehmen und Abdullah Öcalan am nächsten kommen, diejenigen, die ihn am besten und am längsten kennen, ihn am meisten respektieren, gleichzeitig am meisten davor zurückschrecken, ähnliche Verantwortung zu übernehmen. Das hat ohne Zweifel mit der Anerkennung der Leistungen Abdullah Öcalans zu tun. Es vergrößert aber auch den Abstand zwischen ihm und seinen Genossinnen, es bedeutet letztendlich deren Ausweichen vor den letzten Konsequenzen der Verantwortung.
Die Kontinuität der Führung der PKK ist jedoch, einmal abgesehen
von der Schwierigkeit, 'Nachfolgerinnen' zu finden, am ehesten noch dadurch
gesichert, daß jede und jeder einzelne seine Persönlichkeit
im revolutionären Prozeß soweit ändert, daß er oder
sie die Verantwortung übernehmen kann und will. Die Forderung danach
wird von Abdullah Öcalan ständig gestellt: Die Funktion von Führung
muß auf jeder Ebene, in jedem Bereich des Kampfes gefüllt werden;
geschieht dies, ist eine der Voraussetzungen für die künftige
'Selbstauflösung' von Führung erfüllt. In der jetzigen Kriegs-
und Kampfsituation wäre zwar jedes Stück mehr zugenommene Eigenverantwortung
ein Schritt näher zum Sieg. Aber gerade diese Situation erfordert
gleichzeitig, daß die Stränge des Handelns der Partei an einem
Punkt zusammenlaufen, um eine möglichst konzentrierte Schlagkraft
zu entwickeln.