Situation
vor den Wahlen
Delegation aus Hamburg
und Berlin 11.06.2011 14:28
Situation in der
Türkei und den kurdischen Provinzen vor den Parlamentswahlen
Aufgrund der am 12. Juni stattfindenden Parlamentswahlen in der Türkei
befinden sich etliche Delegationen zur Beobachtung aus vielen verschiedenen
Ländern im Moment in den kurdischen Provinzen auf türkischem Staatsgebiet.
Die Situation in den kurdischen Provinzen spitzt sich insbesondere vor
den Wahlen zu. Die Regierungspartei AKP setzt auf einen extrem nationalistischen
und militaristischen Diskurs um bei den Wahlen eine 2/3 Mehrheit zu erlangen
um selbst, ohne die Bevölkerung befragen zu müssen die Verfassung nach
ihrem eigenen Willen zu verändern. Sie versucht daher die Stimmen nationalistischer
Kräfte aus den Kreisen der faschistischen MHP und der kemalistisch/nationalistisch
orientierten CHP zu gewinnen, die ihrerseits einen Kurswechsel zur kurdischen
Frage zu vollziehen scheint. Von einer Politik über eine vermeintliche
Lösung der kurdischen Frage zu sprechen um Stimmen in den kurdischen Provinzen
zu gewinnen, hat die AKP Abstand genommen, Es scheint fast als hätte sie
diese Region politisch aufgrund der Stärke der kurdischen Bewegung u.a.
in Form der linken Friedens und Demokratiepartei BDP aufgegeben.
Aus diesem Grund scheint
sie auf gewaltförmige vermeintliche Lösungsansätze zu setzen indem die
kurdische Freiheitsbewegung auf allen Ebenen mit Vernichtungswillen bekämpft
wird. Dies schlägt sich in über 2506 in den letzten zwei Monaten festgenommenen
kurdischen AktivistInnen, PolitikerInnen und MandatsträgerInnen nieder
aber auch in schmutzigen Kriegspraktiken wie dem mehrfachen Einsatz chemischer
Waffen und der extralegalen Hinrichtung von durch diese Waffen bewegungsunfähig
gemachten GuerillakämpferInnen. Schon allein das Fortdauern der Militäroperationen
stellt im Rahmen des einseitigen Waffenstillstands eine bewusste Eskalationspolitik
dar, das massakrieren von wehrlosen Guerillas und verstümmeln ihrer Leichname
gibt dem ganzen jedoch eine ganz andere Qualität. Letzten Monat fand ebenfalls
der offene Schulterschluss der AKP mit dem Nationalen Sicherheitsrat samt
einem Rückfall in die Vernichtungsrhetorik der 90er Jahre statt. Vorher
wurde der Widerspruch AKP- Militär zur Legitimation mangelnder Konzepte
bezüglich der kurdischen Frage benutzt. Jegliches menschenrechtliches
Engagement soll als Unterstützung des Terrorismus deutbar sein. Der kurdischen
Bevölkerung und der PKK wird das Recht auf legitime Selbstverteidigung
abgesprochen.
Während die kurdische Bewegung u.a. Gespräche fordert, die den inhaftierten
Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan einschließen und nochmals nachdrücklich
auf eine friedliche Verhandlungslösung drängt, erklärt Erdoğan im Vorfeld
der über Abdullah Öcalan „Wenn ich zu dieser Zeit [der Zeit der Verurteilung
A.Ös zum Tode] da [an der Macht] gewesen wäre, hätte ich ihn aufgehängt,
wäre er nicht aufgehängt worden, dass hätte ich die Koalition aufgelöst.“
Dies ist ein weiterer Beleg der Nichtbereitschaft der türkischen Regierung
für eine friedliche Lösung der kurdischen Frage.
IM VORFELD BEGANN EINE ESKALATIONSSTRATEGIE DES TÜRKISCHEN STAATES
Innerhalb von 50 Tagen
kam es erneut zu 2506 Festnahmen kurdischer PolitikerInnen und AktivistInnen.
Die Festnahmewelle Welle Begann im März zum Newroz Fest 2011, steigerte
sich nach den erfolgreichen Protesten gegen die Nichtzulassung linker,
prokurdischer Kandidaten und Kandidatinnen zur Parlamentswahl und führte
zu mehr als 2506 Festnahmen und hunderten Haftbefehlen in den letzten
50 Tagen. Nach einer Bilanz des Menschenrechtsvereins IHD wurden nach
dem Veto der hohen Wahlkommission, zwischen dem 19. und 29. April alleine
831 Personen, davon 198 Kinder und Jugendliche festgenommen. In dieser
Phase wurden 2 Demonstranten von der Polizei getötet und mindestens 308
Personen in diesem Rahmen verletzt.
Vor den Wahlen wurde ein neues Wahlgesetz verabschiedet. Darin wird u.a.
geregelt, dass Polizisten und Militär (Jandarma) in Wahllokale gehen können
und sich dort bewaffnet 15 m vor den Wahlurnen postieren dürfen. Vorgeblich
soll das in den kurdischen Provinzen dazu dienen Unruhen zu verhindern.
Die „Sicherheitskräfte“ sollen auf Zuruf der Wahlleiter intervenieren
können. Bei den letzten Wahlen (Parlamentswahlen 2007 und Kommunalwahlen
2009, wurden die Wahlleiter meist von der AKP gestellt. Sie trugen in
den meisten kurdischen Provinzen zu massivem Wahlbetrug bei. Urnen verschwanden,
Militärs bedrohten die WählerInnen nicht die Kandidaten der BDP zu wählen,
Wahlzettel wurden zugunsten der AKP gefälscht usw. Hier wird hier die
militärische Besatzung bis ins Wahllokal fortgesetzt.
DIE REGION VAN VOR DEN WAHLEN
Wenige Tage vor unserer
Ankunft in Wan der ehem. Bürgermeister der Kleinstadt Elbak (Başkale)
in der Nähe von Van inhaftiert. Zuvor hatte es massive Proteste gegen
einen Besuch des Ministerpräsidenten Erdoğan in Elbak gegeben. Viele schätzen
die Inhaftierung des ehem. Bürgermeisters als Racheaktion des Staates
ein. Zuvor war ihm schon wegen angeblicher „Propaganda für eine verbotene
Organisation“ vom Innenministerium das Mandat entzogen worden. Die Bevölkerung
reagierte auf die Inhaftierung mit massiven Protesten, die von Polizei
gewalttätig aufgelöst werden sollten, was zu heftigen Kämpfen mit vielen
verletzten führte. Der ehem. BDP Bürgermeister, wie auch der amtierende
BDP Bürgermeister von Başkale überlebten nur wenige Wochen zuvor einen
Polizeiangriff nur mit Glück. Polizisten hatten auf sie gezeigt und gezielt
das Feuer eröffnet.
Aber nicht nur in den kurdischen Provinzen geht die Polizei mit sich vor
den Wahlen intensivierender Repression gegen Strukturen der BDP vor. So
kam es am Tag unserer Ankunft zu Festnahmen von 16 BDPlerInnen in Istanbul
und Razzien bei denen Wohnungen verwüstet, Fenster zerschlagen und Türen
aufgebrochen worden sind.
Erst am 10.09. wurden in der kurdischen Stadt Midyat im Anschluss an ein
Solidaritätskonzert für die Inhaftiere unabhänige Kandidatin Gülser Yıldırim
DemonstrantInnen, die zum Gebäude der AKP ziehen wollten zunächst mit
Wasserwerfern und Tränengas von der Polizei angegriffen, anschließend
gingen mit Knüppeln und Messern bewaffnete AKP Anhänger auf die fliehenden
los.
VERSUCHE VON BESTECHUNG UND ERPRESSUNG IM VORFELD DER WAHLEN
Aus vielen Regionen
der Provinz Wan, wie auch aus allen anderen kurdischen Provinzen in der
Türkei häufen sich die Berichte von Bestechungs- und Erpressungsversuchen
durch staatliche Kräfte.
Militär rückte beispielsweise nach Berichten von DorfbewohnerInnen in
Dörfer in der Nähe der Kreisstadt Catak nahe Wan ein und bedrohte die
Bevölkerung, wenn sie nicht AKP wählten, seien sie selbst verantwortlich
was ihnen passieren würde. Auch aus der Region Elbak (Başkale) sind mehrere
ähnliche Fälle bekannt geworden. Oft ziehen Gouverneur und Polizei zusammen
durch die Stadt um die Menschen dazu zu bringen AKP zu wählen.
Auch aus dem Stadtgebiet von Wan wurde übereinstimmend von Menschen aus
der Bevölkerung berichtet, wie AKP Angehörige Geld, Kühlschränke und Ähnliches
verteilten um die Bevölkerung zu bestechen. Sie versuchen damit die Armut
der Region, welche durch systematische Ausbeutung von Mensch und Natur
durch den türkischen Staat und europäische und US-Amerikanische Interessen
herbeigeführt wurde zu nutzen um die Menschen dazu zu bringen die Partei
zu wählen, die für eben diese Politik steht. Weiterhin versucht die AKP
hier die Religiosität vieler Menschen in der Region für ihre Zwecke zu
benutzen, indem sie als Gegenleistung für ihre „Geschenke“ die Bevölkerung
auf den Koran schwören lässt die AKP zu wählen. Weiterhin verlangt die
AKP das Einsenden von Handyphotos vom entsprechend angekreuzten Wahlschein.
Die Bevölkerung geht
jedoch meist nicht mehr auf die Bestechungen ein und lässt in vielen Stadtvierteln
Wans die Lastwagen der AKP mit Kühlschränken etc. nicht mehr herein und
auf vielen Ebenen scheint die kurdische Region in großen Teilen für die
AKP verloren zu sein. Das Selbstbewusstsein der Bevölkerung und ihre Entschlossenheit
machen es den staatlichen Kräften meist unmöglich mit Bestechungen und
Bedrohungen erfolgreich zu sein.
ANTIKURDISCHE HETZE
ERDOGANS
Aus diesem Grund findet insbesondere durch die AKP und ihren Premierminister
eine massive antikurdische Hetze statt. Obwohl der Staat täglich mit Repression
gegen die Bevölkerung vorgeht wird durch Erdoğan und die türkische Presse
ein Bedrohungsszenario durch die kurdische Bewegung konstruiert, die angegriffenen
zu Tätern gemacht und beispielsweise behauptet gegen Erdoğan in Colemerg
(Hakkari) streikende Läden seien nur durch Erpressung geschlossen worden.
Dagegen werde er vor gehen und die Region weiter militarisieren. So soll
unter dem Vorwand der Garantie „geheimer und freier Wahlen“ das Militär
und Polizei nach Erdoğans Ankündigung massiv um und in Wahllokalen eingesetzt
werden. Dass damit die Einschüchterung der kurdischen Bevölkerung bezweckt
wird, machen die aktuellen Bedrohungen durch Polizei und Militär deutlich.
Folgen der Hetze
Die Hetze gegen BDP und gegen die kurdische Bevölkerung findet ihren Widerhall
in faschistischen Kreisen. So fanden im ganzen Land Übergriffe auf Wahlbüros
und Privatwohnung statt. In Maraş und Corum wurden die Wohnungen kurdischer
AlevitInnen mit Kreuzen gekennzeichnet. Dies spielt auf die 70er, 80er
und 90er Jahre an, in denen diese Markierung eine gezielte Todesdrohung
war, nach der zum Beispiel im Maraş Massaker 1978 mehrere hundert Männer,
Frauen und Kinder von türkischen Faschisten ermordet worden waren. In
Beytüşşebap, in der Region Şırnex (Şırnak) wurde wenige Tage ein Wahlkonvoy
der BDP von Verwandten des AKP Kandidaten mit Steinen beworfen. Dabei
gab es mindestens zehn Verletzte.
In Istanbul wurden am 09. Juni 11 Menschen die für den linken Wahlblock,
dem auch die BDP angehört plakatierten mit Tötungsabsicht von Faschisten
mit Dönermessern teilweise schwer verletzt und in der Nacht zum 9.06.
das Wahlbüro von Sebahat Tuncel mit Steinen angegriffen worden. Erst wenige
Wochen zuvor war das BDP in Rubarok (Derecik) mit schweren Waffen und
Molotowcocktails angegriffen worden.
EUROPAS ROLLE
Je nach Provinz und
militärischer Zuspitzung der Lage sind die Formen von Repression und Gewalt
unterschiedlich und unterschiedlich stark ausgeprägt. International werden
die Rechtsverletzungen der Türkischen Regierungen weitgehend ignoriert
bzw. gestützt und gefordert. Auch in Europa werden politisch tätige KurdInnen
ebenfalls häufig kriminalisiert. Kurz vor den Wahlen wurden in Frankreich
mehrere kurdische Vereine durchsucht und 7 Personen festgenommen. Grund
für die Haltung der europäischen Regierungen sind hauptsächlich geostrategisch
und wirtschaftlich geprägte Kolonialpolitiken der EU Staaten und der USA.
Die Türkei gilt als wichtiger Vorhof zum Mittleren Osten (Syrien, Iran,
Irak, Kaukasus, Ölvorkommen, die geplante Nabucco Gas Pipeline). Als NATO
Mitglied hat die Türkei die zweitgrößte Armee. In diesem Rahmen gilt Die
AKP gilt als Vorzeigemodell für einen gemäßigten und marktradikal orientierten
Islam im mittleren Osten. Hiermit wird deutliche warum die Bundesregierung
und andere europäische Regierungen zum Krieg in Kurdistan und den schon
jetzt nur als offensichtlich undemokratisch zu bezeichnenden Wahlen schweigen.
Die Bundesregierung ist damit ebenfalls direkt verantwortlich für die
katastrophalen Folgen der AKP Politik, die bis hin zu einer vollständigen
Eskalation des Konflikts nach den Wahlen führen werden.
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