Murat Çakır Parlamentswahlen in der Türkei – Wahlabendanalyse: AKP gewinnt – Linksbündnis triumphiert! 13. Juni 2011, 1:30 Uhr Die Würfel sind gefallen – die Voraussagen der Umfrageinstitute sind zum größten Teil eingetroffen. Die AKP (Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung) hat erneut die Wahlen gewonnen, aber ihr Wahlziel, eine verfassunggebende Zweidrittel-Mehrheit zu erhalten, nicht erreicht. Die CHP (Republikanische Volkspartei) konnte zwar ihr Stimmenanteil erhöhen, gilt aber als Wahlverliererin. Die ultranationalistische MHP (Partei der nationalistischen Bewegung) ist, trotz Verluste, im Parlament vertreten. Triumphieren konnte aber das von der prokurdischen BDP (Partei des Friedens und der Demokratie) und verschiedenen linken und sozialistischen Parteien gebildete Linksbündnis, der »Block« (Block der Arbeit, des Friedens und der Freiheit). Die Wahlbeteiligung war mit rund 87 Prozent sehr hoch. Die Ergebnisse im Einzelnen:
*) 2007 waren unter den unabhängigen Abgeordneten 5, die keine Abgeordnete der prokurdischen DTP (BDP) waren. Die Wahlen fanden in einer polarisierten Gesellschaft und unter undemokratischen Verhältnissen statt. Vor und während den Wahlen wurden oppositionelle Kräfte, insbesondere die AnhängerInnen des Linksblocks, unter Druck gesetzt. Hunderte WahlhelferInnen des Linksblocks wurden verhaftet. Aus den kurdischen Gebieten werden massive Einschüchterungsversuche gemeldet. Rund 150 internationale WahlbeobachterInnen haben zahlreiche Missbrauchsfälle und Wahlfälschungsversuche notiert. Am Wahlmorgen wurden in einigen Städten zahlreiche Stimmzettel, auf denen die AKP angekreuzt (abgestempelt) war, gefunden. Kurz nach den Wahlen jedoch fand man wieder in verschiedenen Städten halbverbrannte Stimmzettel mit Stimmen für den Linksblock. In einigen Wahllokalen wurden mehr Stimmen als eingetragene WählerInnen festgestellt. In den kurdischen Gebieten kam es zu gehäuften Stromausfällen. Die allererste Feststellung des Wahlabends lautet daher: Diese Wahlen waren keine demokratischen Wahlen. Erdogan hat gewonnen,
aber… Vor den Wahlen erwartete man mit Spannung die »Balkonrede« des Ministerpräsidenten am Wahlabend. Zeitgleich mit seinem Auftritt am Balkon der AKP-Parteizentrale in Ankara, begannen die Angriffe der Polizei in den kurdischen Städten auf die feiernden AnhängerInnen des Linksbündnisses. In mehreren Städten kam es zu Auseinandersetzungen, zahlreiche Menschen wurden durch Polizeiübergriffe verletzt. In Sirnak wurde eine Handgranate in die Menge geworfen und in Diyarbakir wurde die BDP-Stadtzentrale mit Gasbomben der Polizei heftig attackiert. Die »Balkonrede« Erdogans wurde anschließend von den meisten JournalistInnen im Fernsehen als »enttäuschend« bezeichnet. Obwohl Erdogan mehrfach betont hat, dass die neue Regierung »die Regierung des ganzen Volkes sein« werden und sie »gemeinsam mit der Opposition, den NGOs, den unterschiedlichen Kräften der Zivilgesellschaft und den Intellektuellen über eine neue Verfassung diskutieren« werden, gab er nicht explizit die Signale, die von der kurdischen Bewegung erwartet wurden. Prof. Dr. Erol Katircioglu bewertete seine Rede als »eine Rede eines Autokraten, dessen Paternalismus überbetont wird«. Bezeichnend war auch sein Gruß »an unsere nationalen Verwandten und Geschwister in der Region, in Bagdat, Baku, Damaskus, Kabul, Sarajewo, Teheran und den Turkstaaten Mittelasiens«. Die FernsehjournalistInnen bewerteten diese Aussage als »eindeutige imperiale Ausrichtung der zukünftigen AKP-Politik«. Die Tatsache, dass die AKP nur 326 Abgeordnete im nächsten Parlament haben wird, wird wahrscheinlich dazu führen, dass Erdogan der unsäglichen türkischen Tradition des Abgeordnetentransfers setzen und 5 bis 6 Abgeordnete aus den anderen Parteien abzuwerben versuchen wird. Somit könnte die AKP die 330-Grenze für einen Verfassungsvorschlag an ein Referendum erreichen. Mittelfristig gehen die meisten JournalistInnen davon aus, dass Erdogan wahrscheinlich 2012 für das Amt des Staatspräsidenten kandidieren wolle. Vorher wird erwartet, dass die Befugnisse des Staatspräsidenten erweitert werden sollen. Die Oppositionsparteien
CHP und MHP Die neue Hoffnung:
Das Linksbündnis Während in Istanbul alle 3 KandidatInnen gewählt wurden, hat das Bündnis auch ihre absoluten Zahlen erhöhen können. So hat z.B. Levent Tüzel, Vorsitzender der sozialistischen EMEP (Partei der Arbeit) mit 136.000 Stimmen einen landesweiten Rekord gebrochen. In Diyarbakir konnte sie ihr Stimmenanteil von 47 auf 62 Prozent (6 Abgeordnete), in Batman von 39 auf 51 Prozent (2 Abgeordnete), in Mardin von 39 auf 62 Prozent (3 Abgeordnete) in Sirnak von 52 auf 73 Prozent (3 Abgeordnete) und in Hakkari sogar von 56 auf 82 Prozent (3 Abgeordnete) erhöhen. In den übrigen kurdischen Städten ist eine ähnliche Entwicklung zu sehen. Auch in einigen südlichen Küstenstädten konnten sie Siege erringen. So wurde in Mersin Ertugrul Kürkcü, der bekannte Sozialistenführer gewählt und in Adana, der ehemalige Politiker Murat Bozlak. Das Linksbündnis konnte auch mit Serafettin Elci, einem früheren Minister und Altan Tan zwei Persönlichkeiten aus den islamischen Kreisen und mit Erol Dora, einem Aramäer, den ersten Christen nach 1960 ins Parlament schicken. Der Sieg des Linksbündnisses wird mit dem Einzug von 15 SozialistInnen in den 1960er Jahren verglichen. Man erwartet eine ähnliche Dynamik wie damals, als die TIP (Türkische Arbeiterpartei) ins Parlament einzog und die Arbeiter- und Studentenbewegung einen ungeheuren Aufschwung bekam. In den kurdischen Medien, aber auch in den wenigen linken Fernsehsendern wurde den ganzen Abend über die Möglichkeit, eine neue vereinigte Partei zu gründen, diskutiert. Doch gleichzeitig setzt man auf die Abgeordneten des Linksbündnisses derart Hoffnungen, die zu hohen Erwartungen führen. Einige Kommentatoren, u.a. der renommierte Meinungsforscher Tarhan Erdem erwartet von den linken und kurdischen Abgeordneten eine Politik der Annäherung an die AKP, Zwecks einer neuen Verfassung. Ein erwarteter Dialog wird jedoch von der AKP abhängen und dies scheint heute Abend und womöglich in den nächsten Monaten unwahrscheinlich zu sein. Dennoch, das Linksbündnis könnte in der parlamentarischen Arbeit zum Zünglein an der Waage werden und somit auch der Motor eines echten Versuches der Demokratisierung. Zwar hat das Linksbündnis ein großen Anteil daran, dass die AKP ihre Ziele nicht erreichen konnte und dafür den offenen Zorn der AKP auf sich gezogen, aber wenn die AKP eine neue Verfassung installieren möchte, wird sie auf die Abgeordneten des Linksbündnisses angewiesen sein. Denn sie werden die einzige Kraft im Parlament sein, die ernsthaft an einer Demokratisierung interessiert sind und auch die Möglichkeit haben, auf die kurdische Bewegung Einfluss auszuüben. Unter den gewählten KandidatInnen des Linksbündnisses sind 6 noch inhaftiert, sie wurden also aus dem Gefängnis heraus gewählt. Ferner sind 11 von ihnen Frauen. Das Linksbündnis ist zugleich eine Koalition der kurdischen Kräfte. Wäre das Bündnis eine Partei, wären die Stimmenanteile doppelt so hoch, da für die Wahl von unabhängigen KandidatInnen andere Vorschriften gelten, als für Parteien. Das Bündnis hätte als Partei wahrscheinlich doppelt so viele Abgeordnete wie jetzt. Die Tatsache, dass in den sämtlichen kurdischen Städten nahezu die gesamte Bevölkerung bis tief in die nächtlichen Stunden auf den Beinen war und wahrscheinlich auch Hunderttausende am nächsten Tag an den aufgerufenen Demonstrationen teilnehmen werden, zeigt, dass das Linksbündnis eine echte Chance für die Befriedung des kurdisch-türkischen Konfliktes darstellt. Das Linksbündnis hat mit ihrem Erfolg nun endlich die Wahlhürde von 10 Prozent ad absurdum geführt. Wie weiter? Eine ausführliche
Wahlanalyse kommt dann am Freitag, den 17. Juni 2011. |