DOSSIER,
NOVEMBER-2004


ANSICHTEN DER KURDISCHEN FRAUEN BEZÜGLICH DES BEITRITTES DER TÜRKEI ZUR EUROPÄISCHEN UNION

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ANSICHTEN DER KURDISCHEN FRAUEN BEZÜGLICH DES BEITRITTES DER TÜRKEI ZUR EUROPÄISCHEN UNION


Zum 17. Dezember 2004 wird die Entscheidung zur Aufnahme der Verhandlungen mit der Türkei seitens der Europäischen Union erwartet.

So wie insgesamt als kurdisches Volk und im besonderen als kurdische Frauen, welche durch die Lasten des 15 - jährigen Krieges besonders betroffen sind, unterstützen wir den Beitritt der Tütkei in die EU.
Wir stehen zu dem Beitritt einer Türkei, welche die nationale Identität des kurdischen Volkes anerkennt, den immer noch andauernden Krieg beendet und eine friedliche Atmosphäre sicherstellt.

Wie bekannt sein dürfte, ist auf der kurdischen Seite seit sechs Jahren eine Linie zu beobachten, welche in der Lage ist, die kurdische Frage mit demokratischen und friedlichen Mitteln zu lösen.
Selbstverständlich unterstützt das kurdische Volk und auch die kurdische Frau diese friedliche Lösung.
Man kann sagen, daß die KurdInnen insgesamt dem Wunsch nach Frieden nahestehen.

Die Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit der Türkei an diesem Punkt muss allerdings hinterfragt werden.
Auch wenn die Türkei in der letzten Zeit wichtige gesetzliche Veränderungen bezüglich der Demokratisierung verabschiedet hat, so dauert doch in der Praxis die alte Repression und das System der Verleugnung der Völker der Türkei an. Die verfassungsmässigen Rechte des kurdischen Volkes sind noch nicht anerkannt und in der Praxis existieren die Verbote und die Repression bezüglich der Sprache, Identität und Kultur weiter.

Weshalb weisen wir darauf hin?
Weil, obwohl die kurdische Frage eine politische und kulturelle Frage ist, die Türkei die kurdische Frage bis heute als eine militärische und eine Frage der Sicherheit betrachtet.

Weshalb wird dieses Problem auf diese Weise angegangen?
Weil die aufgrund der Struktur des türkischen Staates existierende Mentalität eine vereinheitlichende Struktur besitzt. Eine Mentalität der einen Sprache, einer Nation, einer Religion, einer Fahne und dies, obwohl es keine Versuche zur Spaltung der Türkei seitens der KurdInnen gibt.
Für uns drückt sich darin das patriarchale Verständnis von Herrschaft selber aus.
Eine solche vereinheitlichende Grundstruktur wird natürlich niemals Verschiedenheiten miteinschliessen wollen. Dies ist der Grund für die bis heute nicht umgesetzten offiziell verabschiedeten Gesetzesänderungen und auch die Quelle der immer noch andauernden Lösungslosigkeit in der Türkei.
So gibt es z.B. in der Türkei eine massive Repression gegen legale kurdische Institutionen, die friedliche politische Arbeit der KurdInnen wird behindert. Der Prozess gegen 120 kurdische und türkische Frauen, welche im letzten Jahr in der Stadt Bingöl einen “Friedenstisch” für Frieden und Dialog aufgebaut haben, dauert noch immer an.

Noch immer sind Tausende kurdischer PolitikerInnen im Gefängnis und physischer sowie psychischer Folter ausgesetzt. Herr Abdullah Öcalan befindet sich weiterhin unter Isolationsbedingungen als einziger Gefangener auf einer Gefängnisinsel.
Kurdische weibliche Gefangene werden in der Polizeihaft und in den Gefängnissen weiterhin Opfer von sexueller Folter und Vergewaltigung. Kurdische Frauen sind seitens staatlicher Sicherheitskräfte jeder Art von körperlicher und seelischer Gewalt ausgesetzt.
In den kurdischen Gebieten wird staatlicherseits eine Sterilisationspolitik gegen kurdische Frauen betrieben, die zur Unfruchtbarkeit Tausender Frauen führte. Auch die über 4000 zwangsgeräumten Dörfer in den kurdischen Gebieten wurden nicht wieder aufgebaut.
Nicht einmal die Erlaubnis zur Rückkehr in die Dörfer wird den KurdInnen erteilt. Und das allerwichtigste, der kurdischen Identität, Muttersprache und Kultur wurden keine verfassungsrechtlichen Sicherheiten gewährt. Es ist offensichtlich, dass die Quelle der politischen, ökonomischen und sozialen Probleme in der Türkei der Verleugnungslogik geschuldet sind.

Die Türkei ist als laizistische Republik bekannt, aber die zur Zeit regierende Partei ist die einen moderaten Islam vertretende AKP. Ist es nicht widersprüchlich, dass eine Regierung, die sich selber als laizistische, demokratische und rechtstaatliche Regierung bezeichnet, in die Ausweise aller islamischen und nichtislamischen StaatsbürgerInnen ”Angehöriger der islamischen Religion“ schreibt?
Wendet ein Rechtsstaat immer noch Jungfräulichkeitskontrollen gegen jungen Frauen an ?

Formell ist die türkische Regierung eine rechtstaatliche, also demokratische Regierung aber in der Praxis vertritt sie Religiösität und Unitarismus. Und diese Mentalität ist die Grundlage der Probleme.
Eine Türkei, welche eine solche, die Probleme nicht lösende Verleugnungspolitik betreibt, trägt mit ihrem Beitritt all diese Probleme in die EU hinein.
Wir als kurdische Frauen sind für den Beitritt der Türkei in die EU, aber wir möchten nicht versäumen, die Wichtigkeit der Rolle der EU für die Lösung dieser Probleme, allen voran der kurdischen Frage zu betonen.

Wir als kurdische Frauen werden unseren Kampf die Demokratisierung der Türkei fortführen. Die Türkei muss jedoch zur Erreichung der Kriterien der EU ihre doppelgesichtige Maske ablegen und sich der gewünschten demokratischen Ordnung aufrichtig annähern.
Diese Aufrichtigkeit zeigt sich in der verfassungsmässigen Sicherung der kurdischen Identität, Sprache und Kultur.
Ebenso muss eine Atmosphäre des Friedens geschaffen werden, die über die Beendigung des Krieges in der Türkei und die Entlassung der politischen Gefangenen verläuft.

Frühestens danach ist die Türkei wahrhaft Respektvoll gegenüber Demokratie, Freiheiten, Laizismus, Menschen- und Frauenrechten und ein Land, welches zum Eintritt in die EU bereit ist.

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LÖSUNGSVORSCHLÄGE BETREFFEND DES EU-BEITRITTS DER TURKEI:

Damit die Türkei die Stellung eines demokratischen Staates erlangt, die Bürger ein bequemeres Leben erlangen, in Frieden und Brüderlichkeit zusammenleben und sich in dieser Lage auf den Beitritt in die Europäische Union vorbereiten können, sollten folgende Punkte ernstgenommen werden;
Eine dauerhafte Lösung hinsichtlich der kurdischen Frage und die Anerkennung der kurdischen Nationalität.
Wenn man es aus dem Blickwinkel des Sprichwortes „Die Frau ist das Spiegelbild der Gesellschaft“ betrachtet, muss sich die Anschauung des türkischen Staates bezüglich der Herangehensweise an die Frau grundsätzlich ändern.
Die Betrachtungsweise, als wäre sie nur das zweite Geschlecht, die Tabus und Verbote der Frauen, die Ausbeutung an ihnen, das ausgrenzende Herantreten und Verhalten ihnen gegenüber und das sie durch religiöse und sexistische Anschauungen Gewalt ausgesetzt sind, muss aufhören.
Durch gesellschaftssoziale Erziehung muss die Herangehensweise der Menschen bezüglich Freiheit und Gleichberechtigung wiederhergestellt werden.
Wir denken, dass ein Staat, welcher sich hinneigend für die Rechte der Frauen einsetzt, sich auch für die Lösung der kurdischen Frage einsetzten wird, denn die Nichtanerkennung der Frauenrechte bedeutet die Nichtanerkennung der Rechte der Kurdinnen und Kurden.

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DIESBEZÜGLICH UNSERE ALLGEMEINEN FORDERUNG:

1. Die Europäische Union sollte mit ihrer neutralen Stellung im Bezug auf den beidseitigen Waffenstillstand hinsichtlich der kurdischen Frage als Richter eine Lösung finden
2. Die kurdische Nationalität, Kultur und Sprache muss anerkannt und in die Verfassung einbezogen werden.
3. Anstatt des Reuegesetzes, welches die Ehre des Menschen verletzt, sollte sowohl für Herrn Abdullah Öcalan als auch für alle politischen Gefangenen eine Generalamnestie ausgerufen werden.
4. Die Behinderungen und Verbote an den kurdischen Organisationen müssen aufgehoben werden. Die Möglichkeit, freie Politik zu machen, muss gegeben werden.
5. Die militärischen Operationen in den kurdischen Gebieten müssen aufhören.
6. Die militärische Struktur in den kurdischen Gebieten muss geändert werden.
7. Die Aufhebung des Dorfschützersystems muss erfolgen.
8. Die seitens des türkischen Staates verbrannten Dörfer müssen erneut aufgebaut werden; denen zum Fortziehen gezwungenen Dörflern muss Schadensersatz geleistet werden, um eine Rückkehr in ihre Dörfer zu ermöglichen.
9. Es muss gewährleistet werden, dass das Kurdische Volk und die Minderheiten in der Türkei ebenso wie das türkische Volk gebrauch von ihren Rechten machen können.
10. Die Bezeichnung 'Zum Islam angehörig’, die sich in den Personalien der türkischen Staatsbürger befindet, muss aufgehoben werden. In diese Hinsicht ist der Laizismus zu gewähren.

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UNSERE FORDERUNGEN ZUR GESETZLICHEN SICHERUNG VON FRAUENRECHTEN:

1. Im türkischen Strafgesetz im Teil: Verbrechen gegen Personen, Abschnitt Verbrechen gegen das Leben regelt der § 82, Abs.j das Verbrechen des vorsätzlichen Mordes an Menschen. Dem Motiv der Tradition muss explizit das Tatmotiv der Ehre hinzugefügt werden.

2. Die Vorschrift im § 29 des türkischen Strafgesetzbuches sieht im Rahmen der Grundsätze für Strafzumessung die Möglichkeit der Aufhebung oder Minderung der Strafe im Falle provozierter Taten vor. Hiervon müssen Ehrenmorde ( aufgrund angeblich provozierenden Fehlverhaltens des Opfers) eindeutig ausgenommen werden.

3. Jungfräulichkeitskontrollen müssen gänzlich verboten werden.Die Vorschrift zur Genitaluntersuchung im türkischen Strafgesetzbuch muss in sofern neu geregelt werden,dass darin Jungfräulichkeitsuntersuchungen eindeutig als verboten erklärt werden.

4. Die Vorschrift des § 104 des türkischen Strafgesetzbuches im Teil zur geschlechtlichen Unberührbarkeit, welcher die Vorschriften zu:” Erlaubten geschlechtlichen Beziehungen zu Jugendlichen zwischen 5+18 Jahren” gibt, muss nach dem UN Kinderrechtsübereinkommen und der Internationalen Deklaration der Menschenrechte geregelt werden.

5. Dem § 122 des türkischen Strafgesetzbuches müssen die Freiheit der Wahl der geschlechtlichen Identität sowie die “politischen, ökonomischen und sozialen” Rechte einer Person hinzugefügt werden.

6. Die in den §§ 99 und 100 des türkischen Strafgesetzbuches beschriebenen Abtreibungsfristen müssen von 10 auf 12 Wochen erhöht werden.

7.Der §230 des türkischen Strafgesetzbuches legt das Strafmas bezüglich Verbrechen gegen die Famielienordnung fest, worunter auch Polygamie, Scheinehe und religiöse Traditionen fallen. Dieser muss zum Zwecke der Abschreckung deutlich erhöht werden.

8. Der Vorschrift des § 76 des türkischen Strafgesetzbuches (Verbrechen des Genozid) muss im Absatz d die Sterilisation hinzugefügt werden.

9. Dem im türkischen Strafgesetzbuch die unzüchtigen Schriften und Darstellungen regelnde § 226 muss eine Definition der Pornografie hinzugefügt und die Vorschrift unter Berücksichtigung der Freiheit der Meinung und der Kunst neu bestimmt werden.

10. Der Einbau islamischen Rechtes in die türkische Gesetzgebung muss aufgegeben und der Laizismus verteidigt werden.