MEIN IST NUR DAS LAND, DAS ICH IN MEINER SEELE TRAGE

(Marc Chagall)

Von Ra’in Jutta Hermanns,
für das Projekt: Rechtliche Hilfe für Frauen, die durch staatliche Sicherheitskräfte vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell gefoltert wurden, Istanbul
(Redebeitrag auf der Konferenz: Frauen zwischen Utopie und Realität, Hamburg, 20./21.Juni 1998)


Sexuelle Gewalt - Methode staatlicher Kriegsführung und Repression
Flucht und Exil - Fortsetzung der Zerstörung ?

Wie aus dem vorangegangenen Beitrag Eren`s deutlich wurde, ist sexuelle Gewalt als systematische staatliche Methode versuchter Zerstörung eines wie auch immer charakterisierten Gegeners eine der effektivsten Art der Demütigung, wenn nicht im Bewußtsein dieser Tatsache und in kollektiver, solidarischer Art dagegen auf allen Ebenen gekämpft wird. Sexuelle Gewalt, eingesetzt im Krieg oder während bewaffneter Konflikte, ist dabei immer ein Angriff sowohl auf die geschlechtliche als auch auf die nationale, politische und ethnische Identität der Betroffenen.
Um sexuelle Gewalt als Methode der Bekämpfung eines Gegeners in ihrer systematisch eingesetzten Dimension aufdecken und dagegen vorgehen zu können, ist immer einer der entscheidenden Wendepunkte der Mut der betroffenen Frauen, das Erlebte zur Sprache zu bringen. Unabhängig von vielen anderen gesellschaftlichen und familiären Gründen, die die Frauen am Sprechen hindern, ist von entscheidender Bedeutung die Absicht des Staates, um jeden Preis ein Aufdecken der eingesetzten sexuellen Gewalt zu verhindern. Viele der Betroffenen können daher erst dann reden, wenn sie sich einem weiteren möglichen Zugriff des Staates entzogen haben - das heißt in der Konsequenz, daß nicht wenige erst nach einer Flucht ins Ausland beginnen, zu sprechen. Wie berechtigt dies ist, belegen folgende Beispiele exemplarisch, einige wenige von vielen:

* Die Familie der 10-jährigen B., die durch einen Dorfschützer vergewaltigt wurde, war nach Anzeigenerstattung ständigen Bedrohungen ausgesetzt. Die Mutter wurde vor laufender Kamera vom Dorfvorsteher blutig geschlagen, als sie von den Vorfällen berichten wollte. Das Spendenkonto zur Unterstützung der Familie in Diyarbakir wurde beschlagnahmt. Die Familie wurde völlig auseinandergerissen, da das Mädchen zusammen mit ihrem Vater aufgrund der Bedrohungen nicht in das Dorf zurückkehren konnte.
 
* Ein weiteres Beispiel ist die Geschichte H.Ö.’s. H.Ö., 22 Jahre alt und verheiratet, lebte im Dorf Nordin bei Muþ/Malazgirt und ist Mutter eines am Tag der Tat gerade sechs Tage alten Kindes.
Am 9.Juni 1998 betrat einer der im Dorf agierenden Dorfschützer, Abdulkadir ERKOÇAK, ihr Haus, als sie sich dort gerade alleine aufhielt. Er richtete seine Waffe auf sie und vergewaltigte sie. Gleich nach dem Vorfall rannte sie ins Dorf und berichtete das Erlebte ihrer Familie. Sie erstatteten Anzeige bei der Staatsanwaltschaft. Ab diesem Moment begannen die Drohungen. H.Ö. und ihre gesamte Familie wurde von den Dorfsdchützern mit dem Tode bedroht und gezwungen, ihre Ausage zu ändern. Ihr blieb nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten: Entweder bleibt sie bei ihrer alten Aussage und bringt  damit sich und ihre Familie in eine lebensbedrohliche Situation oder sie ändert ihre Aussage ab und versucht so, ihre Familie zu schützen. Verständlicherweise wählte sie den zweiten Weg. Jedoch auch hiermit gaben sich die Dorfschützer nicht zufrieden und diesmal boten sie ihr Geld an, damit sie vollständig von dem Verfahren Abstand nimmt.
Die Familie, die es bis zu diesem Tage trotz aller Drohungen und Repressionen abgelehnt hatte, sich durch den Staat bewaffnen zu lassen und Dorfschützer zu werden, lehnte nun diesen unmoralischen Vorschlag auch ab. Hierdurch waren für sie jedoch alle Möglichkeiten verloren, in dem Dorf weiter zu leben. Zuletzt war die Familie nicht mehr in der Lage, dem physischen, psychischem und sozialen Druck standzuhalten und sah sich gezwungen, wie soviele vor ihnen, ihre Heimat zu verlassen.

* A. wurde 1994 nach ihrer ersten Festnahme in Diyarbakir schwer gefoltert. In der 8. Nacht ihrer Polizeihaft wurde sie durch Beamte zu einem offenen Gelände gebracht. Dort wurde sie vollständig entkleidet, verkrümmt in einen Reifen gequetscht und in diesem durch die Gegend gerollt. Nachdem sie wieder aus dem Reifen hinausgezogen worden war, warfen die Beamten sie zu Boden und einer der Beamten vergewaltigte sie.
Im Anschluß an die Polizeihaft erging Haftbefehl gegen sie und sie wurde ins Gefängnis überführt.
Lange Zeit konnte A. mit niemandem über das Erlebte sprechen. Nach ihrer Entlassung wurde sie 1997 in Istanbul erneut festgenommen. Wieder wurde sie schwer gefoltert und im Anschluß in U-Haft genommen. Aufgrund der erlebten Angriffe war sie psychisch traumatisiert und durchlebte schwere Krisen. Erst jetzt berichtete sie uns von der sexuellen Folter, die 1994 an ihr begangen worden war und über die sie so lange nicht reden konnte. Unser Projekt hat daraufhin Anzeige erstattet. Ohne jedoch auch nur die Aussage A.’s aufzunehmen oder andere Ermittlungen durchzuführen hat die zuständige Staatsanwaltschaft Diyarbakir das Verfahren eingestellt. Die hiergegen durch unser Projekt erhobene Beschwerde wurde durch das zuständige Strafgericht Diyarbakir verworfen. Hiermit sind die innerstaatlichen Rechtsmittel erschöpft und die Beschwerde im Fall A. an die Europäische Kommission für Menschenrechte befindet sich in Vorbereitung.

Mittlerweile war A. erneut aus der Haft entlassen worden. Nach der Entlassung begab sie sich für kurze Zeit in eine Therapie, wordurch sie sich “relativ” stabilisiert hat. Aber aufgrund des erlebten Traumas, konnte sie sich nicht mehr vorstellen, in diesem Land weiterzuleben. Sie wollte nach Europa. Eine Weile meldete sie sich bei niemandem. Doch eines Tages rief sie unser Büro an und das, was sie uns am Telefon mitteilte, belegt nochmals die erschreckende Dimension der durch staatliche Kräfte praktizierten sexuellen Gewalt in der Türkei: A. war kurz vor ihrer Ausreise ein weiteres Mal festgenommen worden und dieses Mal war die Festnahme bei der Staatsanwaltschaft nicht registriert worden. Die Polizisten drohten ihr: “Niemand weiß, daß du dich in unseren Händen befindest, also...” und “Warum hast du von der Vergewaltigung berichtet und was soll die Anzeigenerstattung gegen die Polzei?” Sieben Tage lang wurde sie mit verbundenen Augen festgehalten und an diesem Ort von den Beamten jeden Tag vergewaltigt.
Als sie am Telefon hiervon berichtete, sagte sie, daß sie unbedingt eine Therapie möchte, daß sie keine Widerstandskräfte mehr habe und daß sie sich sonst umbringen würde.

Ich möchte mich insbesondere zu der Situation im Exil nach einer erzwungenen Flucht von sexueller Gewalt betroffener Frauen und Mädchen äußern. Eine solche Flucht ist NIE freiwillig, sie hinterläßt tiefe Gefühle von Verrat an denjenigen, die zurückbleiben (mußten) und weiterhin täglich mit der Gefahr derartiger Gewalt konfrontiert sind, sowie Zustände tiefer Einsamkeit in einer Umgebung und Gesellschaft, die auch nicht ansatzweise erahnen kann, welche Dimensionen die politische Repression im Herkunftsland der betroffenen Frauen haben und wieviel Mut und Selbstlosigkeit es erfordert, hiergegen zu kämpfen.

Exil - bedeutet für die meisten Frauen von ihrem Wunsch her, sich an einen Ort zu begeben, an dem sie sich sammeln können, um zumindest von den äußeren Umständen her ohne die permanente Furcht, erneut derartiger Gewalt ausgesetzt zu werden, die Ruhe zu finden, sich wieder aufzubauen.
Hierzu gehört auch, Bedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, sich als Teil eines gemeinsamen, sich fortsetzenden Kampfes gegen die Verhältnisse zu begreifen, wegen derer sie gezwungen waren, zu fliehen.
Dies kann niemals ein individueller Vorgang sein, in dem es lediglich darum geht, das eigene Seelenheil zu retten. Die Betroffenen wissen dies meist ganz genau - jedoch sind sie im Exilland mit Bedingungen und Verhältnissen konfrontiert, die sie erneut zu passiven, kranken Opfern zu machen versuchen, denen - im besten Fall - geholfen werden muß.
Das betrifft sowohl die institutionalisierte, strukturelle Gewalt, die auf deutschen Gerichten, Behörden und Ämtern vorherrscht, als auch die meist gut gemeinten, im Ansatz aber völlig zum Scheitern verurteilten "Hilfsbemühungen" verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und Einzelpersonen, solange diese nicht in einen Rahmen politischer Bekämpfung der Ursachen eingebettet werden.
Mit dieser Feststellung beabsichtigen wir auf keinen Fall, die ungeheuer wertvolle Arbeit z.B. der Rehabilitationszentren für Folterüberlebende oder anderer, Hilfe anbietender Gruppen zu disqualifizieren. Es ist jedoch dringend notwendig, neue Perspektiven im gemeinsamen politischen Handeln zu entwickeln, die in letzter Zeit viel zu oft vernachlässigt wurden.
Das belegen insbesondere die häufigen Anfragen aus dem Ausland, wie unser Projekt in der Türkei denn wohl am besten unterstützt  werden könne.
Auch wenn wir uns über dieses Interesse sehr freuen, zeigt dies doch auch die weit verbreitete Mentalität des sogenannten - Helferinnensyndroms - welches gekennzeichnet ist von der Konzentrierung auf die Verhältnisse im Ausland und eine Unterstützung meist materieller Art.

Exil - ist Teil des Traumas und je erniedrigender die Bedingungen des Exils, desto tiefer die Retraumatisierung und Passivisierung.
Exil – kann aber auch genutzt werden, um zusammenzukommen und gemeinsam Strategien zu entwickeln; kann die Chance sein, in Gegenseitigkeit voneinander zu lernen, wenn in diesem Bewußtsein die notwendigen Bedingungen hierfür geschaffen werden.
Etliche der betroffenen Frauen leben nämlich im Exil, d.h., ihr seid dort örtlich viel näher beieinander.
Ich möchte ein paar typische Situationen aufzählen, um sodann einige Ansätze zum Aufbrechen dieses Kreises zu benennen.
Alle kennen wohl die verheerende Situation, in die Flüchtlingsfrauen aufgrund der Asylgesetzgebung und Rechtssprechung in der BRD geraten. Trotzdem möchte ich hier noch einmal einige besonders gravierende Umstände kurz erwähnen, die insbesondere zur Fortsetzung der Zerstörung von Flüchtlingsfrauen, die systematische sexuelle Gewalterlebnisse hinter sich haben, beitragen.
Insbesondere diese Situationen erfordern eine sofortige Intervention, ohne darauf zu warten, ob eventuell eines Tages etwas weniger reaktionäre Gesetzesinitiativen Erfolg haben oder nicht. Auf dieser Ebene ist die konkrete Unterstützung unabdingbare Voraussezung, um Ausgangsbedingungen herzustellen, die den Weg zu einer folgenden politischen Zusammenarbeit erst eröffnen. Nur unter dieser Zielsetzung weichen sie allerdings von rein humanitärer Hilfestellung ab.

1. SPRACHE
Insbesondere die kurdischen Frauen haben fast alle schon in der Türkei die demütigende Erfahrung gemacht, was es bedeutet, sich nicht in der eigenen Muttersprache ausdrücken zu dürfen:
" Dann bin ich alleine zur Ausländerpolizei. Du wartest sowieso mit Hunderten in einer Schlange, niemand versteht irgendetwas wirklich. Sie haben mir ein Formular gegeben. Aber ich habe zu verstehen gegeben, daß ich kein Deutsch verstehe, daß meine Muttersprache Kurdisch sei. Die Beamtin schleuderte mir das Formular ins Gesicht und schrie irgendetwas. Das ist derartig erniedrigend, diese Papiere ins Gesicht geworfen zu bekommen.
Ich habe nichts verstanden und sollte unterschreiben. Ich wollte nicht. Da haben sie einfach meine Hand genommen und mit Gewalt den Stift aufs Papier gedrückt. Das war wie bei der Polizei in der Türkei. Die ganze Folter war auf einmal wieder da. Ich bin raus, weil mir  Tränen in die Augen schossen. Aber ich habe mir geschworen: Dort haben sie dich nicht geschafft. Hier läßt Du Dich erst recht nicht fertig machen.
Zufällig habe ich dann einen Kurden getroffen, der dort arbeitet. Endlich jemand, dem Du vertraust. Nur wegen der Sprache schon."
Auch bei der ersten Anhörung ist die Muttersprache von entscheidender Wichtigkeit.
In all diesen Situationen ist es wichtig, daß von Anfang an eine Person (und zwar eine Frau, weil sich häufig erst im nachhinein herausstellt, welche Barrieren gegenüber Mänern bestehen), zu der ein Vertrauensverhältnis besteht, mitgeht, kontrolliert, eingreift und bei demütigender Behandlung sogleich eine Dienstaufsichtsbeschwerde in die Wege leitet, wobei diese Person zugleich Zeugin ist.

2. ANHÖRUNG
Die Anhörung selber birgt unendlich viele Situationen von Retraumatisierung, Demütigung und Passivisierung in sich. Das beginnt damit, daß die Anhörung nie innerhalb eines Vetrauensverhältnisses stattfindet. Fremde begegnen sich. Der Zwang, verbal bis in alle Details die persönliche Verfolgungsgeschichte zu wiederholen und der Druck, der durch das Wissen entsteht, dies vollständig und in sich widerspruchsfrei tun zu müssen, schaftt eine Situation, die der eigentlichen Verhörsituation in nichts nachsteht. Die meisten Frauen erleben die Verhörsituation und die Situation der Folter und Vergewaltigung durch die Reaktivierung des Gedächtnisses erneut durch.
Hinzu kommt, daß bei den Anhörer/innen ein Gedankenmechanismus vorherrscht, nachdem diejenigen Frauen, die am meisten Zeichen physischer und psychischer Zerstörung aufweisen oder nachweisen können, am glaubwürdigsten erscheinen. Das führt dazu, daß sie sich als - krankes - Opfer darstellen müssen nach dem Motto:  Je zerstörter,  desto verfolgter.
Genau gegen diese Zerstörung, die sowieso die Absicht der Folterer ist, kämpfen diese Frauen jedoch. Sich selber so darstellen zu müssen, löst daher berechtigterweise ungeheure Gefühle von Wut und aber auch erneuter Demütigung aus.
Es gibt Erfahrungen mit einem Gemisch von Forderungen und "Fakten schaffen" bei der Vorbereitung der Anhörung, die daher von Beginn an berücksichtigt werden sollten, insbesondere wenn die betroffene Frau sexuelle Folter erlebt hat:
Die persönliche Verfolgungsgeschicht sollte zuvor in einem Gespräch mit einer Vertrauensperson aufgezeichnet und übersetzt worden sein, sämtliche relevanten Belege und Unterlagen desgleichen. Zusammen mit der Antragstellung sollten diese Dokumente zur Grundlage des Antrages gemacht werden verbunden mit den Forderungen, daß Anhörerin wie offizielle Dolmetscherin Frauen sein sollen.
Es hat sich gezeigt, daß nach einer guten Vorbereitung in dieser Hinsicht den Frauen weitere Detailfragen in Bezug auf die erlebte (sexuelle) Folter erspart bleiben können.
Von selbst versteht sich, daß bei der Anhörung eine Vertrauensanwältin und –dolmetscherin zur Kontrolle mit anwesend sind und bei Bedarf eingreifen.
Zugleich hiermit sollte unter Hinweis auf die erlebte sexuelle Folter eine Befreiung von der Heimunterbringung (hierzu später noch) und die Verteilung auf eine Region, wo die betroffene Frau eine Therapie erhält (falls dem so ist) und wo sich unterstützende Vertrauenpersonen aufhalten, beantragt werden.
 
 3. HEIMSITUATION
Die Situation in den sogenannten Asylbewerberheimen in Deutschland, in denen alle Menschen, die politische Verfolgung in ihren Herkunftsländern geltend machen, laut Gesetz "untergebracht" werden, ist derartig erniedrigend und unmenschlich, daß eigentlich alle für diese Zustände Verantwortlichen einschließlich der Gesetzgeber (auch der neuen !!) vor Scham verstummen sollten. Pure Lippenbekenntnisse zur Rettung des eigenen Gewissens entlarven sich nämlich schon am folgenden Tag selbst. Es würde sich lohnen, eine ausführliche Studie zu den Verhältnissen in den "Heimen" anzufertigen und der Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen vorzulegen.
Ich möchte nur einige Punkte erwähnen, die für unser "Thema" von Bedeutung sind.
Uns ist bekannt, daß in etlichen Heimen Frauen und Mädchen nicht getrennt "untergebracht" werden, daß sie, um zur Dusche oder Toilette zu gelangen, durch Männerräume gehen müssen, daß es zu Zwangsprostitution und Vergewaltigungen kommt.
Was eine solche Situation für (durch sexuelle Angriffe traumatisierte) Frauen bedeutet, muß nicht ausgeführt werden. Hinzu kommt, daß die meisten Frauen ein dringendes Bedürfnis nach einem ihnen eigenen Rückzugsraum haben, eine Höhle, wohin sie sich bei Bedarf zurückziehen können. Weiterhin werden alle betroffenen Frauen und Therapeutinnen bestätigen, daß es insbesondere nachts zu extremen Krisen kommt und die Frauen dann einen angstfreien Raum für sich brauchen und vertraute Menschen, die bei ihnen sind. Ein anonymes Zimmer, belegt mit mehreren Unbekannten, in einem Heim, dessen Atmosphäre geprägt ist von (verständlicher) Agressivität und Verzweiflung, ist daher schlicht eine nicht hinzunehmende Zumutung. (Das gilt selbstverständlich allgemein und ich versuche es nur anhand unseres Tätigkeitsfeldes zu konkretisieren.)
Eine "Unterbringung" im Heim sollte daher immer und unter allen Umständen - wenn rechtlich nicht durchsetzbar, dann faktisch - verhindert werden. Hierfür ist allerdings kollektive (und organisierte) Unterstützung nötig.

4. ZUSAMMENARBEIT
Bei den bisher angeführten Möglichkeiten von "Unterstützung" handelt es sich lediglich um die Schaffung von Mindestvoraussetzungen, auf deren Grundlage sich eine gemeinsame Zusammenarbeit überhaupt entwickeln kann. Zusammenarbeit heißt dabei auch wirklich Zusammenarbeit und nicht - was wir leider auch schon gehört haben - wir machen etwas für oder mit den "Opfern". Es ist uns zu Ohren gekommen, daß es Unterstützungsgruppen gibt, die betroffene Frauen in Fortführung der Erniedrigung als "betroffene Opfer" regelrecht vorführen.
Dazu enthalten wir uns jeglichen Kommentars, da überflüssig.
Zusammenarbeit kann heißen, Öffentlichkeit über die Zustände, die zur Flucht zwangen herzustellen, Dokumente zu sammeln, auf die Regierungen des Exillandes einzuwirken etc.

Ich möchte insbesondere zwei Vorschläge machen. Um zu einer politischen Ächtung der Türkischen Republik aufgrund ihrer Praktiken beizutragen, ist es trotz allen Wissens um die  herrschenden Methoden immer wieder wichtig, die Dimension der staatlich verübten Gewalt und Verbrechen aufzuzeigen. Was staatliche sexuelle Angriffe betrifft, ist es daher von nicht unerheblicher Bedeutung, daß Frauen über ihre Erlebnisse berichten.
So könnte in Deutschland ein Netzwerk von RechtsanwältInnen, TherapeutInnen, Rehabilitationszentren und Unterstützungsgruppen hergestellt werden, über das den Frauen, die ins Exil gegangen sind, Mut gemacht wird, im nachhinein ihre Gewalterfahrungen zu benennen und zur Anzeige der staatlichen Täter in der Türkei beizutragen. Wir als Projekt werden für jede Frau, die sich aus dem Exil an uns wendet, im nachhinein Anzeige gegen die Täter hier erstatten und entgeltlos diese Verfahren, wenn nötig bis zur Europäischen Kommission für Menschenrechte, tragen.
Darüberhinaus schlagen wir vor, ein alternatives internationales Kriegsverbrechertribunal ähnlich dem Russell-Tribunal zu Vietnam 1966 vorzubereiten. Vergewaltigung und andere sexuelle Angriffe auf Frauen während bewaffneter Konflikte und Kriege gelten mittlerweile anerkannt als schwere Verstöße gegen die Genfer Konventionen und ihren Zusatzprotokollen und bei systematischer und verbreiteter Methode als Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Ein solches Tribunal müßte entsprechend den anerkannten internationalen Rechtsnormen und -regeln langfristig vorbereitet werden. Wir werden hierzu zukünftig arbeiten.
Diesbezüglich könnte zusammen mit den Frauen im Exil überlegt werden, ob sie das Interesse, die Stärke und den Willen haben, auf einem solchen Tribunal als Zeuginnen auszusagen.
Ab jetzt könnte z.B. damit begonnen werden, Kontakte herzustellen - insbesondere zu Frauen im Exil, die vielleicht bis heute allein geblieben sind und noch nie ihr Schweigen gebrochen haben.
Diese zu erreichen ist eine große Aufgabe, aber nur gemeinsam und wenn wir immer mehr werden, können wir die Täter - und ihre Unterstützer in Form der schweigenden "Exilstaaten" -
eines Tages ans Licht der Öffentlichkeit zerren und von ihnen Rechenschaft fordern.
 

Ra’in Jutta Hermanns,
für das Projekt: Rechtliche Hilfe für Frauen, die durch staatliche Sicherheitskräfte vergewaltigt oder auf andere Weise sexuell gefoltert wurden, Istanbul
(Redebeitrag auf der Konferenz: Frauen zwischen Utopie und Realität, Hamburg, 20./21.Juni 1998)