„Ich lebe, trotz allem…“ Interview mit Pinar Selek in der türkischen Tageszeitung Sabah Am 17. Mai wird die Soziologin Pinar Selek vielleicht zum letzten Mal auf der Angeklagtenbank im Prozess um die Explosion im Misir-Basar Platz nehmen. Selek, die seit ihrer Universitätszeit in den Hintergängen der Gesellschaft umherstreift, empfindet keine Reue, nicht den Herrschenden, sondern stets den Unterdrückten nahe gewesen zu sein. Es war einmal eine „weiße Türkin“, die sich für Diebe, Roma, Straßenkinder, Sexarbeiterinnen und auf den Müll geworfene Menschen interessierte… Eines Tages wollte sie die Kurden verstehen. In einer Zeit, in der sich alle gegenseitig umbrachten, sprach sie von gegenseitigem Verständnis. Während sie allen bei Seite stand, wurde sie plötzlich selbst zum Opfer… Was haben Sie vom Leben erwartet, Pinar? Ich wollte als eine glückliche und freie Frau leben… Wie das gehen soll, wusste ich nicht. Ich muss dieses Leben verstehen, sagte ich mir, muss mich selbst verstehen. Glück konnte ich nur über Verständnis erleben, denn je mehr der Mensch versteht, desto eher ist er in der Lage, zu lieben. Manchmal nehmen wir viele Risiken in Kauf, um zu begreifen und zu empfinden, was geschieht. Meistens geraten wir dann in Widerspruch mit den Autoritäten… Aber ich gehöre nicht zu denen, die nach bunten Sachen suchen, um einem langweiligen Leben zu entfliehen. Diese Menschen bewegen sich von einem Gebiet zum nächsten und gehen auf Konsum basierende Beziehungen ein. Bei mir war das nicht so. Ich wollte unbedingt Soziologie studieren und habe einen sehr guten Abschluss gemacht. Mein Universitätsleben spielte sich auch nicht nur auf den Fluren und in der Mensa ab. Ich bin viel rumgekommen, habe diese Stadt, das Leben, die Gesellschaft betrachtet. Ich habe immer versucht, alles zu studieren, zu analysieren und etliche Male über die Dinge nachzudenken. Ich habe mir die Gesellschaft aus verschiedenen Perspektiven angeguckt. Meine erste Station waren die Medien. Ein Jahr lang habe ich beim Fernsehsender ATV gearbeitet. Und direkt danach kamen die Roma, Prostituierte, Straßenkinder, Transvestiten, Transsexuelle, Diebe… Ohne zu begreifen, was auf den hinteren Fluren der Gesellschaft abläuft, hätte ich auch die Gesellschaft nicht verstehen können. Ich ging zu den Roma und versuchte, das Leben mit ihren Augen zu sehen, ihre Heimatlosigkeit, ihre fehlende Identität zu begreifen. Auch zu Sexarbeiterinnen habe ich geforscht. Diese Themen sagen viel aus über die Realität der Gesellschaft. Man bekommt ein ganz anderes Gesicht der Gesellschaft zu sehen. Das Gesicht, das ich sehe, ist anders, als das, was sich der Prostituierten Sevda zeigt. Ich habe mit Straßenkindern auf der Straße gelebt, habe Männerkleidung angezogen und die Nächte mit ihnen verbracht. Ich habe versucht, die Sprache der Diebe zu verstehen. So hat meine Arbeit begonnen und so ging sie weiter. Diese Arbeit hört nicht auf… War dieses Verstehen, dieses Bewusstsein notwendig, um lieben zu können oder um eine Lösung zu finden? Es war notwendig, um zu begreifen und zu einer Lösung zu kommen. Es konnte ja nicht sein, lediglich die Resultate zu betrachten und zu repressiven Mitteln zu greifen. Es tat mir weh, dass eine kurzfristige Hilfe keine Lösung darstellen konnte. Vor Schmerz sind Sie nie davon gelaufen, warum? Es gibt einen Unterschied zwischen Unglück und Schmerz. Es stimmt, ich habe viel Schmerz erlitten und das ist auch nicht vorbei, aber ich bin nicht unglücklich. Und ich habe meinen Schmerz nie verborgen. Eigentlich komme ich mit allem, was mir widerfahren ist, klar, weil ich nichts verheimliche. Ich erinnere mich daran, dass ich sofort zu meinen Eltern gelaufen bin, als ich das erste Mal meine Regel bekam. Über alles wurde offen geredet, nichts wurde verheimlicht. In einer solchen Atmosphäre bin ich aufgewachsen. Nach dem Militärputsch 1980 war mein Vater im Gefängnis. In Briefen beschrieb ich ihm die Jungen, die mir gefielen. Wen oder was versuchten Sie zu verstehen, als sich die Explosion im Misir-Basar ereignete? In jener Zeit versuchte ich die Gründe für den Krieg im Südosten zu begreifen. Ich hatte von den kurdischen Aufständen gelesen und versuchte ihr kollektives Gedächtnis zu ergründen. Ich fragte mich, welche Lieder sie singen und was sie sich für Geschichten erzählen. Ich sprach mit Menschen, die Krieg führten, darüber, wie sie sich gegründet hatten, wie sie den Krieg definierten und begriffen, wie ihre interne Hierarchie aussieht, welche negativen Auswirkungen der Krieg hat, wofür sie am Anfang kämpften und was sie jetzt machten. Es handelte sich um eine theoretische und historische Untersuchung, die auch Kritik beinhaltete. Es war bekannt, dass ich gegen Militarismus und Gewalt bin. Warum Sie? Das geschah durch den Einfluss jener Zeit… In einer Zeit, in der die nationale Sicherheit höchste Priorität hatte und der Nationalismus überschäumte, habe ich von meinem eigenen Telefon aus Menschen in sehr hohen Positionen angerufen. Damals wollte der Staat Öcalan fassen und die Kurden einen Waffenstillstand erklären. Ich wusste nichts davon, habe nicht einmal danach gefragt. Ich versuchte, das Bewusstsein des Krieges zu ergründen. Es war wohl nicht begreiflich, dass eine Soziologin, die in Frankreich ausgebildet worden ist und aus einer Familie mit juristischer Tradition kommt, also eine „weiße Türkin“ ganz ruhig davon spricht, diese Angelegenheit begreifen zu wollen. Wahrscheinlich haben sich dadurch gewisse Kreise gestört gefühlt und mich haben sie symbolisch ausgewählt und festgenommen. Wann haben Sie erfahren, dass Sie der Explosion im Misir-Basar angeklagt werden? Das habe ich erst im Gefängnis erfahren. Es war fürchterlich. Meine Untersuchung wurde während meiner Festnahmedauer völlig ignoriert. Die Aussage, dass in unserem Atelier eine Bombe gefunden wurde, ergab sich auch erst nach meiner Festnahme. Über meine Person wurde eine Drohung an viele Soziologen, Forscher, Intellektuelle ausgesprochen. Was war das für ein Atelier? In diesem Atelier wurden aus Müll Kunstwerke hergestellt, sozusagen als Lektion an die Konsumgesellschaft. Eine Bombe wurde dort nicht sichergestellt, ich möchte, dass das alle wissen. Ich habe mit den Menschen außerhalb meiner Forschung keine Beziehung gepflegt. Eine Werkstatt, die gegen jede Form von Gewalt kämpft, ist terrorisiert worden. Dieser Ort war bekannt. Hier arbeiteten Leute, die aus der Gesellschaft ausgegrenzt wurden. Hinterzimmer gab es nicht und die Tür stand offen. Normalerweise mögen die Diebe keine Klebstoffschnüffler und beide mögen keine Transvestiten, aber wenn ihnen gesagt wurde, das sind alles Freunde von Pinar, dann bemühten sie sich umeinander und versuchten, die gegenseitige Diskriminierung zu überwinden. Während des Prozesses kam einer von ihnen und sagte zum Richter, was soll das für eine Bombe sein, Pinar hat nicht einmal zugelassen, dass Klebstoff dorthin mitgebracht wurde. Ich sagte ihm, er solle nicht kommen, weil er Ärger kriegen könnte, und er antwortete: „Ich bin doch nicht gekommen, um Dich zu verteidigen, sondern mein Atelier.“ Was haben Sie gesehen, wenn Sie diese Menschen angeguckt haben? Was haben Sie gesucht? Es war wie ein Blick in den Spiegel. Ich habe mich selbst gesehen. Im Blick auf diejenigen, die „anders“ sind, kann der Mensch sich selbst besser sehen und versuchen, sich selbst zu begreifen. Haben Sie Angst, Pinar? Ich habe Angst, aber die Angst beherrscht mich nicht. Meine Neugier, mein Interesse waren immer stärker als meine Angst. Ich lebe mit der Angst wie mit dem Schmerz. Bei der Folter werden die Stromschläge bei jedem Menschen an einem anderen Körperteil eingesetzt. Bei mir haben sie es am Kopf gemacht und es war sehr hart, wie eine Schocktherapie. Zu jener Zeit las ich über Geisteskranke und über das, was mit Verrückten gemacht wird. Ich las Foucoult. Innerhalb der letzten sieben Jahre haben Sie außerdem einen sehr schweren Autounfall überlebt. Was hat sich dadurch geändert? Nach dem Unfall bin ich neu geboren. Es ist eine sehr außergewöhnliche Sache, dem Tod so nahe zu kommen. Wir sagen immer, dass das Leben kurz ist, aber wir leben, als ob wir niemals sterben würden. Ohne den Tod kennen zu lernen, fühlt man das Leben leider auch nicht ganz. Ich habe zum Beispiel das Meer immer sehr geliebt. Früher habe ich oft lange auf das Meer geschaut, aber wenn ich jetzt das Meer betrachte, fließt es in mich… Ich weiß jetzt, dass das Leben sehr kurz ist. Unnötige Dinge werfe ich über Bord und erleichtere damit mein Leben. Zurück bleiben die Dinge, die es wirklich wert sind. Der größte Schmerz in meinem Leben war der Verlust meiner Mutter. Jeder Mensch glaubt, dass seine Mutter unsterblich ist. Wenn sie dann plötzlich geht, fehlt einem der Halt. Diesen Schmerz fühlt man bei jeder Bewegung und jedem Atemzug. Quelle: Sabah, 30.04.2006, ISKU
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