|
Der
Tagesspiegel 04.02.2000
Mord
aus Angst um die Familienehre
Nach Vergewaltigung verheimlichte ein türkisches Mädchen
die Schwangerschaft - der anatolische Ehrenkodex kostete die 15-jährige
das Leben
Das Urteil des Familienrats war eindeutig. Die erst 15-jährige Muhbet
Cengiz hatte ein Kind zur Welt gebracht und das Baby aus Angst vor ihren
Verwandten getötet - deshalb musste sie nun selber sterben.
Ein Bruder Muhbets wurde mit dem Geschwistermord beauftragt. Das Mädchen
sei regelrecht "hingerichtet" worden, schrieb die Zeitung "Sabah".
Dagegen spricht die Familie von Selbstmord. Tatsache ist, dass die Angst
Muhbets vor ihren engsten Verwandten unbeschreiblich groß gewesen
sein muss - und dass die anatolische Familienehre wieder ein Opfer gefordert
hat.
Das
Mädchen aus einem Dorf bei dem südostanatolischen Batman wurde
vergewaltigt, ging später aber freiwillig eine Beziehung
mit dem Mann ein. Als die 15-jährige schwanger wurde, versuchte sie
ihren Zustand vor ihren Angehörigen zu verheimlichen. Nur ihre ältere
Schwester zog das Mädchen ins Vertrauen und brachte mit ihrer Hilfe
ihre Tochter zur Welt. Die Furcht, von der sittenstrengen Familie für
den Verlust ihrer Jungfräulichkeit bestraft zu werden, steigerte
sich bis zur Todesangst. Deshalb setzte Muhbet ihr Baby in einem Blechkanister
auf einem einsamen Acker aus. Am nächsten Tag verscharrte sie den
Leichnam des Säuglings.
Trotz aller Versuche zur Geheimhaltung verbreiteten sich schnell Gerüchte.
Schließlich trat der aus den männlichen Mitgliedern der Sippe
zusammengesetzte Familienrat zusammen und beschloss sein Urteil. Der erste
Versuch der "Vollstreckung" scheiterte aber. Als einer der Brüder
Muhbets, Necmettin Cengiz, mit der schweren Jagdflinte seines Vaters abdrücken
wollte, klemmte das Gewehr. Deshalb erhielt einen Tag später ein
anderer Bruder des Mädchens, Mirze Cengiz, den Mordauftrag, den er
auch ausgeführt haben soll.
Die Familie meldete den Tod Muhbets dem Dorfvorsteher als Selbstmord.
Doch der Bürgermeister wurde misstrauisch und schaltete die Polizei
ein. In den Verhören der festgenommenen Verwandten Muhbets tauchte
inzwischen laut "Sabah" eine weitere Version der Ereignisse
auf. Die Familie habe von Muhbet den Namen des Kindsvaters erfahren wollen
und ihr deshalb mit der Flinte Angst eingejagt. Dabei habe sich ein Schuss
gelöst.
Thomas Seibert
Erläuterung
zum Begriff des Ehrenkodex
"Namus"
- Ehre - ist ein Schlüsselbegriff in der türkischen Gesellschaft.
Die Ehre der Familie gegen Angriffe zu verteidigen, ist die Hauptaufgabe
der Männer in einem Haushalt. Die Keuschheit der unverheirateten
weiblichen Familienmitglieder hat dabei oberste Priorität: Der Vater
oder die Brüder wachen über die Sittlichkeit der Frauen und
Mädchen im Haus. Das Auftreten von Frauen in der Öffentlichkeit,
ihr Umgang und ihre Kleidung erhalten in diesem Zusammenhang eine wichtige
Bedeutung, denn sie können die Ehre einer Familie verletzen. Die
wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit in vielen ländlichen
Gebieten der Türkei ist ein Grund dafür, dass die Verteidigung
der Familienehre für die Menschen bis heute oft wichtiger ist als
die Einhaltung von Gesetzen. (sei)
|