Özgür Politika, 08.06.2002 Die Bündel mit Worten von Freiheit füllen Wir machen uns auf den Weg, aufeinander zu. Es ist das erste Mal, dass wir soweit laufen werden. Bald wird die gesamte Türkei die von Freiheit begeisterte Stimme von Frauen hören. Wenn auch Ihr zu dieser Stimme beitragen wollt, lasst es uns wissen. Nach langen Diskussionen haben Frauen entschieden, ausgehend von Diyarbakir, Elazig, Adana, Batman, Bolu, Gebze, Mersin, Izmir, Tarsus, Bursa, Iskenderun, Bilecik, Antakya, Eskisehir, Samsun, Ankara, Istanbul und vielen weiteren Städten einen Freiheitsmarsch nach Konya zu organisieren. Am 6. Juli wollen sich die "Botinnen" auf den Weg machen, an Hunderten von Zwischenstationen Pausen einlegen und dabei ihre Bündel mit den Worten der Frauen füllen, denen sie begegnen. Das Ziel ist Konya, wo am 12. Juli ein großes Treffen stattfinden wird. Dort werden die Bündel geöffnet werden. Alle Worte, die auf dem Weg gesammelt wurden, werden nebeneinander gelegt werden. Und daraus wird nach den Worten der Soziologin Pinar Selek, die diesen Marsch mitorganisiert, das "Manifest der Frauen Anatoliens und Mesopotamiens" werden. Ein gemeinsames Manifest, das nicht nur ein Mensch geschrieben hat und nicht nur aus einigen wenigen Federn geflossen ist, sondern die Unterschrift von Tausenden von Frauen trägt. Wir haben mit Pinar Selek über Ziel und Zweck des Freiheitsmarsches gesprochen, dessen Vorarbeiten seit langer Zeit andauern. Wie Pinar Selek erklärte, seien sie als Organisatorinnen von der Aufregung erfüllt, etwas noch nie Dagewesenes in der Türkei zu verwirklichen. Sich selbst würden sie jedoch nicht als Pionierinnen betrachten, denn bei den Vorbereitungen seien sie von dem ausgegangen, was sie von den Anstrengungen und Aktivitäten, die Frauen bis heute vollbracht haben, gelernt hätten. "Wir betrachten unsere Arbeit selbst als eine Fortsetzung der Suche nach Freiheit, auf der sich Frauen seit Tausenden von Jahren für ihre unabhängigen Forderungen befinden." Die Freiheit in der Werbung Bereits eine Weile zuvor hatte die Fraueninitiative KATAGI [der auch Pinar Selek angehört] angekündigt, gegen das Patriarchat zu kämpfen, das sie als systematisierte Gewaltkultur definieren. Dagegen haben sie die Begriffe 'Freiheit' und 'Befreiung' gesetzt. Wie Pinar Selek sagt, haben sie sich mit dem Wort 'Freiheit' intensiv auseinandergesetzt. Denn 'Freiheit' gehört zu den Begriffen, die in der heutigen Zeit abgenutzt und sinnentleert sind. Als Frauen sei es wichtig, sich dagegen zu stellen, so Selek: "Die neue Weltordnung reproduziert sowohl das eigene soziale Leben als auch ihren ökonomischen Profit ein bisschen mit diesem Begriff von Freiheit. Die Freiheitsstatur in Amerika lässt heute mit der von ihr symbolisierten Auffassung und Lebensform die ganze Welt bluten. Desweiteren wird Frauen und Männer in der Werbung, in Filmen und Liedern ein Modell des freien Lebens präsentiert. Damit verbunden ist es für uns sehr wichtig, dass die erste Reaktion darauf von Frauen kommt, dass Frauen hinter dem Befreiungskampf stehen, den sie seit Tausenden von Jahren führen, und dass sie sagen, 'eine solche Freiheit wollen wir nicht, für uns bedeutet Freiheit, sich die eigenen Probleme bewusst zu machen und den Willen zu zeigen, diese Probleme zu bewältigen'." Frauen kennen ihre Probleme nicht Ein weiterer Punkt, den Pinar Selek betont, betrifft die geplanten Aktivitäten, die nicht nur als Protest gegen eine bestimmte Sache stattfinden sollen. Über den Protest gegen irgend etwas hinaus sei es wichtiger, eine Kampagne zu entwickeln, die auf eine Alternative hinweist. Eigentlich wüssten viele Frauen nichts über die Probleme anderer Frauen, so Pinar Selek weiter. Weil Frauen in engen Lebensräumen eingesperrt seien, sei es oftmals nicht möglich, die Probleme im Leben anderer zu sehen. "Während eine Frau vergewaltigt wird, während ich geschlagen werde, erlebt eine andere Frau genau das gleiche", so Selek. Die Auffassung 'davon bin ich nicht betroffen' bedeute im Grunde genommen, vor der Realität des eigenen Geschlechts zu fliehen oder sich zumindest davon zu entfernen, eine Entfremdung zu erleben. Zu Beginn dieser Bewegung habe auch die Zielsetzung bestanden, den Ansatz zu überwinden, nur mit organisierten und elitären Frauen begrenzte Diskussionen zu führen. "Es sind lediglich organisierte Frauen, die sich ausdrücken können, die zu den Treffen und Versammlungen kommen können. Insofern ist es notwendig, dass wir die Worte aller Frauen in der Türkei zusammenbringen, die Probleme aller Frauen kennenlernen und auch ihnen unsere Probleme erklären", so fasst Pinar Selek diesen Gedanken zusammen. Außerdem sei beabsichtigt, die in Metropolen wie Ankara und Istanbul zentrierte Frauenarbeit in jede Provinz, jeden Kreis und jedes Dorf zu tragen. "Auf diese Weise können wir vielleicht die Macht von Städten wie Ankara und Istanbul kippen." Botinnen werden Worte sammeln Einer der prägnanten Sätze Pinar Seleks lautet: "Frauen müssen ein zweites Mal über ihr eigenes Leben nachdenken". Viele Informationen, die sich aus Untersuchungen mit Frauen ergeben, würden später nicht zu den betreffenden Frauen zurückkehren, so Selek. "Wir haben nach einer Methode gesucht, mit der die Grenzen bestimmter Zentren überwunden werden und Millionen Frauen die Möglichkeit gegeben werden kann, ein zweites Mal über ihr eigenes Leben nachzudenken und sich an diesem Punkt zu befreien". Die Methode, die dafür entwickelt haben, ist die der 'Botin'. Als Personen, die Informationen verbreiten, sollen die Botinnen im Verlauf des Marsches an den Orten, an denen sie vorbeikommen, Worte von Frauen einsammeln, damit ihre Bündel füllen und in Konya nebeneinander legen. Das Manifest, das aus diesen Worten gebildet werden wird, soll an die Frauen an den Zwischenstationen zurückgeleitet werden. Am Tag des großen Treffens, dem 12. Juli, wird in Konya eine Feier veranstaltet werden. Am nächsten Tag dann eine große Versammlung. Es gibt noch weitere Einzelheiten, die dem Marsch Farbe verleihen sollen. Stoffstücke, die auf dem Marsch von Frauen geholt werden, sollen am Tag des Treffens aneinander genäht werden und damit die optische Seite des Manifestes bilden. Außerdem werden die Marschrouten gefilmt und zu einem Dokumentarfilm verarbeitet werden, der an die Frauen an den jeweiligen Punkten des Marsches zurückgeschickt werden wird. Wie Pinar Selek erzählt, haben sie die Punkte, an denen der Marsch vorbei führen wird, vorher besucht. Diese Besuche dauern immer noch an. Es wird also kein spontaner Einfall in die jeweilige Ortschaft werden. Sie sind von Dorf zu Dorf und von Kleinstadt zu Kleinstadt gegangen und haben den Frauen gesagt: 'Wir kommen, wartet auf uns', und dabei den Zweck ihres kommenden Besuches erklärt. Somit würden die Frauen vor Ort nicht passiv bleiben, so Pinar Selek. Es sei sogar schon damit begonnen worden, eigene Programme und Versammlungen in den Ortschaften abzuhalten. Und die Frauen an den Zwischenstationen des Marsches warten ungeduldig auf die Botinnen. Von SUNA ISIK |