Reportage über RechtsanwältInnen aus der Beilage Arti Gündem der Zeitung Yeni Gündem vom 20.1.01 von Evrim Alatas Was die Träume preisgeben Wenn wir ihnen begegnen, haben sie gesammelte Akten unter dem Arm, tragen
Roben mit hohen Kragen, die das kalte Gesicht der Justiz widerspiegeln
und jonglieren mit Begriffen wie Schuld und Unschuld, Tod und Freiheit. 'Du erlebst grosse Verletzungen' Die Anwältin Gülseren Yoleri ... sie beginnt das Gespräch, indem sie die Besonderheit hervorhebt, die es bedeutet, in politischen Prozessen tätig zu sein. Denn dabei geht es nicht nur ums Gewinnen oder Verlieren, sondern um die unmittelbare Zuständigkeit für das, was der Mandant erleben wird, wenn er ins Gefängnis kommt. Sie sagt: "Man wird zu Verwandten. Deshalb fühlst du dich, wenn ein Mandant oder eine Mandantin stirbt, als ob du eine Schwester oder einen Bruder verloren hättest." Sie erzählt, wie sie 1996 mitansehen musste, wie ihre MandantInnen langsam starben und fährt fort: "In Ankara hatte ich einen sehr jungen, voller Hoffnungen steckenden Mandanten. Sein Blick wurde langsam trübe und ich habe ihn verloren." Weiter klagt sie darüber, dass sie den Widerspruch zwischen dem Wunsch nach einem besseren Leben und der Wahl des Todes nicht bewerten können und gezwungen sind, das Sterben mit gebundenen Händen zu beobachten. Sie erzählt: "Du erlebst grosse Verletzungen. Z.B. war ich bei der Autopsie von Süleyman Yeter anwesend. Jeden Schmerz, den ich an seinem Körper gesehen habe, habe ich dort genauso erlebt. Als ob die Wunden dort, in jenem Moment entstanden wären. Als ob er die Schmerzen in dem Augenblick erleiden würde. Tagelang habe ich gedacht, wenn ich meine Hände angeguckt habe, dort die Spuren zu sehen, die er an Händen und Armen hatte. Du stürzt sozusagen ab für einen Moment, aber du musst dich zusammenreissen." 'Vor zwei Tagen habt ihr doch noch gemeinsam Tee getrunken' Einer der Anwälte, der viele MandantInnen bei der Operation gegen die Gefängnisse verloren hat, ist Behiç Asçi. Er spricht von der Beziehung, die er zu seinen MandantInnen aufbaut, als von einer, die über die Anwalt-Mandant Beziehung hinaus eine menschliche Dimension gewinnt. Er sagt: "Sie sind Menschen, die wir kennen, und sie sterben ... sie lösen sich vor unseren Augen auf." Wir fragen ihn, wie es ist, einen Mandanten zu verlieren. "Es ist der Schmerz, den du fühlst, wenn du einen Menschen verlierst. Du verlierst einen Freund, eine Freundschaft, in der du vieles geteilt hast. Bei der Autopsie ... vor dir liegt eine Leiche, mit der du noch vor zwei Tagen Tee getrunken, dich unterhalten hast ... Du betrachtest die Autopsie nicht als gesetzliche Pflicht, sondern als Fortsetzung der Verantwortung, die es zu erledigen gilt, du für deinen Mandanten hast." 'Wenn ihm etwas zustösst ...' Fatma Karatas ist seit zwei Jahren Anwältin. Im ersten Jahr ihrer Anwaltstätigkeit ist sie zur Gerichtsmedizin gegangen. Sie erzählt, dass es schwer war, das zu ertragen: "Es fiel mir sehr schwer, Menschen, die in mein Leben getreten waren, in einem solchen Zustand zu sehen. Ich habe einen Mandanten im Todesfasten. Wenn ich alleine bin, denke ich darüber nach, was ich mache, wenn ihm etwas zustösst. Ob ich stark genug sein werde, um etwas zu organisieren. Ich habe 125 Prozesse, die fortgesetzt werden und in die Urteilsphase kommen. Jede Nacht träume ich. Ich sehe Hinrichtungen durch erschiessen, durch erwürgen, durch erhängen. Manchmal in der Dunkelheit, manchmal im Halbdunkel, alle sprechen kurdisch, oder an einem ganz anderen Ort sprechen alle türkisch usw. ..." 'Wenn doch bloss nicht ...' Gülizar Tuncer ... Sie nahm an einer Protestaktion gegen die Gefängnisoperation teil. Bei der Kundgebung am Taksim erlitt sie durch Schläge ein Schädeltrauma. Auch sie denkt zum Thema Beziehung zwischen Anwältin-Mandantin das gleiche wie die anderen. D.h., vor allem geht es um Menschen ... Sie sagt, dass es bei langandauernden Verhandlungen zu Freundschaften kommt, die das Ausmass der Anwalt-Mandant-Beziehung überschreiten. Auch sie hat bei der Operation MandantInnen, FreundInnen verloren. Auch sie fragen wir danach, wie es ist, eine Mandantin zu verlieren. "Das ist ein grosser Schmerz. Als ob du jemanden aus deiner Familie verlierst. Die Autopsie ist eine so schreckliche Sache, dass du - obwohl es sich um eine Notwendigkeit handelt - denkst, wenn es doch bloss nicht sein müsste. Du bist gezwungen, mitanzusehen, wie ein Mensch, den du gestern noch lebend gesehen hast, mit dem du dich unterhalten hast, von Schüssen durchlöchert oder verbrannt vor dir liegt und sein Körper aufgeschnitten, auseinandergenommen und wieder zugenäht wird. Das ist, mit einem einzigen Wort, beängstigend. Nach Autopsien sehe ich tagelang Leichen im Taum. Während der Zeit der Operation habe ich immer von den Gefängnissen geträumt. Du legst dich mit ihnen hin und stehst mit ihnen auf." (...) |