Verteidigung Pinar Seleks in der Verhandlung am 17. Mai 2006:
Diesen in juristischer Sprache “Verteidigung” genannten Text lege ich Ihnen nicht vor, um mich gegen verschiedene Anschuldigungen zu verteidigen, sondern um zu erzählen, wie ich meine Würde, meine Persönlichkeit, meine Beziehung zum Leben und meine Suche nach Freiheit gegen den seit langer Zeit andauernden Druck verteidigt habe. Seit mich im Komplott des Misir-Basars wiedergefunden habe, befinde ich mich in einer Verteidigungsposition. Jetzt werde ich versuchen, Ihnen kurz zu erklären, was ich wie verteidigt habe. Die Frage, wie ein freies, ethisches, glückliches Leben möglich sein, beschäftigt mich seit meiner Kindheit. Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, die Gesellschaft und mich selbst zu verstehen und meine Freiheit zu erweitern, habe ich Soziologie studiert. Mit dieser Suche ich versucht, meinen Weg zu finden, indem ich während meiner Studienzeit das Verhältnis zwischen Information und Macht, die Institutionalisierungsformen der Wissenschaft, unantastbare Heiligtümer, Sprache und Verhaltensmuster hinterfragt habe. Ich habe um jedes Wort gerungen, das ich neu gelernt habe und mich sehr angestrengt, um eine Antwort auf meine Fragen zu finden. So habe ich auch einen sehr guten Universitätsabschluss bekommen. Am 14. April 1999 habe ich in meiner Verteidigung vor diesem Gericht ausgehend von dem Flaubert-Zitat “Ein Soziologe muss natürlich in das Leben vieler Menschen hineingehen und versuchen, Gefühle, die er niemals gefühlt hat, und Menschen mit verschiedenen Erfahrungen zu verstehen” in Anlehnung an Bourdieu erklärt: “Ich möchte in das Leben vieler verschiedener Menschen eintauchen, also mit diesen Menschen sprechen und eine Beziehung zwischen den Subjektivitäten knüpfen.” Meine Universitätszeit, die ich aus dieser Motivation heraus begann, verbrachte ich deshalb auch nicht in der Mensa oder auf den Korridoren der Universität, sondern im Leben. Ich habe immer das Unberührbare angetastet und versucht, auf meine eigene Art das Dunkel zu beleuchten. Ich war davon überzeugt, dass Soziologen wie Ärzte über die Fähigkeit verfügen müssten, gesellschaftliche Wunden zu heilen. Als ich meine Untersuchung zur Diskriminierung von Transvestiten in Istanbul abgeschlossen und daraus meine Diplomarbeit entstanden war, konnte ich diese Menschen, deren Probleme ich geteilt hatte, nicht einfach fallenlassen. Das habe ich auch nicht getan. Mit Menschen, die ich bei verschiedenen Untersuchungen kennen gelernt hatte und die verschiedenen Diskriminierungsmechanismen ausgesetzt waren, haben wir gemeinsam eine Werkstatt eingerichtet: Das Atelier der StraßenkünstlerInnen. Die Darstellung dieses Ateliers als ein Waffenlager war furchtbar. Niemals hätte eine Bombe in unsere Werkstatt kommen können. Im Gegenteil waren wir darum bemüht, an diesem kleinen Ort jede Form von Gewalt zu überwinden und durch Gewalt entstandene Wunden zu heilen. Diese wertvolle Arbeit muss rehabilitiert werden, nicht nur für mich oder die anderen Menschen aus dem Atelier, sondern für die Gesellschaft. Unser Atelier, das mit fürchterlichen Anschuldigungen beschmutzt wurde, war wie ein Garten der Liebe. Menschen, die von der Gesellschaft auf den Müll geworfen waren, sammelten verwertbare Gegenstände aus Mülltonnen und machten aus ihnen in dieser Werkstatt Kunstwerke. Als Menschen, die zunächst nicht wussten, wie sie gemeinsam arbeiten und dem Druck und der Diskriminierung standhalten sollten, erwachten wir mit dieser Kunst zu neuem Leben, brachten Blüten hervor und schlugen Wurzeln. An diesem winzigen Ort entstanden Masken, Vasen aus Schlamm, Büsten aus Gips und Bilder. Unser Straßentheater wurde innerhalb kurzer Zeit bekannt und gefragt. Wir fingen an, die Kunstwerke aus unserem Atelier auf der Straße auszustellen. Und wir gaben eine Zeitschrift heraus, die wir “Misafir” (Besuch) nannten. Viele Menschen schrieben für diese Zeitschrift und ebenso viele sorgten für den Vertrieb. Damals hieß es ständig, es gebe keine Gastfreundschaft mehr, Fernsehen und Stadtleben hätten die Tradition des Besuches zerstört. Und wir sorgten dafür, dass Menschen, deren Stimmen nicht gehört wurden, über die Zeitschrift Gast in den Häusern anderer wurden. Wir hatten eine Auflage von 3000, die aufgrund unserer guten Beziehungen auf der Straße innerhalb kurzer Zeit vergriffen war. Unser Atelier war winzig, aber mit der hier herrschenden Produktivität stieg seine Wirkung. Jeden Tag kamen Dutzende Menschen, die Tür stand immer offen und nachts schliefen manchmal obdachlose Transvestiten oder Straßenkinder dort. Gleichzeitig war es ein Ort der Begegnung und des Zusammenkommens. Wer auch immer irgendein Problem hatte, kam bei uns vorbei. Menschen, die aufgrund ihrer eigenen Diskriminierung aggressiv geworden waren, lernten in unserem Atelier sich selbst und anderen zu vertrauen. Aufgrund der Kraft, die die Kunst und das Teilen hervorbrachte, hörten einige auf, Klebstoff zu schnüffeln und andere, sich zu prostituieren. Und dann passierte es. Gerade, als wir anfingen, Wurzeln zu schlagen, geriet ich in dieses berühmte Komplott und wurde sogar Hauptdarstellerin darin. Das Komplott um den Misir-Basar war vor allem ein Angriff auf [...] unser Atelier. Als dieser Raum mitten in Beyoglu, dessen Tür immer offen stand und wo ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, plötzlich als Bombenwerkstatt gebrandmarkt und die dort am einflussreichste Frau als Bombenlegerin vorgeführt wurde, wurde auch die Hoffnung dieser Menschen zerstört, die immer mit Gefahren zu kämpfen hatten. Angesichts dieses Terrorangriffs waren diese Menschen, die ohnehin ständig von Gewalt betroffen waren, aber gemeinsam versuchten, eine gewaltlose Existenz aufzubauen, gezwungen, auseinander zu gehen. Als ich im Gefängnis war, kam mich eine Transvestitin besuchen und sagte: “Ein Traum kann eben nicht ewig dauern. Unserer hat schon lange gedauert. Ich habe immer gesagt, irgendetwas wird passieren, das kann nicht lange gut gehen. Aber so etwas habe ich natürlich nicht erwartet. Ich habe viel erlebt und gedacht, dass ich mich an alles gewöhnt habe, aber ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich jemals etwas so sehr erschüttert hat. Sie haben das beschmutzt, was für uns von größter Reinheit war. Als ob sie unser Baby ermordet haben. Das Leben ist fürchterlich. Wenn man versucht, etwas Gutes zu tun, ziehen sie es in den Schmutz. Es gibt keinen Ausweg und keine Rettung. Ich habe Angst.” Die Arbeits- und Lebensbedingungen meiner Transvestitenfreundin, die mir das sagte, befanden sich immer am Rande zum Tod. Sie hätte eines Nachts auf der E5 [Stadtautobahn in Istanbul, an der Prostitution betrieben wird] oder an einem anderen Ort durch einen Messerstich sterben und liegen bleiben können. Trotzdem ließen sie mich nie im Stich. Und nicht nur sie. Die Straßenkinder als die aktivsten Mitarbeiter des Ateliers der StraßenkünstlerInnen kamen vom ersten Prozesstag an immer zum Gericht. Und das war nicht einfach für sie. Denn diese Kinder, die praktisch immer auf der Flucht sind, flüchten genau wie die Transvestiten am meisten vor der Polizei. Trotzdem stellten sie sich als Zeugen für mich zur Verfügung und sagten: “Pinar hat nicht mal zugelassen, dass Klebstoff ins Atelier kommt”. Ich habe ihnen übermitteln lassen, dass sie nicht zur Verhandlung kommen sollen, weil ich Angst davor hatte, sie könnten dafür bestraft werden. Aber sie hörten nicht auf mich. Eigentlich wollten sie nicht mich, sondern ihre Werkstatt verteidigen. Sie taten alles, was ihnen möglich war, damit die Liebe, die wir dort erschaffen hatten, nicht beschmutzt wurde. Unsere Liebe wurde nicht beschmutzt, aber die Werkstatt wurde aufgelöst. Ich denke darüber nach, in welcher Hinsicht das Komplott um den Misir-Basar am meisten Schaden angerichtet hat. Meinen schönsten Jahren, meiner Zukunft? Vor allem hat dieses Komplott meiner Mutter das Leben gekostet. Zweitens ist damit das Atelier der StraßenkünstlerInnen dermaßen zerstört worden, dass es sich nicht mehr neu aufbauen lässt... Und wie war das für mich? Ich lernte, dass das Spiel Regeln hat. Wenn du versuchst, die Codierung laut auszusprechen, wirst du als Schuldige deklariert. Darüber hinaus kann es ja auch nicht sein, dass deine Schuld darin besteht, dass du mit lauter Stimme sprichst. Somit wird dir eine Haltung zur Last gelegt, gegen die du immer gekämpft hast. Wenn du zum Beispiel eine Nonne bist, wirst du der Prostitution beschuldigt. Wenn du ein Mensch bist, der sein Leben der Aufgabe widmet, die Werte des Islam lebendig zu halten, wird dir ein Schild mit der Aufschrift “Alkohol-“ oder “Drogenhändler” umgehängt. Oder du wirst als Antimilitaristin eines Bombenanschlages bezichtigt. Und das findet auf dermaßen kriminelle Weise statt, dass du in eine Verteidigungsposition gedrängt wirst. Während du dich also eigentlich gerade mit einem bestimmten Brennpunkt beschäftigst, fängst du an, dich um dich selbst zu kümmern. Die Anschuldigungen wiederholen sich permanent. Auch wenn es sich dabei nur um Behauptungen handelt, bleibt die Schmutzspur an dir hängen und jeder, der dich anguckt, erinnert sich daran. Das ist der Punkt, an dem du nicht wie früher mit deiner alten Identität weiter machen kannst. Du wirst nicht der Gedankenschuld bezichtigt. Deine Schuld fällt auch nicht in den Rahmen des Kampfes für den Frieden. Die Kriegsorganisation terrorisiert dich und führt dich mit einer neuen Identität einem Millionenpublikum vor. Auch ich bin an den Regeln dieses Spiels hängen geblieben. Ich habe vermutet, dass ich aufgrund meiner Forschung Schwierigkeiten bekommen könnte und vielleicht sogar vor Gericht gestellt werde. Das habe ich in Kauf genommen. Aber ich konnte nicht ahnen, dass ich in ein derartig unmenschliches Komplott geraten würde. Als ich festgenommen wurde, sollte ich zunächst die Namen derjenigen nennen, mit denen ich im Rahmen meiner Untersuchung gesprochen hatte. Das habe verweigert und gesagt, dass ich seit Jahren Untersuchungen zu Menschen mache, die als potentiell Schuldige gelten und diese Informationen niemals der Polizei übermittelt habe. Zu jenem Zeitpunkt untersuchten sie meine Forschungsarbeit. Dann vernichteten sie plötzlich diese Arbeit und verwandelten sie in eine Bombe. Sie behaupteten, ich hätte während meiner Untersuchung den Militanten geholfen und ihre Bombe versteckt. Sie haben damit aus einer antimilitaristischen Arbeit eine Bombe gemacht. Sie sagten, dass im Atelier – das sie für meinen Arbeitsplatz hielten – und bei mir Sprengstoff gefunden worden sei und intensivierten die Folter. Es ist schwer für einen Menschen, von der erlebten Folter zu berichten. Aber ich denke, dass ich es hier tun muss. Durch den Palästinenserhaken wurde mein Arm ausgerenkt, sie renkten ihn mir auf brutale Weise wieder ein. Sie ließen mich fast überhaupt nicht schlafen. Die Folter an meinem Kopf war nicht anders als die Schockbehandlung, die Geisteskranke erleiden müssen. Es mag romanhaft erscheinen, wenn eine Frau, die sich so intensiv mit dem Thema “Intelligenz und Verrücktheit” beschäftigt hat, einer solchen Schockbehandlung ausgesetzt wird, aber es war sehr schwer, es zu ertragen. Die größte Folter war die Drohung, falls ich nicht das täte, was sie wollen, die Straßenkinder und die Transvestiten zu holen, sie zu foltern und vor den Medien bloß zu stellen. Um mich so schnell wie möglich aus ihren Händen zu retten, unter besseren Bedingungen zu kämpfen und damit niemandem aus meiner Umgebung Schaden zugefügt wird, habe ich eine Aussage unterzeichnet, dass ich den Menschen, die Gegenstand meiner Forschung waren, geholfen hätte. Diese Aussage belastete nur mich selbst und war so schwachsinnig, dass ich wusste, dass sie nicht standhalten konnte. Ich kann mich kaum daran erinnern, wie ich ins Gefängnis gebracht und dem Staatsanwalt vorgeführt wurde. Aber das Gefühl, bloß weg zu wollen, habe ich noch im Gedächnis. Denn die Absurdität der Anschuldigungen gegen mich war offensichtlich. Ich war sicher, dass sich alles klären würde. Die Werkstatt war nicht meine Arbeitsstelle. Es war ausgeschlossen, dass sich dort eine Bombe befindet. Und so stellte sich auch nach kurzer Zeit heraus, dass der Sprengstoff, der angeblich im Atelier gefunden wurde, sich zuvor in der Hand der Polizei befand. Aber die an diesem Komplott Beteiligten waren beharrlich. Ein Monat, nachdem ich ins Gefängnis gekommen war und dachte, ich käme bald raus, sah ich im Fernsehen Aufnahmen von mir selbst. Das Szenario war größer geworden und ich zur Hauptakteurin. Die Explosion im Misir-Basar sollte ein Anschlag gewesen sein und Pinar die Attentäterin. Während ich mich selbst auf dem Bildschirm sah, fühlte ich mich wie jemand, der im Nichts schwimmt. Dann folgte eine Anschuldigung nach der anderen. Als Resultat von Aussagen verschiedener Menschen wurde versucht, mir während ich im Gefängnis war, einen mafiaartigen Mord und weitere Bombenanschläge anzuhängen. Menschen, die über Folter dazu gebracht wurden, Aussagen zu unterzeichnen, erzählten vor Gericht, welchem Druck sie ausgesetzt wurden. Aber auch das konnte nicht verhindern, dass ich mit einer Reihe von wilden Anschuldigungen konfrontiert war. Der schmerzhafteste Teil dieses Szenarios war die Tragödie der Überläufer. Wir alle konnten im Verlauf dieses Prozesses verfolgen, was aus diesen Menschen wurde. Meiner Meinung nach sind sie die größten Opfer dieses Prozesses. Die Vernichtung meiner Untersuchung war schmerzhaft für mich. Aber noch schmerzhafter war es, dass durch die Bestrafung einer Haltung, die sich darum bemühte, die bestehenden Wunden zu schließen, eine Drohung gegen alle folgenden Anstrengungen einer Analyse und Behandlung ausgesprochen wurde. In meiner Person wurde allen Frauen und Männern, die nach einer unabhängigen Haltung suchen, ein Warnhinweis gegeben. Der Zeigefinger wurde gegen Soziologen, Sozialwissenschaftler und Aktivisten erhoben. Ich wurde als Symbol erwählt. Und wie ich widerstanden habe? Wie ich mich verteidigt habe? Die Beamten, die mich ins Gefängnis brachten, erklärten beharrlich, ich werde in Kürze Selbstmord begehen und auch meine Mutter werde sterben. Als ich mich dann zwischen vier verschlossenen Wänden befand, dachte ich darüber nach, was das bedeuten sollte. Die folgenden Entwicklungen machten mir die Absicht hinter diesen Worten deutlich. Aber sowohl ich als auch meine Mutter waren dem Leben verbunden. Ich war in so viele Anschuldigungen und kriminelle Fälle hinein gezogen worden, dass ich daran erstickt wäre, wenn ich mich darauf eingelassen hätte. Ich tat es nicht. Bei der ersten Gerichtsverhandlung erklärte ich: “Wenn die Explosion im Misir-Basar von einer Bombe verursacht worden ist, dann handelt es sich dabei ein Verbrechen an der Menschheit. Aber auch die Anschuldigungen, denen ich ausgesetzt bin, sind ein Verbrechen.” Ich wies alle Anschuldigungen zurück und versuchte, meine Arbeit auch im Gefängnis fortzusetzen. Mir gelang es, zu leben, ohne unter den psychischen Einfluss des Gerichts und der damit verbundenen Themen zu geraten. Ich weiß nicht, wie ich erzählen soll, wie es war, zweieinhalb Jahre in einer Frauenzelle zu sitzen. Ich erinnere mich, dass ich mit mir selbst konfrontiert war, dass sich meine Bedürfnisse und das, was ich tun wollte, heraus kristallisierte, dass ich ein geistiges und emotionales Durcheinander und gleichzeitig eine Vereinfachung erlebte. Die zweieinhalb Jahre im Gefängnis sind zu einem Gewinn für mich geworden. Zwar konnte ich das meiste, was ich dort geschrieben habe, nicht mit raus nehmen, und ich weiß auch nicht, was daraus geworden ist, aber das Schreiben hat mir Kraft und Potential gegeben. Ich weiß von dem Schmerz, den in der Vergangenheit viele Philosophen und Denker erlitten haben. Manchmal muss der Mensch es in Kauf nehmen, für die Wahrheit verdammt zu werden. Das werte Gericht wird sich daran erinnern, dass ich mich in den ersten Verhandlungstagen mit den Frauen verglichen habe, die im Mittelalter als Hexen verbrannt wurden. Aber es ist eine schreckliche Sache, wenn ein Mensch, der gegen Gewalt ist und sein Leben dem Kampf gegen Gewalt, Militarismus und alle Kriege gewidmet hat, der Gesellschaft als Attentäter präsentiert wird. Und das schlimmste ist, dass ich zu einem Menschen wurde, der die Aufmerksamkeit der Medien hervorruft. Wenn ein Mensch sich dauernd erklären muss, leidet darunter seine Freiheit, seine Besonderheit und sein Verhältnis zur Realität. Das war leider auch bei mir der Fall... Nachdem ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, legte ich mir nicht die Rolle des braven Mädchens zu. Ich ließ es nicht zu, dass dieser Prozess mein Leben lenkt. Direkt vor dem Gefängnistor kündigte ich an, meinen Kampf für Frieden fortzusetzen. Wenn schon eine winzige Bemühung für den Frieden meinerseits bestraft werden sollte, dann war es allein schon aus Achtung vor mir selbst notwendig, diese Bemühungen zu erweitern. Es waren die Untersuchungen, die ich anstellte, bevor dieses Komplott gegen mich gerichtet wurde, die meinem Leben die weitere Richtung geben sollten. Dieses Mal wurde ich direkt und indirekt bedroht. Als sich vor diesem Gericht herausstellte, dass alle Anschuldigungen gegen mich Blödsinn waren, ging die Leidenschaft, mich in irgendeiner Form zu verurteilen, weiter. Jüngstes Beispiel war die Heranziehung eines Artikels in der Zeitung Milliyet als Beweismittel, obwohl sogar der Chefredakteur dieser Zeitung ein langes Entschuldigungsschreiben bezüglich dieses Artikels veröffentlichte. Sie wissen besser als ich, wie solche Meldungen entstehen. Die Zulassung eines Artikels als Beweismittel, der von der Zeitung selbst als ungültig erklärt wird, zeigt auf, mit welcher Erfolglosigkeit versucht wird, das Komplott aufrecht zu erhalten. Aber ich habe trotz allem angesichts dieses Komplotts keine Niederlage erlitten. Mein Geheimnis war die Liebe. Vor allem meine Familie hat immer mit grenzenlosem Vertrauen und viel Arbeit hinter mir gestanden. Mein Vater arbeitete vom ersten Tag an mit seiner Pfeife in der Hand wie ein Detektiv. Ich vermute, dass er die gleichen Schwierigkeiten dabei hatte wie ein Chirurg, der seine eigene Tochter operieren muss, aber er hat es sich nie anmerken lassen. Ich habe seine Hand stets auf meiner Schulter gefühlt. Meine Mutter war eine Frau der Republik, und vor allem deshalb litt sie besonders unter dem, was mir zugestoßen war. Sie, die zuvor glaubte, sie müsste sterben, weil ihr Telefon abgehört wurde, stellte sich angesichts dieses angsteinflößenden Angriffs trotz ihrer schweren Herzprobleme schützend vor ihre Tochter. Sie ging von Tür zu Tür und wurde zu einer Brücke zwischen ihrer Tochter im Gefängnis und der Gesellschaft. Aber nach meiner Haftentlassung erlag sie ihrer Herzschwäche. Weil sie das letzte staatsanwaltschaftliche Plädoyer nicht mehr hörte, verließ sie uns nicht im Schmerz, sondern mit dem Gefühl der Gerechtigkeit. Meine Schwester, die eine gute Managerin war, änderte für mich ihr Leben. Als sie von der Anklage gegen mich hörte, kam sie sofort ins Gefängnis und kündigte an, auf juristischem Weg für mich zu kämpfen und Anwältin zu werden. Und tatsächlich ließ sie ihre Arbeit sausen, in der sie sehr erfolgreich war, studierte Jura und wurde meine Anwältin. Die Kraft der Liebe macht den Menschen auch angesichts größter Schwierigkeiten widerstandsfähig. Ich habe mir meine Widerstandskraft insbesondere dank meiner Familie bewahrt. Aber es war nicht nur meine Familie. Mein Vater war in seinem juristischen Kampf nie allein. Die Juristen, die mich seit sieben Jahren verteidigen, haben mit größter Selbstlosigkeit gearbeitet und dafür gesorgt, dass mir mein Glauben an das Recht erhalten geblieben ist. Aus meinem gesamten Umfeld, insbesondere von meinen Freundinnen, habe ich die ganze Zeit Unterstützung bekommen. Ich habe eine solche Solidarität erfahren, dass meine Hoffnung in den Menschen stets lebendig geblieben ist. Meine ehemaligen Lehrer haben an das Gericht geschrieben, was sie über mich denken. Nach der letzten Verhandlung haben die wichtigsten Künstler und Denker der Türkei und Tausende weitere Menschen eine Erklärung abgegeben, dass sie Zeugen dafür sind, dass Pinar Selek eine Gewaltgegnerin ist. Ich bedanke mich bei meiner Familie, den Juristen, meinen Freunden, den Frauen und allen aufrichtigen Menschen dafür, dass sie mir über acht Jahre hinweg dabei geholfen haben, auf den Beinen zu bleiben. Ich habe mich selbst geschützt und gegen das Verdammtwerden meine Existenz verteidigt. Dieses Komplott hat mich nicht geschwächt, aber in Bezug auf unser Land hat es der Wiederholung der Geschichte gedient. Meine Untersuchung, die mir weggenommen wurde, diente trotz ihrer Mangelhaftigkeit der Suche nach einem Weg, unsere bestehenden Probleme fern von der nationalen Sicherheitspolitik zu analysieren. Ob richtig oder falsch, das ist ein anderes Thema. Aber wenn ein Phänomen real existiert, dann muss diese Realität in ihrer Tiefe definiert werden. Folgendes sollte nie vergessen werden: “Wenn alles klar wäre, bräuchten wir keine Wissenschaft”. Ein herunter gefallener Apfel verweist bei wissenschaftlicher Betrachtung auf viele Realitäten, von der Wurzel des Baumes über den Wind bis zur Erde. Auch die Gewalt, die wir in den letzten zwanzig Jahren erlebt haben, müssen wir in dieser Weise angehen. Eine Überwindung der Probleme hängt davon ab, sie zunächst zu begreifen. Um sie zu begreifen, muss man sie untersuchen. Ich bin davon überzeugt, dass es uns mit der kleinsten gutwilligen Anstrengung besser gehen kann. Aber wir kommen zu keinem Ende. Und wir sehen lediglich dabei zu, wie unser Wasser verschmutzt und uns die Luft ausgeht. Die Vorfälle vom 6. und 7. September sind uns noch im Gedächtnis... Die Schuld wurde den Kommunisten zugesprochen und im ganzen Land begann die Internierung von Kommunisten. Selbst Aziz Nesin wurde aus diesem Grund verhaftet. Vor dem Yassiada-Gericht stellte sich heraus, dass dieses Grauen von der damaligen politischen Macht organisiert worden war. Und was passierte? Die Linke wurde für eine Weile zum Schweigen gebracht und dazu gezwungen, sich selbst zu verteidigen. Das war schon immer so. Die Opposition wurde ständig mit haltlosen Anschuldigungen gebrandmarkt, um sie daran zu hindern, Rechenschaft zu fordern. So wurde sie dazu gezwungen, selbst Rechenschaft abzulegen. So wie Orhan Veli gesagt hat: Du sprichst vom Hunger Hochachtungsvoll, PINAR SELEK Übersetzung aus dem
Türkischen von ISKU
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