3.
Die Annäherung der Türkei an die muttersprachliche Bildung und
an deren Problematik
Die türkische Republik besteht real betrachtet nicht aus einer Gemeinschaft,
die nur einer einzigen ethnische Abstammung entspringt. Trotz dieser Tatsache
wird, wenn es um die staatsbürgerlichen Rechte eines Staatsbürgers
geht, dieser als türkischer Staatsbürger charakterisiert, der
gebunden ist an die türkische ethnische Identität.
Es muss eine anschauliche Analyse dieser Situation beginnend mit der Verfassung
gemacht werden.
Der
66. Artikel der Verfassung mit seiner Überschrift lautet wie folgt:
Die
türkische Staatsangehörigkeit Artikel 66: Jeder, der durch die
türkische Staatsbürgerschaft an den türkischen Staat gebunden
ist, ist ein Türke/eine Türkin.
Diese
Situation zeigt, dass die Staatsangehörigkeit nicht nur die gesetzliche
Verpflichtung beinhaltet, sondern dass sie auch die ethnische Abstammung
festgelegt.
Trotzdem wurden in der Türkei, in den Jahren 1927-1965 mit der Volkszählung
zusammen auch Statistiken über die jeweilige gesprochene Sprache
(Muttersprache) erhoben und veröffentlicht. Auch wenn diese Statistiken
später für nichtig erklärt wurden, ist es eine Tatsache,
dass in der Türkei türkisch, kurdisch, abchasisch, arabisch,
albanisch, tscherkessisch, armenisch, georgisch, Sprachen der Sinti und
Roma, laazisch, pomakisch, griechisch, alt-syrisch, tatarisch und hebräisch
gesprochen werden.
Nach
diesen Ausführungen widmen wir uns nun der in der Türkei praktizierten
Sprachpolitik zu. Die muttersprachliche Erziehung und Bildung ist nur
auf gewisse Sprachen beschränkt, da das Benutzen der Muttersprache
als Erziehungsmaßnahme, dass schriftliche Erlernen, es in den Medien
als Vehikel zu benutzen, des weiteren die wissenschaftliche und künstlerische
Erzeugung in der eigenen Sprache zu sichern, wird als solche politisch
gehandhabt. Aus diesem Grund durch die Verfassung verboten. Gesetz Nr.
2932 von 1983 besagt:
Art.1-
Ziel und Inhalt: Mit der Absicht die (unteilbare) Integrität des
Staates, seines Volkes und seines Landes, die nationale Souveränität,
die Republik, die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung
zu schützen, regelt dieses Gesetz die Grundlagen und Verfahren im
bezug auf die Sprachen, deren Veröffentlichung und Verbreitung verboten
ist.
Art.
2- Sprachen, deren Veröffentlichung und Verbreitung verboten sind:
Es ist verboten in einer Sprache Gedanken zu äußern, zu verbreiten
und zu veröffentlichen, die nicht erste Amtssprache eines von der
Türkei anerkannten Staates ist. In den Beschlüssen der internationalen
Abkommen, die der türkische Staat befürwortet hat, sind gesetzliche
Regelungen im Bezug auf Erziehung und Bildung, wissenschaftliches Erforschen,
Publikationen der öffentlichen Anstalten und Einrichtungen festgehalten.
Art.
3- Die Muttersprache der türkischen Staatsbürger ist türkisch.
Sämtliche Aktionen mit der Absicht zur Verbreitung anderer Sprachen,
außer türkisch als Muttersprache zu benutzen, ist verboten.
In
Anlehnung an die unteilbare Integrität des Staates, des Landes und
des Volkes, wie ja bereits in Artikel eins dargestellt wurde, wird das
natürliche Recht auf muttersprachliche Erziehung von Millionen Kindern,
die zwar in der Türkei leben, aber keine Türken, sondern Staatsbürger
der türkischen Republik sind, auf einer offensichtlichen Weise beraubt.
Somit wird die Assimilierung und Verschmelzung von Millionen von Menschen
in die türkische Ethnie beabsichtigt. Hierbei handelt es sich nicht
um einen natürlichen Verschmelzungsprozess. Es ist vielmehr das gewaltsame
Entreißen des Einzelnen aus seiner nationalen Zugehörigkeit,
und dessen Abänderung.
Innerhalb
der türkischen Grenzen leben heutzutage 20 Millionen Kurden. Demzufolge
gibt es in der Türkei 100.000e kurdische Kinder, die im schulfähigen
Alter sind. Das Verbot der muttersprachlichen Erziehung und Bildung dieser
100.000e von Kinder bedeutet gleichzeitig die Trennung der Bindung zur
eigenen Kultur und Geschichte, und die Hinderung an der persönlichen
Entfaltung.
Nimmt
man in diesem Rahmen die muttersprachliche Erziehung als Grundrecht an,
so lässt es sich in den zwei Bereiche, Freiheiten des Einzelnen und
kulturelle Rechte näher betrachten.
"Die Gedankenfreiheit und die freie Meinungsäußerung",
welche zu den Freiheiten des Einzelnen zählt, wird in der juristischen
Literatur wie folgt beschrieben: "Die Gedankenfreiheit ist für
den Menschen die Möglichkeit, sich die Antworten zu allen Problemen,
die individueller, gesellschaftlicher Natur sind, selbst auszusuchen und
vorzubereiten, sein Verhalten und seine Vorgehensweise dahingehend geeignet
zu formen und das, was für richtig angesehen wird anderen mitzuteilen."
Mit anderen Worten bedeutet die Gedankenfreiheit, dass man freien Zugang
zu anderem Gedankengut und Wissen hat, dass man aufgrund angeeignetem
Wissen und Meinungen nicht verurteilt wird, dass man diese entweder alleine
oder mit anderen auf verschiedenen Wegen frei äußern, anderen
mitteilen und verbreiten kann.
In
Artikel 25 Absatz 1 der Verfassung von 1982 heißt es in bezug auf
die Gedankenfreiheit und die freie Meinungsäußerung:
"Jeder hat das Recht der Gedanken- und Meinungsfreiheit."
Artikel
26 Absatz 1 besagt:
" Jeder hat das Recht seine Gedanken und Ansichten wörtlich,
schriftlich, bildlich oder auf anderem Wege alleine oder als Gemeinschaft
zu veröffentlichen und zu verbreiten."
Aber gleichzeitig wird in Absatz 3 des Artikels das Recht auf Gedankenfreiheit
wie folgt unabdingbar eingeschränkt: "Für die Veröffentlichung
und Verbreitung des Gedankengutes darf keine gesetzlich verbotene Sprache
benutzt werden."
Die Verbreitung der Ansicht wiederum wird in Artikel 28 Absatz 2 geregelt:
" Jegliche Veröffentlichung in einer gesetzlich verbotenen Sprache
ist nicht erlaubt."
Das
Recht auf Erziehung und das Recht auf Bildung, die zu dem Bereich der
kulturellen Rechte gehören, und die wir näher betrachten, sind
in der Verfassung von 1982 wie folgt festgehalten:
Artikel 42 Absatz 1:
"Niemandem darf das Recht auf Erziehung und Bildung beraubt werden."
Im
letzten Absatz des Artikels heißt es dann:
" Keine andere Sprache außer türkisch, darf in den Erziehungs-
und Bildungsanstalten türkischen Staatsbürgern als ihre Muttersprache
beigebracht und gelehrt werden. Die in den Erziehungs- und Bildungsanstalten
gelehrten Fremdsprachen und das Erziehen und Bilden von Schulen mit der
fremden Sprache, unterliegen Normen, die vom Gesetz geregelt werden. Die
Beschlüsse der internationalen Abkommen sind gesichert."
Diese
Art von Erziehung und Bildung, die Politik, die im Bezug auf die Gedanken-
und Meinungsfreiheit betrieben wird, steht im Widerspruch zu unserem heutigen
freiheitlich, mehrheitlich geführtem Demokratieprinzip und den demokratischen
Grundwerten, und ist gleichzeitig eine unmenschlich, die Menschenrechte
verachtende, überholte und diskriminierende Politik.
Es muss von dieser, in ihren eigenen Darstellungen bekannt gewordenen
anti-demokratischen, diskriminierenden Erziehungs- und Bildungspolitik
Abstand genommen werden.
Außerdem ist der Verzicht auf diese Politik ein Muss zeitgenössisch,
respektvoll gegenüber anderen Kulturen und Sprachen zu sein, und
ein Muss um die demokratischen Grundwerte zu besitzen.
Die Kette, die an die Sprache, die Kultur, somit indirekt an die Gedanken
und Gefühle von Millionen von Menschen in der Türkei (wie den
Kurden, Arabern, Tscherkessen, Georgiern und Laazen) angelegt wurde, muss
endlich gelöst werden. Das Recht auf muttersprachliche Erziehung
und Bildung muss, begonnen mit den Kurden, allen anderen ethnischen Gruppen
zugesprochen werden. Die Beanspruchung dieser Rechte sollte allein dem
freien Entscheidungswillen der ethnischen Volksgruppen überlassen
bleiben.
Was wichtig ist, ist die Anerkennung dieser Rechte, und gleichzeitig die
Demokratisierung der Erziehung in ihrem Wesen.
Die Verwirklichung des demokratischen Erziehungs- und Bildungswesen in
der Türkei ist durch eine Vorbereitung und Anerkennung einer demokratischen
Verfassung, die allen in Anatolien lebenden ethnischen Volksgruppen in
allen Bereichen gleiches Recht zuspricht, möglich.
Diese
Verfassung sollte ein Dokument für die Zusammengehörigkeit der
Völker in Anatolien sein, die nach dem Gleichheitsprinzip, frei entstehen
wird. In Anatolien gibt es einige ethnische Gruppen, Kulturen und Sprachen.
Der Staat muss die Voraussetzungen für die freie Entfaltung der existierenden
Sprachen schaffen. Dies bedeutet gleichzeitig das Schützen der Sprachen-
und Kulturenvielfalt in Anatolien.
Die natürliche Folge der Akzeptanz des Mehrheitsprinzips ist das
Kennenlernen verschiedener Sprachen, Religionen und Kulturen, das Anerkennen
ihrer Existenz, das Anerkennen der freien Meinungsäußerung.
Nicht nur das Anerkennen ist relevant. Der Staat muss seine grundlegenden
Ziele und Aufgaben dahingehend genau bestimmen. Diese Definition legt
auch den Bereich der verfassungsmäßigen Staatsbürgerschaft
fest. Durch die verfassungsmäßige Staatsbürgerschaft geht
die nationale Eigenschaft des Staates nicht verloren. Die nationale Eigenschaft
darf nicht an einer ethnischen Zugehörigkeit festgemacht werden.
Nationalität bedeutet, sowohl in der verfassungsmäßigen
Staatsbürgerschaft, als auch in dem oben behandelte Verständnis
von Staatszugehörigkeit, den Bürgern der türkischen Republik,
die aus verschiedener Herkunft sind, angelehnt zu sein.
Das Anwenden der verfassungsmäßigen Staatsbürgerschaft
wird sowohl das Zugehörigkeitsgefühl und den Willen zum friedliche
Zusammenleben, der in diesem Land lebenden verschiedenen Volksgruppen
verstärken als auch das gegenseitige Nutzen der durch die Bereicherung
der Gesellschaft entstandenen Kultur- und Sprachgüter erhöhen.
Solch eine Anwendung wird dazu dienen, dass in diesem Land sich eine freiheitlich,
demokratische Kultur entwickelt und verbreitet.
Es gibt in der heutigen Zeit auf der Welt zig Staaten, die mehr als eine
Amtssprache haben.
Wieso sollen nicht in Anatolien, in einem demokratischen Staat, der auf
das freiwillige Zusammenleben gestützt ist, mehr als eine Sprache
und Kultur gemeinsam und gleichberechtigt existieren.
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