Ein völlig absurder Prozess! Von Müjgan Arpat Als Pinar Selek vor fünf Jahren aus dem Gefängnistor trat und sagte: „Trotz allem werde ich meinen Kampf für Frieden fortsetzen“, haben wohl aufgrund ihrer Erlebnisse wenige, außer den Menschen ihrer näheren Umgebung, daran geglaubt. Denn es war ja auch kein leichter Brocken, den sie zu schlucken hatte: In der Öffentlichkeit wurde sie, eine Frau, die feministisch, antimilitaristisch, gegen jede Art von Gewalt produzierenden Machtmechanismen eingestellt und in ihrem Kampf nicht oberflächlich und rhetorisch blieb, sondern sich mitten hinein stürzte, plötzlich der Öffentlichkeit als Bombenlegerin präsentiert. Sie war festgenommen, mit Stromschlägen bearbeitet, am Palästinenserhaken aufgehängt und weiteren Foltermethoden ausgesetzt worden. Während ihrer zweieinhalbjährigen Haftzeit erlebte sie das Todesfasten und die berüchtigte Gefängnisoperation vom 19. Dezember 2000. Die Polizisten, die sie festnahmen, sagten zu ihr: „Du wirst schon sehen, du wirst es nicht aushalten können und dich umbringen“. Aber Pinar Selek fand im Gefängnis die Möglichkeit, mit Kriegsopfern zusammen zu kommen und ihren Kampf noch besser zu begreifen. Als sie das Gefängnis verließ, war sie stärker als zuvor. Lachend merkt sie an, dass das Gefängnis für eine Soziologin „ohnehin ein Paradies“ sei. Sofort nach ihrer Entlassung setzte sie ihren Friedenskampf dort fort, wo sie ihn vor zwei, drei Jahren unterbrechen musste – zum Missfallen vieler. Eine Auflistung ihrer Projekte und Arbeit würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Die LeserInnen dieser Zeitung kennen sie ohnehin. Trotzdem möchte ich ein paar Beispiele nennen. Direkt nach ihrer Freilassung gründete Pinar Selek mit feministischen Frauen die Frauenkooperative „Amargi“. Sie arbeitet in verschiedenen Feldern der Friedens- und Frauenbewegung. Bevor sie ins Gefängnis kam, hatte sie eine Untersuchung zur Gewalt gegen Transsexuelle und Transvestiten in Istanbul begonnen, die sich nach ihrer Haftentlassung abschloss. Diese Arbeit wurde als Buch veröffentlicht. Danach veröffentlichte sie das Buch „Wir haben keinen Frieden geschlossen“, in dem sie mit feministischem Blickwinkel die Friedensbewegungen und den Militarismus im Land hinterfragte und untersuchte. In dieser Zeit habe ich Pinar kennen gelernt. Ich kam gerade aus dem Ausland und war auf der Suche nach etwas, das ich tun könnte. Und ich fand Pinar. Sie schien nicht aus diesem Land zu kommen. Normalerweise beschäftigen sich die Menschen leider nur mit den eigenen Problemen. Pinar hatte zu allen „anderen“, allen Diskriminierten, allen Unterdrückten etwas zu sagen. Sie bezog Stellung und kämpfte. Sie war einer der wenigen Menschen, die das, was sie sagen, auch leben. Sie war zu einem Teil des Kampfes gegen den Krieg geworden, der in diesem Land seit Generationen andauerte. Mit den Soziologen, die am Schreibtisch Wörter produzieren und Feldforschung betreiben, ohne mit den Menschen, denen ihre Untersuchung gilt, den geringsten Kontakt zu haben, hatte sie keine Ähnlichkeit. Können Sie sich vorstellen, während Sie mit Straßenkindern arbeiten, monatelang mit ihnen auf der Straße zu leben und zu schlafen? Oder während einer Untersuchung zu Gewalterlebnissen von Transsexuellen und Transvestiten mit ihnen zu leben, die gleichen Reaktionen aus der Gesellschaft zu erfahren und den Moment mit zu erleben, wenn diese gezwungen sind, sich selbst zu verkaufen? Haben Sie jemals die Bedingungen geschaffen, auf Treffen und Versammlungen die gleichen Männer, die jetzt als Demokraten und Revolutionäre auftauchen, sehen und dabei die Scheinheiligkeit der Gesellschaft erkennen zu können? Pinar ist eine, die mit denen lebt, arbeitet und kämpft, die zu „anderen“ gemacht wurden. Weder in ihren Untersuchungen noch in ihrem politischen Leben kommt Oberflächlichkeit vor. Wort und Leben sind eins bei ihr. Auf welchem Gebiet sie auch arbeitet, zunächst geht sie mit der Neugier eines Kindes zwischen die Menschen, die zu „anderen“ gemacht werden, die diskriminiert oder unterdrückt werden. Sie hört ihnen zu, versucht zu begreifen und sagt erst dann, was sie zu sagen hat. Das Komplott, mit dem sie zur „Bombenlegerin im Misir-Basar“ gemacht worden ist, ist meiner Meinung nach genau aus diesem Grund konstruiert worden. Pinar wollte immer untersuchen, welche Gründe es für den seit Jahrzehnten herrschenden Krieg in diesem Land gibt, welche Kräfte einen Frieden verhindern, wer von einer Fortsetzung des Krieges profitiert, was die PKK als eine der Kriegsparteien zu diesem Thema denkt und was für eine Politik sie verfolgt. In ihrem Buch „Wir haben keinen Frieden geschlossen“ zitiert sie Quincy Wright mit folgenden Worten: „Wenn ein Krieg beendet werden soll, müssen zunächst die Gründe dafür verstanden werden. Um zu verstehen, muss man das Thema untersuchen“. Als feministische und antimilitaristische Soziologin wollte Pinar Selek genau das tun. Um den Krieg zu begreifen, wollte sie seine Ursachen untersuchen und eine Antwort auf die Frage finden: „Wie können wir die Gewalt aus den gesellschaftlichen Beziehungen ausschließen und Frieden schließen?“. In ihrem Buch sagt sie: „Wir haben keinen Frieden schließen können. In diesem Land wird Politik seit Tausenden von Jahren mit Waffen gemacht. Die Unbewaffneten werden zuerst isoliert, dann wie Sekten an das System gebunden. Das lang andauernde Schweigen schärft die Wut wie ein Messer. Die eigene Geschichte wird aus dem Nebel heraus gefiltert und denen gegenüber, die diese Geschichte nicht kennen, laut heraus geschrien. Ohne die Geschichte der Aufstände, Verbote, Kerker, Massaker und Völkermorde [...] zu kennen, können wir auch die Motivation derer nicht begreifen, die Waffen in den Händen halten und ihr Leiden herausschreien. Es wurde nie darüber diskutiert, warum die Frau, die sich 1996 in einer Gruppe von Soldaten in die Luft sprengte, Zilan hieß. Dabei gibt es immer noch Menschen, denen die Traueroden aus dem Massaker am Bach Zilan in den Ohren klingen“. Warum ist Pinar in dieses Komplott geraten? Pinar Selek erkannte bei Gesprächen mit PKKlern, dass auch diese nach Möglichkeiten suchten, den Krieg zu beenden und einen Kampf ohne Waffen zu führen. Aber diese Suche passte den militaristischen Kräften nicht, die von einer Fortsetzung des Krieges profitieren. Sie entwarfen ein Komplott-Szenario für Pinar Selek, das sie umgehend in die Tat umsetzten. Ihre Forschungsarbeit wurde ihr weggenommen. Ganze anderthalb Monate nach ihrer Festnahme wurde sie erstmalig mit der Anschuldigung konfrontiert, eine Bombe im Misir-Basar gelegt zu haben. Bei ihrer Festnahme und während der unter Folter stattfindenden Verhöre wurde keine einzige Frage im Zusammenhang mit der Explosion gestellt. Sie selbst erfuhr von der Anschuldigung, die Verantwortliche für die Explosion zu sein, in den Nachrichten im Fernsehen, nachdem sie verhaftet und ins Gefängnis überstellt worden war. Das Szenario für das Komplott wurde aus unter Folter erpressten Aussagen, vorschriftswidrigen Verhören und gefälschten Protokollen erstellt. Ich finde den Prozess gegen Pinar Selek im Zusammenhang mit der Explosion im Misir-Basar immer noch so absurd, dass ich ihn gar nicht weiter ernst genommen habe, weil ich immer davon ausgegangen bin, dass sie früher oder später freigesprochen werden muss. Es ging mir mehr um den Zeitpunkt, damit diese Gewalt, die gegen Pinar ausgeübt wird, ein schnelles Ende findet. Aber wie alle anderen auch, wurde ich am 28. Dezember 2005 durch das Schlussplädoyer des Staatsanwaltes eines Besseren belehrt. Die Staatsanwaltschaft forderte eine lebenslange Haftstrafe für Pinar Selek. Als ob der gesamte Prozess nicht stattgefunden hätte, als ob die gesamte Anklage nicht mit Beweisen, wissenschaftlichen Gutachten und Zeugen widerlegt worden wäre, wurden im Plädoyer lediglich die Anklagepunkte vom Anfang wiederholt. Ich würde gerne wissen, ob der Herr Staatsanwalt noch ruhig schlafen kann. In den Akten und an den Verhandlungstagen sind so viele Dokumente und Beweise hervor gebracht worden, die belegen, dass es sich bei der Anklage um ein erdachtes Szenario handelt, dass es mir schwer fällt, zu entscheiden, welchen Punkt ich zuerst nennen soll. So wurde Pinar Selek in Kurtulus festgenommen, aber im Polizeiprotokoll steht als Festnahmeort Beyoglu, Oda Kule. Im Protokoll findet sich unter den Gegenständen, die bei ihr bei der Festnahme gefunden und beschlagnahmt worden sind, kein Schlüssel, aber im Protokoll zur Tatortbegehung ist vermerkt, dass die „Werkstatt mit dem bei Pinar Selek aufgefundenen Schlüssel geöffnet“ worden ist. Mit wissenschaftlichen Gutachten, die während des Prozesses von verschiedenen Institutionen erstellt worden sind, wird belegt, dass Ursache der Explosion nicht eine Bombe, sondern eine Gasflasche gewesen ist. Abdülmecit Öztürk als einer der Zeugen hat ausgesagt, dass er Pinar Selek nicht kennt, gefoltert worden ist und seine unter Folter erpresste Aussage falsch ist. Es hat sich herausgestellt, dass es sich bei denjenigen, die unter Folter gegen Pinar Selek ausgesagt haben, nicht um PKK-Überläufer handelt, sondern um Sedat Pekers Männer [Nationalistischer Krimineller, der trotz mehrerer Anklagen und längerer Untersuchungshaft niemals rechtskräftig verurteilt wurde]. Und so wurde Pinar Selek nach zweieinhalb Jahren aus der Haft entlassen, als das Komplott durch Gutachten und andere Beweise aufflog und auch die Öffentlichkeit nicht mehr an ihre Schuld glaubte. Nach ihrer Freilassung intervenierten sowohl das Innenministerium als auch die Istanbuler Polizeidirektion in der Besorgnis, weitere Details des Komplotts könnten bekannt werden, auf illegale Weise in das Gerichtsverfahren, indem sie ohne in irgendeiner Weise vom Gericht dazu aufgefordert zu sein, trotz etlicher bereits bestehender Gutachten die Forderung aufstellten, eine neue Abordnung aus Wissenschaftlern müsse zusammen gestellt werden. Damit übten sie Druck auf das Gericht aus und beeinflussten den Verlauf des Prozesses. Trotz des Einspruches der Verteidigung, diese Intervention sei illegal und dürfe nicht in die Akten eingehen, erfüllte das Gericht die Forderung und schickte die Akte auf Beschluss vom 27.02.2002 an das im Rahmen der EU-Anpassungsgesetze inzwischen aufgehobene Staatssicherheitsgericht (DGM) in Ankara – als ob es in Istanbul keine Fachleute für dieses Thema gebe – und forderte von einer fünfköpfigen Kommission, in der sich auch zwei Jandarma-Angehörige befanden, ein neues Gutachten. Prof. Inci G. Gökmen von der Technischen Universität Mittlerer Osten gab daraufhin eine Erklärung ab, sie sei in die Kriminalabteilung der Jandarma zitiert worden, wo sie aufgefordert worden sei, ein Gutachten zu unterzeichnen, das von der Jandarma erstellt und von zwei weiteren Dozenten bereits unterschrieben worden sei. Dieses habe sie abgelehnt. In einem eigenen Gutachten, das die Professorin am 10.07.2002 veröffentlichte, wird die These vertreten, dass die Explosion im Zusammenhang mit einer defekten Gasflasche steht. Von Anfang an wurde mehrmals versucht, auf rechtswidrige Weise in das Verfahren einzugreifen. Verschiedene Abteilungen der Polizei und andere Gruppen bemühten sich, eigene Schreiben als Beweise in die Akten aufnehmen zu lassen. Ein weiterer Beleg dafür, dass der Prozess unter Druck von oben verläuft, ist die Tatsache, dass aus unbekannter Stelle innerhalb des Justizministeriums eine kontinuierliche Berichterstattung über den Verlauf des Prozesses angefordert und vom Gericht aus dieser Forderung nachgekommen wird. Es ist alles getan worden, damit der zu einer Lügengeschichte gewordene und seit sieben Jahren andauernde Prozess kein Ende findet. Staatsanwaltschaft, Polizei, Innen- und Justizministerium haben Druck gegen das Gericht ausgeübt. Der Prozess zur Explosion im Misir-Basar wird immer noch selbst von der demokratischen Öffentlichkeit nicht wie die Prozesse, die nach den die Meinungsfreiheit einschränkenden Paragraphen 301 oder 305 eingeleitet worden sind, bewertet. Meiner Meinung nach sollten die Intellektuellen und Demokraten der Türkei dem Prozess gegen Pinar Selek, der auf einem Komplott beruht, das aufgrund der wissenschaftlichen Arbeit Seleks inszeniert wurde, die gleiche Aufmerksamkeit schenken wie den anderen Prozessen, in denen es um Meinungsfreiheit geht. Sie sollten Pinar in ihrem Kampf nicht allein lassen. Ich frage mich auch, wie die Türkei auf dem Weg in die EU diesen Prozess Europa erklären will. Quelle: Gündem Frauenbeilage, 07.01.2006, ISKU
|