Wahlbeobachtungen
2011
14.06.2011
Anlässlich der Parlamentswahlen
in der Türkei am 12.6.2011 haben sich insgesamt 10 Beobachtungsdelegationen
aus Europa in die kurdischen Provinzen des Landes begeben, um am Wahltag
und den Tagen nach der Wahl die Entwicklungen zu beobachten. Aufgrund
der Vielzahl von beobachteten Verstößen gegen türkisches und internationales
Recht kann die Parlamentswahl 2011 keinesfalls als rechtsgemäße, allgemeine,
freie, geheime und demokratische Wahl bezeichnet werden. Gravierende Verstöße
gegen Türkische Gesetze und Verordnungen sowie internationale Standards
waren kein Einzelfall, sondern eine systematische und flächendeckende
Praxis der versuchten Einschüchterung und Wahlfälschung.
Die WahlbeobachterInnen, unter denen sich Europaparlamentarier, Bundestags-
und Landtagsabgeordnete, KommunalpolitikerInnen, WissenschaftlerInnen,
GewerkschafterInnen und MenschenrechtsaktivistInnen befanden, hielten
sich in den Provinzen Van, Batman, Kars, Ardahan, Diyarbakir, Urfa, Sirnak,
Antep, Bitlis, Igdir, Agri und Hakkari auf.
Die schwerwiegendsten
Verstöße, die beobachtet und dokumentiert sind:
1. In der überwiegenden
Anzahl der Wahllokale waren in den Städten bewaffnete Polizisten und in
den Dörfern die Militärpolizei Jandarma und Dorfschützer (Dörfer) präsent.
Nach einer Änderung des Wahlgesetzes im Jahr 2010 dürfen sich bewaffnete
staatliche Sicherheitskräfte im Wahllokal bis zu 15 m vor den Wahlurnen
aufhalten. Zuvor galt ein Abstand von 100 Metern. Besonders in weiteren
kurdischen Provinzen wurde diese Änderung dazu genutzt, zu versuchen,
WählerInnen u.a. durch Einschüchterungsversuche und Bedrohung vom Wählen
überhaupt- oder von einer freien Wahl abzuhalten. Denn selbst diese aus
menschenrechtlicher Sicht inakzeptable Regelung wurde flächendeckend nicht
eingehalten. Die bewaffneten Kräfte hielten sich direkt vor oder in den
Wahlräumen und zum Teil vor den Urnen und mit den WählerInnen in den Wahlkabinen
auf
2. In mehreren Fällen prügelten Jandarma und Polizisten WählerInnen aus
den Wahllokalen oder verhinderten deren Zugang dazu u.a. in den Provinzen
Van, Agri, Igdir, Hakkari, Sirnak. Zum Teil geschah dies mit Waffengewalt
oder mit Hilfe von Panzerfahrzeugen
3. Immer wieder konnte beobachtet werden, die UrnenvorsteherInnen ältere
WählerInnen und AnalphabetInnen in die Wahlkabinen begleiteten und auf
die AKP zeigten, die zu wählen sei.
4. Durch Geldgeschenke, Lebensmittel und Kleidungsgutscheine sowie das
Versprechen von regelmäßigen Kindergeldzahlungen im Falle einer Wahl der
AKP wurde versucht, vor allem in Gegenden mit überwiegend finanzschwacher
Bevölkerung, die WählerInnen zu bestechen.
5. Die WahlbeobachterInnen des Wahlblocks für Arbeit, Freiheit und Demokratie
(Bündnis der BDP mit weiteren linken Kräften) wurden in vielen Fällen
aus den Wahllokalen ausgeschlossen
6. Allein in den kurdischen Provinzen des Landes, besonders in Agri, Van
und Sirnak wurden mehr als 100 WahlbeobachterInnen des Wahlblocks für
Arbeit, Freiheit und Demokratie verhaftet.
7. In vielen Fällen hielten Polizisten sich in Wahllokalen auf, verlangten
die Vorlage des Personalausweises, um die Wahlnummern zu verteilen, unterzogen
die WählerInnen einer Ganzkörperkontrolle und bedrohten sie dabei.
8. Allein in Istanbul wurden 1904 WählerInnen ohne ersichtliche Rechtsgrundlage
bei der Wahl verhaftet
9. In der Provinz Ardahan drohten Imame Frauen in Gesprächen damit, dass
Gott sie bestrafen würde, wenn sie ihre Stimme nicht der AKP geben würden
10. WahlbeobachterInnen des Wahlblocks für Arbeit, Freiheit und Demokratie
wurden in vielen Fällen von der Auszählung ausgeschlossen
11. In mehreren Fällen verweigerten verantwortliche Behörden notwendige
Gespräche mit ParlamentarierInnen und AnwältInnen
In Sirnak wurde eine
Handgranate in die feiernde Bevölkerung geworfen. Hier hielt sich auch
eine Wahlbeobachtungsdelegation mit dem MdB Harald Weinberg auf. Nach
dem Attentat griffen die Polizisten die Menge mit Tränengasgranaten an.
Auch die DelegationsteilnehmerInnen wurden beschossen.
Angestrebt wurde bei den Parlamentswahlen seitens der AKP eine 2/3 Mehrheit,
um eine absolute Hoheit über den bevorstehenden Verfassungsgebungsprozess
zu erlangen. Dieses Ziel wurde klar verfehlt. Bereits im April hatte die
Regierung Erdogan im Schulterschluss mit dem Nationalen Sicherheitsrat
MGK Polizeigewalt und Militäroperationen in den kurdischen Landesteilen
ausgeweitet und selbst menschenrechtliches Engagement zu potentiellem
Terror deklariert. In diesem Rahmen kam es zu 2500 Festnahmen von AktivistInnen
und PolitikerInnen und der gewaltsamen Räumung von Informations- und Diskussionszelten
des Wahlblocks für Arbeit, Freiheit und Demokratie.
Offensichtlich sollte mit allen Mitteln die demokratische politische Entfaltung
der kurdischen Bevölkerung verhindert werden.
Das Vorgehen bei den Wahlen und die Ereignisse danach lassen eine Regierungspolitik
erkennen, die offensichtlich auf eine erneute militärische und sicherheitspolitische
Eskalation der Lage setzt und somit eine demokratische Lösung der kurdischen
Frage nahezu verunmöglicht.
Europa Delegation
2011
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