junge Welt, 11.06.2004

Gerd Schumann

Doch die Skepsis bleibt

Leyla Zana, Hatip Dicle, Selim Sadak, Orhan Dogan freigelassen. Türkei drängt in die EU

Sie sind draußen, endlich! Und sie fielen sich in die Arme, sichtlich erschöpft zwar und müde, gezeichnet von der Haft, doch glücklich, empfingen Blumen von Freunden und reckten dann ihre Arme in die Höhe. Leyla Zana, Hatip Dicle, Selim Sadak und Orhan Dogan waren sich wohl ihres Sieges über die repressive türkische Politik bewußt, als sie am Mittwoch abend nach zehn Jahren aus dem Ulucunlar-Gefängnis von Ankara freikamen.

In der türkischen Hauptstadt und auch in Diyarbakir, der heimlichen Hauptstadt Kurdistans, gab es spontane Jubelszenen. Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen tanzten in den Straßen. Aus Strasbourg, wo rund 15 000 Menschen an einer Demonstration für den gefangenen Ex-PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan teilnahmen, wurden Ohnmachtsanfälle gemeldet. Die Freilassung der Symbolpersonen des kurdischen Freiheitskampfes kam trotz verschiedener Anzeichen im Vorfeld dann doch überraschend. Allerdings war der Zeitpunkt sorgfältig gewählt. Wenige Tage vor den Wahlen zum europäischen Parlament wollten die EU-Beitrittswilligen in Ankara ein demonstratives Signal in Richtung Brüssel schicken. Also gingen am Mittwoch erstmals Programme in der jahrzehntelang geächteten kurdischen Sprache auf Sendung – zusammen mit Ausstrahlungen in Bosnisch, Arabisch und Tscherkessisch.

Diesem als großartiger »Fortschritt« gepriesenen, jedoch seit langem überfälligen Schritt – offiziell sollte bereits vor anderthalb Jahren Kurdisch im Staatsfernsehen und Hörfunk der Türkei gesprochen werden – folgte dann die Entscheidung des Obersten Berufungsgerichts. Es ordnete auf Antrag der Verteidigung von Leyla Zana und den anderen Gefangenen deren sofortige Freilassung an. Und sowohl das offizielle EU-Europa als auch die Regierung der Türkei reagierten prompt in die gewünschte politische Richtung: Für Ankara erklärte zunächst Justizminister Cemil Cicek, daß mit der richterlichen Entscheidung »denjenigen, die gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei nach Vorwänden suchen, der letzte Trumpf aus der Hand genommen« sei. Bisher hatte sich die auf einen EU-Beitritt drängende AKP-Regierung wegen der anhaltenden Inhaftierung der ehemaligen Parlamentsabgeordneten gegen kritische Stimmen verteidigen müssen. Das fällt weg.

Darüber hinaus soll mit der Freilassung der Gefangenen auch die weiter ungelöste kurdische Frage auf europäischer Ebene ad acta gelegt werden. So deutete am Donnerstag Walter Schwimmer, Generalsekretär des Europarats, an, daß die Organisation ihre Beobachtung der Menschenrechtslage in der Türkei beenden könne. EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen stieß ins selbe Horn: »Diese Entscheidung ist ein Zeichen dafür, daß die politischen Reformen der vergangenen beiden Jahre in der Türkei Früchte tragen.« Der Vertreter des deutschen Außenministeriums, Walter Lindner, sprach von wichtigen Schritten »bei der Heranführung der Türkei an die EU«, derweil Grünen-Vorsitzende Angelika Beer die Entscheidung gar als »Beweis« wertete, daß »der Demokratisierungsprozeß und der Reformprozeß in der Türkei jetzt auch Einzug in die Dienststuben der Justiz gehalten haben«.

Über die rund zehntausend politischen Gefangenen der Türkei war am Mittwoch und Donnerstag vom offiziellen EU-Europa erneut nichts zu hören. Auch spielte die Realität der Folter auf Kommissariaten, das verweigerte Rückkehrrecht von über zehntausend Kurdinnen und Kurden aus dem kurdischen Nordirak in ihre zerstörten Dörfer im Südosten der Türkei in keiner einzigen der partei- und regierungsoffiziellen Erklärungen eine Rolle.

Dies mußte Leyla Zana schon selbst ansprechen. In einer ersten kurzen Erklärung sagte sie, sie sei traurig über die anhaltende Inhaftierung von Tausenden anderen Gefangenen. Zugleich wandte sie sich dagegen – so die Agentur AFP – »Schmerzen und Streit« der Vergangenheit »neu zu entfachen«.

Wie sich Leyla Zana und ihre Kollegen zukünftig in die Politik einbringen werden, ist nicht bekannt. In den vergangenen Wochen hatte die Freiheitskämpferin in mehreren offenen Briefen, darunter an ihre langjährige Freundin Claudia Roth, heute Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, einen brisanten Punkt im Zusammenhang mit der offenen kurdischen Frage thematisiert: die weitgehende Ausgrenzung des PKK-Kongra-Gel-Spektrums aus der Türkei-Debatte der EU. Nun erklärte Claudia Roth, daß die Freilassung sowohl ein Schritt zur Anerkennung der »kurdischen Realität« sei als auch die logische Umsetzung der Abschaffung der Staatssicherheitsgerichte.

Von den Staatssicherheitsgerichten, einst etabliert unter der Militärdiktatur nach 1980, wurden alle derzeit einsitzenden politischen Gefangenen abgeurteilt. Deren Freilassung wegen unfairer Verfahren ist kein EU-Thema. Derweil steht Leyla Zana und Kollegen ein neuer Prozeß bevor. Am 8. Juli soll verhandelt werden, ob die Verurteilung vom 8. Dezember 1994 zu 15 Jahren Haft wegen Unterstützung der PKK rechtens war. Diesmal in einem »fairen« Verfahren.

 

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