Der Tagesspiegel, 18.12.2006 Der Liebe Tod Weil die Türkei Ehrenmorde härter bestraft, drängen Angehörige die Frauen nun zum Selbstmord Von Tobias Zick, Diyarbakir Die junge Frau, ihr Name tut hier nichts zur Sache, war 16 Jahre alt, als sie zum ersten Mal so etwas wie Geborgenheit und Zärtlichkeit erlebte. Ihr Liebhaber war Mitte 30, ein Familienvater aus der Nachbarschaft. Eines Tages werde er sie heiraten, versprach er; sie von ihrer Familie befreien, in der sie immer das ungeliebte Kind war; von ihrem Vater, der sie wegen Nichtigkeiten schlug. Als sie die Heimlichtuerei nicht mehr ertrug, fasste sie sich ein Herz. „Dieser Mann liebt mich, und ich liebe ihn“, sagte sie zu ihrer Mutter. „Ich möchte, dass ihr mich mit ihm verheiratet.“ Die Familie zögerte nicht lang. „Du wirst sterben“, verkündete ihr Vater, „du bist unwürdig, ein Nichts, du hast unsere Ehre verletzt“. Den Großteil der folgenden Wochen verbrachte sie eingesperrt im Keller. Ab und zu kam jemand die Treppe herab. Ihr kleiner Bruder, um sie zu schlagen. Der Vater, um sein Todesurteil zu bekräftigen. Als ein Frauenzentrum ihr Unterschlupf gab, alarmiert durch den Liebhaber aus der Nachbarschaft, war sie kurz davor gewesen, sich zu erhängen. „Der Trend geht dahin, die Frauen in den Selbstmord zu treiben”, sagt Cigdem Karahan, Psychologin im Frauenberatungszentrum Epi-Dem in der südostanatolischen Stadt Diyarbakir. Auf Druck der Europäischen Union hat die Türkei im Jahr 2005 die Gesetze verschärft: „Ehre” als Mordmotiv gilt nicht länger als strafmildernd, die Mörder müssen nunmehr mit lebenslanger Haft rechnen, auch wenn ein minderjähriger Bruder oder Cousin das Messer ansetzt. Menschenrechtler loben solche Fortschritte. Doch seitdem die neuen Gesetze in Kraft sind, greifen rachsüchtige Angehörige zu anderen Methoden, um die Familienehre wiederherzustellen – ohne sich selbst die Hände mit Blut zu beflecken. Yakin Ertürk, Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen, ist im Mai diesen Jahres vor Ort einer Frage nachgegangen: Warum nehmen sich im Osten der Türkei deutlich mehr Frauen als Männer das Leben, während es im Rest der Welt umgekehrt ist? Zumindest bei einem Teil der Fälle, sagte sie nach ihrer Recherche, dürfte es sich um erzwungene Selbstmorde handeln – oder um „getarnte Ehrenmorde”, wie bei jener jungen Frau, die sich vermeintlich aus Verzweiflung von einem Hochhaus gestürzt hatte, in deren Körper man später aber eine Kugel fand. Die Mehrheit der Frauen in der Region, schreibt Yakin Ertürk, lebe in einem patriarchischen System, das sich „oft auf verzerrte Auffassungen von Ehre gründet. Verschiedene Arten der Gewalt werden gegen Frauen angewandt, die gegen diese Ordnung verstoßen. Selbstmorde von Frauen in der Region müssen in diesem Kontext gesehen werden.” Mit einfachen Worten: Die einen werden in den Selbstmord getrieben, die anderen flüchten von sich aus in den erlösenden Tod. In der Stadt Batman brachte sich im Oktober eine 18-Jährige um, weil ihre Familie sie mit einem 65 Jahre alten Mann verheiraten wollte; sie wäre seine Drittfrau geworden. Frauen in der Türkei leben in einer „Kultur der Gewalt”, heißt es in einem Bericht von Amnesty International. Exakte Zahlen seien kaum zu ermitteln, schreibt die Menschenrechtsorganisation. Man könne aber davon ausgehen, dass ein Drittel bis die Hälfte der türkischen Frauen in der Familie geschlagen und vergewaltigt, mitunter umgebracht oder zum Selbstmord gezwungen würden. Was „namus”, die Ehre, im einzelnen bedeutet, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten. Die Ehre der Familie verletzen kann eine Frau, indem sie auf der Straße einen fremden Mann anschaut, einen Rock trägt oder mit einer Freundin ins Kino geht. Oder indem sie vergewaltigt wird. Um einen Vergewaltigungsfall in der Familie zu bewältigen, gebe es drei gängige Alternativen, sagt Cigdem Karahan: Man bringt die Frau um, man treibt sie in den Selbstmord, oder man verheiratet sie mit ihrem Vergewaltiger. Dass Gewalt gegen Frauen besonders im kurdischen Südosten des Landes verbreitet ist, hat viel mit Armut und Vertreibung zu tun. In den 90er Jahren, während der Kämpfe zwischen türkischer Armee und kurdischer PKK, zerstörte das Militär mehr als 3000 Dörfer. Über zwei Millionen Menschen flüchteten, die meisten davon in die Großstädte. Die Kurdenmetropole Diyarbakir etwa schwoll zwischen 1991 und 1996 von 380 000 auf 1,3 Millionen Einwohner an. Viele leben nun in so genannten „gecekondu“, hastig errichteten Baracken. Die Arbeitslosigkeit liegt um die 70 Prozent. „Unter solchen Bedingungen”, sagt Cigdem Karahan, „gedeiht die Gewalt”. Waren die Frauen früher in Dorfgemeinschaften integriert und ins Arbeitsleben eingebunden, bleiben sie nun im Haus. Bewegten sich die Frauen früher frei im Dorf und auf den Feldern, leben sie nun in engen vier Wänden, mit Männern, in denen sich Wut und Verzweiflung über die perspektivlose Lage stauen. Einige Fortschritte in jüngerer Zeit machen den Frauenrechtlerinnen Mut: der Druck seitens der EU, die neuen Gesetze. Auch türkische Medien diskutieren Gewalt mittlerweile offen. Die Polizei forscht heute etwas genauer nach den Hintergründen von Frauenselbstmorden, die Regierung lässt Fernsehspots gegen Ehrenmorde schalten. Gleichzeitig droht ein anderes Projekt der türkischen Regierung die Lage der Frauen im kurdischen Südosten abermals zu verschärfen: Der geplante Ilisu- Damm, 135 Meter hoch und 1820 Meter lang, soll den Tigris kurz vor der syrischen Grenze zu einem gewaltigen See aufstauen. Heimatdörfer oder Felder von mindestens 54 000 Menschen werden im Fluss untergehen. „Der Damm dürfte eine neue Vertreibungswelle auslösen”, sagt Handan Coskun, Leiterin des städtischen Zentrums zur Untersuchung von Frauenfragen. „Diyarbakir ist die größte Stadt in der Region”, sagt sie, „ein großer Teil der Frauen wird hierherkommen. Und dieser Frauen werden wir uns annehmen müssen.”
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