DER
SPIEGEL, 6.10.2000
"Und
keiner hält mich auf"
Eine Welle von Selbstmorden junger Frauen sucht die Stadt Batman im
Südosten Anatoliens heim. Ärzte, Soziologen und der Staat suchen
nach Erklärungen.
Ayla Yildiz sprach kein Wort, als sie eingeliefert wurde. Mit leeren Augen,
wie hingeworfen, saß sie im psychiatrischen Beobachtungsraum der
Universitätsklinik von Diyarbakir. Wenn die Schwestern fragten, was
ihr denn fehle, drehte sie den Kopf weg und rieb nur die Hände am
Unterleib, als hätte sie Bauchschmerzen. "Es hat Stunden gedauert",
sagt Dr. Aytekin Sir, "bis wir das Problem verstanden." Männer
eines Nachbarclans hatten das Mädchen aus der südostanatolischen
Stadt Batman missbraucht. Die Männer ihrer eigenen Familie schlugen
und folterten sie seit Monaten für diese angebliche Ehrlosigkeit.
"Ich werde mich umbringen, Herr Doktor", sagte Ayla, als sie
schließlich Worte fand. Der Arzt verschrieb der jungen Frau Antidepressiva
und drohte Vater und Brüdern mit der Polizei - vergebens. Ein halbes
Jahr später erhängte sich das Mädchen, dessen wahrer Name
aus rechtlichen Gründen nicht genannt werden kann.
Aylas Freitod vor mehr als einem Jahr war ungewöhnlich für die
fromme Provinzstadt nahe der syrischen Grenze, doch über die Lokalpresse
hinaus machte der Fall keine Schlagzeilen. Inzwischen hat eine Serie von
Selbstmorden Batman heimgesucht, die bis ins ferne Ankara Soziologen,
Ärzte und Politiker alarmiert.
Allein in den vergangenen vier Monaten, zählt der Chefredakteur der
örtlichen Tageszeitung "Batman Çagdas" auf, haben
50 junge Frauen versucht, sich umzubringen, 29 von ihnen sind gestorben.
Die meisten haben sich erhängt, viele stürzten sich aus dem
Fenster. Manche haben sich mit den Waffen ihrer Väter oder Ehemänner
erschossen; andere schluckten, was sie an Medikamenten oder Giften zu
fassen kriegten: Antibiotika,Haushaltsreiniger, Rattengift. "Diese
Suizidwelle hat mit einer solchen Wucht eingesetzt", sagt der Psychiater
Sir, "dass sie alle unsere Statistiken auf den Kopf stellt."
Die Türkei hat, wie die meisten vom Islam geprägten Länder,
im internationalen Vergleich eine eher niedrige Selbstmordrate: Während
in Deutschland laut offizieller Statistik auf 100 000 Menschen jedes Jahr
etwa 15 Suizide kommen, sind es in der Türkei nur 2,5. Im vorwiegend
kurdisch besiedelten Südosten des Landes, so ergab eine Studie der
Tigris-Universität von Diyarbakir, hat sich dieser Wert in den vergangenen
Jahren jedoch fast verdoppelt. Die aktuellen Zahlen aus Batman liegen
um das Zehnfache über diesem Wert.
Was die Psychologen besonders beunruhigt, ist die Geschlechterstatistik.
Weltweit wie auch im türkischen Durchschnitt sind es zu zwei Dritteln
Männer, die Selbstmord begehen. Im Südosten des Landes ist es
genau umgekehrt - fast doppelt so viele Frauen wie Männer bringen
sich um.
"Soziale und familiäre Probleme" lautet die übliche
Sprachregelung zur Erklärung des plötzlichen Frauensterbens.
Was sich hinter der flachen Formel verbirgt, ist die skandalöse Rückständigkeit
von Türkisch-Kurdistan: Die Republik hat beim Aufbau ihrer Südostprovinzen
versagt, Besserung ist nicht in Sicht. Armut, religiöse Bigotterie
und ein mittelalterlicher Feudalismus bestimmen wie vor hundert Jahren
den Alltag der türkischen Kurden. Die schwersten Opfer der Vernachlässigung
bringen nach wie vor die Frauen.
"Meine männlichen Kameraden!", sprach Staatsgründer
Mustafa Kemal Atatürk einst: "Unsere Frauen sind empfindsam
und von Geist beseelt wie wir auch. Benötigen sie noch unsere selbstsüchtige
Aufsicht? Lassen wir sie ihre Gesichter der Welt zeigen und lassen wir
sie die Welt sorgfältig betrachten. Es gibt nichts, was wir dabei
zu fürchten hätten."
Atatürks Worte aus dem November 1925 - im herbstlichen Batman des
Jahres 2000 klingen sie wie Hohn. Auf den Straßen und in den Teehäusern
der Raffinerie- und Agrarstadt sind fast nur Männer zu sehen. Die
Frauen und Mädchen, wenn sie nicht zu Hause auf die Kinder aufpassen,
sind von Sonnenaufgang an zum Baumwollpflücken auf den Feldern. Spätnachts
karren Lastwagen sie dutzendweise in die Stadt zurück. Todmüde
versuchen sie, nicht von der Ladefläche zu fallen.
Kaum eine dieser Frauen kann lesen und schreiben, fast alle sprechen ausschließlich
Kurdisch. Die wenigsten haben je auch nur eine Volksschule von innen gesehen.
"Niemand schickt hier seine Töchter zur Schule", sagt ein
Händler auf dem staubigen Gemüsemarkt hinter dem Bahnhof. "Die
Mädchen zählen nicht. Wenn du hier einen nach der Zahl seiner
Kinder fragst, wird er dir meistens nur sagen, wie viele Söhne er
hat."
Bis
heute werden Mädchen für 1000 bis 10 000 Mark regelrecht verkauft
- häufig an Männer, die wesentlich älter sind und die sich
das Brautgeld leisten können.
Wenn die Tochter sich gegen den archaischen Ritus wehrt und einen anderen
Bräutigam will, ist sie verloren. Ein kurzes Lächeln, ein falscher
Blick in Gegenwart Fremder genügt, und der "Namus", die
Familienehre, ist besudelt.
Mehr als die Hälfte der Selbstmorde in den vergangenen Monaten gehen
auf Zwangsehen, Rufmord oder familiäre Vernachlässigung von
Frauen zurück. Über die 17-jährige Fadile Aslan aus dem
Stadtteil Huzur hatten sich Nachbarn das Maul zerrissen, Çiçek
Bozkir aus dem Distrikt Besiri war von einem 60-Jährigen entführt
worden. Die fünffache Mutter Ayla Yesilfidan verzweifelte, weil ihr
Mann eine "Kuma", eine Zweitfrau, ins Haus brachte. Als die
Kinder schliefen, ging sie in den Garten und erhängte sich an einem
Maulbeerbaum.
Bei vielen Männern in Batman hält sich die Bestürzung über
die Selbstmorde in Grenzen.
Verschärft wird die Problematik durch die Folgen des 15-jährigen,
inzwischen abebbenden Bürgerkriegs im türkischen Südosten,
der Hunderttausende Familien aus ihren Dörfern vertrieben und heimatlos
gemacht hat.
Im Norden von Batman, auf einer majestätischen Anhöhe, thront
die prachtvolle Sefket-Basak-Moschee. In seinem klimatisierten Büro
und mit einem Telefon in jeder Hand bereitet sich der Bezirksmufti Yüksel
Kaymak auf das Freitagsgebet vor. Auch diesmal wird er wieder über
die leidigen Selbstmorde predigen müssen. Das staatliche Religionsdirektorat
in Ankara
hat sich entschlossen, in der Angelegenheit die Initiative zu ergreifen,
und gab erst einmal eine Studie in Auftrag.
Auch der Mufti, ein moderner Religionsbeamter, sieht im gnadenlosen Patriarchat
und in der sozialen Rückständigkeit seines Bezirks den Hauptfaktor
für das Martyrium der verzweifelten Frauen. Er rate den Vätern,
ihre Kinder zu unterstützen, sagt er, statt über sie zu verfügen:
"Aber es ist nicht einfach. Diese Leute haben gestern noch in einem
Dorf ohne Wasser
und Strom gelebt - heute haben sie eine Satellitenantenne und sehen, wie
die Popstars und Fußballer in Istanbul leben."
In einigen Abschiedsbriefen, die man gefunden hat, taucht der Refrain
eines aktuellen türkischen Popsongs auf: "Heute Abend werde
ich sterben, und keiner hält mich auf." Genau da liege das Problem,
sagt der Mufti Kaymak: Fernsehserien, Filme, billige Popsongs - all das
heize die Sehnsucht und Verzweiflung der jungen Mädchen nur zusätzlich
an.
"Batman
ist gewachsen wie eine Hormontomate anstatt wie ein Baby, das die Brust
bekommt", sagt Kaymak. Die Macht der Moderne, die wie ein Sturm über
die Landflüchtlinge hereingebrochen sei, mache gerade die Jugendlichen
in ihrem Glauben unsicher.
Eine Broschüre mit dem schönen Titel "Der Mensch - Gottes
Meisterwerk", die Kaymak zu Tausenden unter den Baumwollpflückerinnen
verteilen ließ, soll sie auf den rechten Weg zurückführen.
Gut, dass zumindest die Mädchen sie nicht lesen können: Die
irdischen Qualen, zitiert der Mufti den Propheten, seien unbedeutend,
verglichen mit dem, was einen Selbstmörder im Jenseits erwarte.
BERNHARD
ZAND © DER SPIEGEL 45/2000
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